Lac des Toules VS (© M. Volken)

Solar-Offensive: Wie kann sie klimagerecht umgesetzt werden?

Mit der Solar-Offensive wird dem Klimakollaps entgegengewirkt. Die Geschichte lehrt uns jedoch, dass die alpine Bevölkerung als gleichberechtigter Teilhaber in die Energiewende miteinzubeziehen ist. Ein Plädoyer, die Alpen nicht nur als ‘Batterie’ Europas zu betrachten.

Die Solar-Offensive als Chance für den Landschaftsschutz

Die sich dieses Jahr wiederholenden Wetterextreme und Umweltkatastrophen sind unmissverständlich: Die Zeit für eine nachhaltige Energiewende läuft uns davon. Die Warnsignale hat nicht nur der Ständerat erkannt, als er am 15. September 2022 die Solar-Offensive verabschiedete. Auch der Nationalrat stimmte dem Massnahmepaket zu. Dadurch sind Photovoltaik-Anlagen auf Neubauten ab einer bestimmten Grösse obligatorisch. Gleichzeitig werden Landschafts- und Umweltschutzhürden für Solarpanels auf alpinen Brachflächen massiv abgebaut.


Angesichts des sich in den kommenden Jahren zuspitzenden Klimakollapses und bevorstehenden Stromlücken ist die Annahme der Solar-Offensive wohl alternativlos: Wir benötigen so rasch wie möglich neue Energieressourcen und die dafür notwendigen Infrastrukturen. Mit Kohle, Erdöl und Erdgas haben Industriestaaten im vergangenen Jahrhundert die aktuelle Umweltkrise überhaupt erst verursacht. Die radioaktiven Abfälle der Kernkraft möchte niemand bei sich im Untergrund lagern und die Förderkapazitäten der alpinen Wasserkraft sind schon seit den Siebzigerjahren überwiegend ausgeschöpft. Die Photovoltaik ist – zusammen mit der Windkraft – die aktuell leistungsstärkste Technologie, mit deren Ausbau sich die überfällige Energiewende effizient angehen lässt. Dass hierzu bereits bestehende Nutzflächen wie etwa Gebäudefassaden oder Industrie- und Verkehrszonen mit Solarzellen auszustatten sind, stösst kaum auf ernsthaften Widerstand.

Der Haupteinwand des Landschaftsschutzes in der Schweiz lautet hingegen, dass Solar- und Windkraftwerke die letzten angeblich «wilden» Naturräume der Alpen verbauen, womit Landschaften nationalen Wertes unwiderruflich verloren gehen würden. Ein altes Argument, das Heimat- und Naturschutzverbände gewiss nicht immer zu Unrecht gegen den Bau alpiner Stauseen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren ins Feld führten, angesichts der globalen Erderwärmung ökosystemisch aber zu wenig weit greift. Ändert sich das weltweite Kima, so ändert sich auch die Biosphäre der Alpen, womit patriotisch aufgeladene Naturräume ebenso kollabieren werden. Sterbende Gletscher legen dazu ein erstes drastisches Zeugnis ab. Solarpanels und Windräder leisten einen wesentlichen Beitrag, der mitunter ebenjene Bergtäler und Gipfelzüge schützt, in die sie unmittelbar ästhetisch eingreifen.

Die sozialen Fallstricke einer technologiezentrierten Energiewirtschaft

Dennoch ist bei der Umsetzung der Solar-Offensive ein Umdenken gefordert, von dem die Planung neuer alpiner Anlagen ausgehen sollte. Anstatt des Versuchs einer nur oberflächigen Konservierung schweizerischer Naturdenkmäler sind indes gesellschaftliche und energiewirtschaftliche Bedenken angebracht. Weder der reibungslose Aufbau noch der anschliessende Betrieb grosstechnischer Systeme sind allein von einer isolierten Technologie abhängig, sondern auch von ihrem sozialen Anwendungsfeld, das von Akzeptanz und Nachfrage bestimmt wird. Eine nachhaltige Energiewende muss daher genauso CO2-neutral sein wie auch sozialverträglich und demokratisch legitimiert, wofür die dem Stromnetz immanenten Machtstrukturen zwischen Produzenten, Zulieferern und Abnehmern auszugleichen sind.


