
Le «monstre du Valais», Grimentz VS (© M. Volken)
Wölfe hinterliessen Spuren
Wölfe bewegen zurzeit die Gemüter im Alpenraum wie kein anderes Wesen. Historische Recherchen und eine neue Forschungsrichtung weisen darauf hin, dass weit mehr dahinterstecken könnte als nur die Sorge um die Nutztiere auf der Alp.
Unterwegs in den Hügeln des Baselbieter Juras. Ich erinnere mich: Mit meinen Eltern und der jüngeren Schwester ging es in den 1960er-Jahren jedes Wochenende auf eine Wandertour. Und bei jedem Bauernweiler kam uns ein bellender Hofhund entgegen. Der Vater versuchte ihn abzulenken, die Mutter und wir zwei kleine Kinder mogelten uns vorbei. Seither weiss ich nur zu gut, was es heisst, Angst vor Hunden zu haben. Eine Angst, die mich auch später weit ins Erwachsenenleben begleitete.
Deshalb verstehe ich heute auch gut, wenn ein wesentlicher Teil der Bergbevölkerung nicht gut auf Wölfe zu sprechen ist. Einerseits wegen der Wölfe selbst und andererseits wegen der grossen Schutzhunde, die die Nutztiere vor den Wölfen schützen sollten. Für Viele sind diese Hunde, die man in der Schweiz nie brauchte, nicht viel besser als die Wölfe selbst, wenn sie Tourist:innen anbellen und ihnen Angst machen und manchmal sogar zubeissen. Für die Tierhalter:innen bedeutet der notwendige Herdenschutz gegen Wölfe enormen Mehraufwand, den sie bei ihrer grossen Arbeitslast und ihrem Personalmangel kaum schaffen. Dass Wölfe nun nicht nur Schafe, sondern in den letzten Jahren vereinzelt auch Rindvieh und Esel angriffen, ist ein weiterer, entscheidender Faktor, Wölfe abzulehnen. Und die rasante Vermehrung dieser eingewanderten Fleischfresser schafft existenzielle Ängste: Wird man überhaupt noch Tiere auf den Alpweiden halten können?
Warum macht der Wolf den Unterschied?
Die Ängste einer Tierart gegenüber, die man kaum kennt, von der man aber aus alten Zeiten nur Übles hört, sind nachvollziehbar. Doch etwas lässt aufhorchen: Ob ein Schaf oder ein Rind auf der Alp ums Leben kommt, wird bei einem Wolfsriss anders bewertet als eine «normale» Todesursache, wie man sie bisher kannte. Nach einer Studie von Cornel Werder im Rahmen des Projekts «Alpfutur» (2012) verenden und verunfallen in der Schweiz jeden Sommer bei rund 200'000 gealpten Schafen rund 2 Prozent, also über 4'000 Tiere. Davon entfallen heute zwischen 10 und 20 Prozent auf Wolfsrisse. Weitaus mehr Schafe und Ziegen sterben durch andere Ursachen, die weithin als «normal» gelten. Ein ähnliches Bild beim Rindvieh: Dort übersteigen die «normalen» Abgänge auf der Alp schweizweit regelmässig 1'500 Tiere. Das schafft keine Aufregung. Wolfsrisse erzeugen hingegen grosse Emotionen.
Was steckt dahinter, wenn ein Wolf Nutztiere tötet? Inwiefern ist es etwas «anderes» und was führt dazu, dass jeder Wolf, der einem Menschen begegnet, angeblich Gefahr für Leib und Leben verkörpert? Für die Beurteilung der letzten Frage gibt es keinerlei Evidenz: Obwohl es bei Hunderten von freilebenden Wölfen zu Tausenden von Begegnungen mit Menschen kam, ist in ganz Mitteleuropa in den letzten 50 Jahren kein einziger Fall eines ernsthaften Angriffs von Wölfen auf Menschen belegt. Es gab vereinzelte Fälle in Nord- und Südeuropa, die jedoch immer durch besondere Umstände wie Tollwut oder verletzte, alte oder angefütterte Wölfe erklärbar sind.
