Witerschwanden–Acherberg UR (© M. Volken)

Holzboden–Rüti UR (© M. Volken)

Spiringen–Chipfen UR (© M. Volken)

Ribi–Wannelen UR (© M. Volken)

Witerschwanden–Eggenbergli UR (© M. Volken)

Vielsaitige Instrumente: Schächentaler Seilbahnen als klangliche Akteure und Resonanzkörper

Die «Niederberger-Schiffli» und Wildheuseile schwingen im Takt des Wetters und der Jahreszeiten. Ihrem Zusammenspiel kann man zuhören und daraus zum Beispiel Technomusik produzieren.

«Benutzung bei starkem Wind untersagt», heisst es an der Talstation. Aber was ist starker Wind? Wo ist der Windmesser? Ich telefoniere mit dem Seilwart: Ja, die Bahn fährt, aber nur langsam. Später erfahre ich: Ein Windmesser sei vorhanden, aber eigentlich überflüssig. Man höre es, wenn es nicht mehr gehe.

Schwingen im Wind

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Windstösse bewegen die hängenden Seilstützen der Materialseilbahn Spiringen/Holzboden–Oberschwand, aufgezeichnet von Michel Roth (28. Oktober 2020; Kontaktmikrofon, pitch- and tempo-shifted um Faktor 2).

Das erlebe ich während meiner Streifzüge mit Mikrofon und Aufnahmegerät durchs Urner Schächental oft. Die Menschen orientieren sich mit den Ohren, horchen in alle Richtungen – vor allem nach oben, denn das Tal ist felssturzgefährdet. Eine Bergbäuerin erzählt mir, dass sie auf den Weiden täglich neu faustgrosse Steine findet und ins Tobel wirft. Plötzlich zeigt sie in den Schutzwald – nur das Bellen eines Rehs.

Klangprüfung bei Föhn

Tatsächlich gehört die «Klangprüfung» zum Repertoire vieler Seilbahntechniker:innen. Ein Mitarbeiter der Ürner Seilbüdä in Erstfeld bestätigt mir: Jede Seilbahn sei ein Unikat mit eigenem Klang. Weiche dieser ab, stimme etwas nicht; aber manchmal sei es nur der Föhn.

Singender Metallkoloss

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«Klangprüfung» (interaktive Sonifikation) an einer Materialseilbahn oberhalb von Brügg. Durchgeführt mit Pferdehaaren und Gummibällen und aufgezeichnet von Michel Roth (11. August 2021; Kontaktmikrofon, unprocessed).

Genau an diesem Klang bin ich interessiert. Wie bei einem Orchester kommt er durch das Zusammenspiel vieler Elemente zustande. Der Klang umfasst sowohl das System der Seilbahntechnik als auch dessen raue Umwelt und dokumentiert im zeitlichen Verlauf deren Veränderungen. Im Rahmen des SNF-Forschungsprojekts «Alpine Netze der Verbundenheit, Urner Seilbahnen als Aktanten und Aktionsräume» untersuchte ich diese Infrastruktur und ihre Nutzung mit akustischen Methoden und als partizipativer Beobachter.

Vom Klavierdraht zur Drahtseilgenossenschaft

Abwegig ist dieser Ansatz nicht, Seilbahnen als Klangkörper zu betrachten. Denn im 19. Jahrhundert bildete der Klaviersaitenbau die Voraussetzung für die technologische Fertigung und Nutzung von Drähten und Seilen. Bis heute ist Piano Wire Quality ein Industriestandard bei Seilbahnen und verbindet Festigkeit mit Biegsamkeit. Blicken wir in Brügg am Eingang des Schächentals nach oben, so breitet sich vor unseren Augen ein riesiges Saiteninstrument aus: Von den Personenseilbahnen gehen an den Verkehrsknotenpunkten Eierschwand, Ebnet, Ruogig, Riedlig und Biel sternförmig zahlreiche Materialseilbahnen ab, die wiederum zu Höfen führen, deren Wildheuseile noch weiter ins unwegsame Gelände ausgreifen.

Töne eines Wildheuseils

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Betriebsgeräusch eines Wildheuseils bei Schwand, aufgezeichnet von der dort lebenden Familie  (30. Oktober 2021; Tonspur aus zwei Handyvideos).