Die Geschichte der Hydroelektrizität in der Schweiz des 20. Jahrhunderts macht hierzu deutlich, dass eine von den Wirtschaftsmetropolen forcierte Ressourcenförderung in Randregionen gesellschaftliche Verluste verursacht und unter bestimmten Umständen Widerstand hervorruft. Sowohl öffentliche Stromanbieter als auch (halb)private Energiekonzerne besorgten sich mit infrastrukturellen Entwicklungsversprechen und finanziellen Zusagen vielerorts Konzessionen für leistungsstarke Stauseen. Je nach kantonalem Wassergesetz kam den betroffenen Gemeinden dabei entweder kein Mitspracherecht zu oder Einzelverhandlungen mit Landeigentümern machten kommunale Entscheidungsfindungsprozesse im Vorhinein obsolet. Der Ausbau der schweizerischen Wasserkraft entzog unzähligen Bergdörfern und Talschaften die Existenzgrundlage, wenn beispielsweise Speicherseen Siedlungs- und Agrarland fluteten oder deren Zuläufe Bäche, Brunnen und Bewässerungssysteme austrockneten. Umsiedlungen und Vertreibungen liessen sich nur dort verhindern, wo der interne Zusammenhalt eines einzelnen Dorfs zumindest kantonal den Rücken gestärkt bekam. Bergkantone wie das Wallis oder Graubünden profitierten von der «Weissen Kohle» volkswirtschaftlich aber dermassen, dass sich deren Vertreter kaum je für den Erhalt einer strukturschwachen und verschuldeten Gemeinde einsetzten. Die lokalen Interessen alpiner Lebensgemeinschaften standen beim Ausbau des alpinen Wasserschlosses nie an erster Stelle.

Eine klimagerechte Energiepolitik für die Alpen

Eine klimagerechte Umsetzung der Solar-Offensive würde bedeuten, dass die an den Standorten neuer Windkraft- und Solaranlagen lebende Bergbevölkerung beim Ausbau des Stromsystems nicht erneut das Nachsehen hat, sondern als gleichberechtigter Teilhaber bei einer nachhaltigen Energiewende von Anfang an miteinbezogen wird. Idealerweise profitieren dann nicht nur jene zahlungskräftigen Regionen vom grünen Strom, die ohnehin bereits am meisten davon für sich beanspruchen, sondern ebenso die alpinen Produktionsstätten. Eine partizipative Energieförderung benötigt neben kommunaldemokratischen Entscheidungsinstanzen allerdings ein dezentral organisiertes Verteilsystem, das – anstatt nur gewinnorientiert marktwirtschaftlichen Anreizen zu folgen – die lokalen Interessen und Nachfragen von Randregionen gleichermassen berücksichtigt.


Für die neuen Kraftwerken und Infrastrukturen benötigen wir daher auch ein Denken, dass die Alpen nicht einfach als Batterie Europas zu erschliessen sind. Stattdessen sollten deren Bewohnerinnen und Bewohner als gleichberechtigte Teilhaber einen Platz am Verhandlungstisch erhalten. Fest steht: Um dem Klimakollaps heute entgegenzuwirken, benötigen wir die Solar-Offensive. Die Frage des Momentums lautet jedoch, innerhalb von welchem energiewirtschaftlichen und sozialpolitischen System wir sie umsetzen wollen.

Um nicht die im 20. Jahrhundert namentlich von der Wasserkraft ausgegangenen sozialen Ungleichheiten eines kapitalistischen Energiemarktes mit neuen Technologien zu reproduzieren, sind klima- und sozialgerechte Förderstrategien gefragt.


Mit dem Ansatz der Environmental Justice wurden bisher vor allem für (post)koloniale Räume untersucht, innerhalb Europas und speziell für die Alpen fand das Konzept hingegen noch relativ selten Anwendung, obwohl dieser Ansatz auch hier von Nutzen ist.

Die historische Entwicklung der Alpen als der Energiespeicher Europas zeigt, dass Fragen nach einer klima- und sozialgerechten Einbindung der Einzugsgebiete hier genauso angebracht sind. Politische Entscheidungsträgerinnen und -trägern sollten sie deshalb auch in aktuellen Entwicklungsstrategien von Anfang an miteinbeziehen.

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