Werwolf und Tollwut
Das schlechte Image der Wölfe und irrationale Vorstellungen über diese Tiere haben historische Wurzeln. Die Mythen von Werwölfen – von Menschen, die sich in Wölfe verwandeln – sind bis in die Antike zurückzuverfolgen und erreichten in der Frühen Neuzeit, parallel zur Hexenverfolgung, einen Höhepunkt. Bis ins 20. Jahrhundert gab es auch immer wieder traumatische Ereignisse: Tollwütige Wölfe brachen in Siedlungen ein und bissen Dutzende Menschen, die mangels Behandlungsmöglichkeit dann alle qualvoll starben. In Wolfsgebieten war dies nichts Ungewöhnliches und trat im 16. Jahrhundert sogar epidemisch auf. Kein Wunder, verbreiteten sich solche Ereignismeldungen als Horrorgeschichten über alle Landesgrenzen bis zu uns.
Dazu kommt: Im Gebiet der Urkantone gab es schon im Mittelalter kaum Wölfe. Der Chronist Johannes Stumpf schrieb in seinem grossen Buch über die alte Eidgenossenschaft im Jahr 1548: «Diese Wölfe findet man in keinem Land Europas minder [weniger] als im Alpgebirge von Helvetien / sodann einer aus Lamparte [der Lombardei] heraus / oder aus anderen Deutschen anstossenden Landen herein kommend / sind es seltene Gäste / und werden vom Landvolk grimmig verfolgt / gleich als abgesagte und schädliche Feinde des nutzbaren Viehs. Wieland man eines Wolfs gewahr wird / läutet man Sturm über ihn / als denn empört sich eine ganze Landschaft zur Jagd auf ihn / bis er umgebracht oder vertrieben wurde.»

Waffen statt Herdenschutzhunde
Die Schweizer Bergbevölkerung war bis über das Mittelalter hinaus im Kampf gegen Wölfe und Bären privilegiert, weil sie politisch unabhängig war und Waffen tragen durfte. In den umliegenden Ländern, die vom Adel beherrscht wurden, hatten die Bauern keine Waffen, weil die Herren Aufstände befürchteten. So wehrte man sich im übrigen Europa gegen Schäden durch die Wölfe mit einer hoch entwickelten Hirtentradition und mit Herdenschutzhunden. Weil die Eidgenossen die Wölfe mit Waffen bekämpfen konnten, brauchte man in der Schweiz diese Herdenschutzhunde nicht – sie blieben unbekannt. Hunde, die damals mehr noch als die Wölfe in die Übertragung der Tollwut involviert waren, waren vielerorts im Berggebiet nur selten vorhanden. Und so tauchen auch in den Sagen des Wallis oder Graubündens Hunde nur sporadisch in der Rolle eines Bösewichts oder des Unheils und als unheimliche, gefürchtete Protagonisten auf, oft als «grosse schwarze Tiere mit glühenden Augen» (Andreas Weissen 2022; Ursula Hunold-Bigler 2010).
Aus der Sicht der heutigen Naturwissenschaft, die in systemischen Zusammenhängen denkt, spielen Wölfe in natürlichen Lebensräumen aber eine wichtige Rolle. Durch eine effiziente arteigene Geburtenkontrolle vermehren sie sich nur noch begrenzt weiter, wenn sie einmal ein Gebiet besiedelt haben. Wo Wölfe etabliert sind und nur bedacht bejagt werden, sind ihre Bestände langfristig und natürlich stabil. Die Bergbevölkerung früherer Zeiten hatte ihre berechtigten Gründe, Wölfe zu bekämpfen und auszurotten. Ein anderes Zusammenleben wäre heute vorstellbar: Wölfe dringen in den Alpenländern nicht mehr tollwütig in Siedlungen ein. Und wenn sie nicht angefüttert werden, meiden sie die Menschen – die Umstände, unter denen es früher zu Wolfsangriffen kam, haben sich bei uns heute total verändert (Linnell et al. 2002 und 2021). Aber die unheimlichen Geschichten und Mythen bringen die Emotionen weiterhin in Wallung und halten sich.
Das, was man heute über die Biologie und das Verhalten von Wölfen wissenschaftlich weiss, spielt in der aktuellen Diskussion um Wölfe in der Schweiz noch eine untergeordnete Rolle. Die negative kulturelle Erinnerung an sie scheint noch wirkmächtiger zu sein. Die allgegenwärtige Macht der Natur vor der Haustür hat nichts von ihrer Imposanz verloren und die alte Weisheit der alpinen Kulturen, die Natur so weit wie möglich zu kontrollieren, wo immer sie gefährlich werden kann, sitzt in Fleisch und Blut. Und das nicht nur im übertragenen Sinn: Wölfe haben höchstwahrscheinlich bei früheren Generationen von uns Menschen ihre Spuren hinterlassen.

Die unheimliche Vererbung
Seit rund fünf Jahrzehnten ist die Biologie einem Phänomen auf der Spur, von dem wir wohl fast alle betroffen sind. Immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass nicht allein die klassische Genetik die Eigenschaften von Lebewesen von Generation zu Generation weitervererben, sondern auch bisher unbekannte Mechanismen: Die sogenannte Epigenetik bildet Erfahrungen und Erlebnisse eines Individuums ab – die einen besonderen Eindruck hinterlassen. Dies ist vor allem bei Stressfaktoren gut untersucht. Durch diese Erfahrungen entstehen chemische Moleküle, die sich ans klassische Erbgut anheften und mit diesem auf die nächsten Generationen übertragen werden. So wurde etwa festgestellt, dass Menschen, die durch Katastrophen oder Kriegsereignisse Hunger litten, nach diesen Erlebnissen überdurchschnittlich häufig fettleibige Nachkommen hatten. Menschen, die traumatischen Ereignissen mit Todesangst ausgesetzt waren, zeugten danach überdurchschnittlich ängstliche Nachkommen. Einige dieser neuen Mechanismen sind inzwischen zwar geklärt; doch vieles liegt noch im Dunkeln. Schon heute zeichnet sich jedoch ab, dass neben der klassischen Genetik und den erlernten Erfahrungen eine Kraft am Werk ist, die generationenübergreifend unser Verhalten, unsere Physiologie und unser Leben beeinflusst. Sind es nur die Überlieferungen der grässlichen Geschichten aus der Vergangenheit, dass uns die Angst vor «dem Wolf» so tief in den Knochen sitzt? Oder haben frühere Erfahrungen und Geschichten mit Wölfen bei vielen Menschen auch ihre epigenetischen Spuren hinterlassen?
Verschiedene Experimente wiesen darauf hin, dass epigenetische Eindrücke nicht irreversibel sein müssen. In der Psychologie zeigte sich, dass sich Phobien – etwa Ängste vor Schlangen, Spinnen oder eben vor Hunden – durch langsame Angewöhnung langsam abbauen und mitunter sogar gelöscht werden. Das erlebte ich an mir selbst: Seit ich seit etwa 25 Jahren regelmässig mit Hunden zusammen bin und intensiv Kontakt habe, hat sich die alte Angst aus der Jugendzeit gelegt.
Ob Wölfe dereinst als normaler Teil der Fauna angenommen werden, in der sie ihre wichtige Funktion in der Natur erfüllen können? Mit Wölfen zu leben, ist für die Bergbevölkerungen in den italienischen Abruzzen, in den rumänischen Karpaten oder in Spanien, in den kantabrischen Kordilleren, Normalität. Vielleicht werden wir es auch in der Schweiz lernen.