In der vorherrschenden Mehrstufenwirtschaft unterliegt das harmonische Zusammenspiel dieser Drähte dem Rhythmus der Jahreszeiten und garantiert bei fast jedem Wetter die sichere Erschliessung der Heimet, d.h. der einzelnen Höfe, und damit die Verbindung der Menschen. Diese betreiben ihre Seilbahnen gemeinsam in Form von Drahtseilgenossenschaften, was die Streckenführung in eigenwilliger Art taktet: Die kurze Bahn aufs Eggenbergli weist vier Zwischenstationen mit Stützenausstiegen auf – schliesslich wollen alle Teilhaber:innen schnell zu Hause sein.

Vielstimmige Talstationen

So werden Seilbahnen zu Akteuren, die das Zusammenleben am Berg strukturieren. Talstationen fungieren als kollektive Garderoben, Transit-Orte, wo das Töffli eingestellt wird und man die schönen Schuhe mit den Gummistiefeln tauscht. Gleichzeitig sind sie wertvolle Begegnungsorte. Auf der markanten Geländestufe, wo heute die Mittelstation Riedlig steht, haben sich schon vor dem Bau der Seilbahn die Menschen verabredet. Solche Orte erweisen sich auch als Archive: Es ist Aussenstehenden oft schwer ersichtlich, welcher Anschlag nun gilt, da das neue Betriebsreglement einfach neben das alte gehängt wird. Und an den Holzwänden dieser meist einfachen Schuppen notieren «Petzi-Gofä», wer gerade mit wem was hat.


Auch im Tal kommt man schnell ins Gespräch. Es gilt, in einem der Privathäuser («bitte eintreten») einen Jeton zu organisieren oder mit einem altertümlichen Telefon die Fahrt anzumelden. Und wieder der Klang: Eine Frau macht mich darauf aufmerksam, dass die Bahn aufs Eggenbergli nur kurz klingle und dann losfahre, während die Bahn von Spiringen nach Chipfen einen «Heidenlärm» veranstalte, bis sie sich endlich bewegt. Die wenigen Bahnen, die noch nicht gummierte Räder haben, kündigen ihr Kommen durch ein schwirrendes Geräusch an.

Akustische Fahrtdokumentation

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Akustische Fahrtdokumentation der Personenseilbahn Chipfen–Spiringen (Talfahrt), aufgezeichnet von Michel Roth (02. Mai 2022; binaurales In-Ear-Mikrofon, unprocessed).

Improvisieren an der Materialbahn

Die ortstypischen Niederberger-Schiffli sind mit ihren zwei Laufwerken und halboffenen Kabinen der Inbegriff einer systemisch seit Jahrzehnten kaum veränderten Technologie, deren Erfolg auf der flexiblen Nutzung und modularen Anpassungsfähigkeit beruht. Alte Bilder zeigen, dass man statt der Gondel auch mal eine Kuh angehängt hat.


Grund genug, im Rahmen der klanglichen Erforschung die Seilbahnen einem musikalischen Belastungstest zu unterziehen. So ging ich mit meinen Musikstudierenden ins Feld. Wir versetzten in Form einer interaktiven Sonifikation diese Systeme in Schwingung und bespielten sie kollektiv mit unseren Instrumenten. Unvergesslich bleibt für mich die Aktion eines Kontrabassisten und seiner klettertüchtigen Kollegin: Mit seinem Bogen stieg sie in ein Schiffli, während er sie sicherte, und strich die kilometerlange Saite einer Materialseilbahn an. Das Resultat ist erstaunlich. Es klingt wie ein Nebelhorn, dessen langes Echo aus dem ganzen Schächental zurückgeworfen scheint. Doch es handelt sich nur um die mit Kontaktmikrofonen hörbar gemachte Resonanz dieses einen Seils – ein Ausloten des Innenraums des Metallkörpers, wovon niemand draussen im Tal etwas vernimmt.

Die Seilbahn als Instrument

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Improvisation von Musikstudierenden an der Materialseilbahn auf dem Eggenbergli, aufgezeichnet von Michel Roth  (26. Juni 2021; Kontaktmikrofone, unprocessed).

Flugwarnkugeln und Obertöne

Das stimmt nicht ganz: Ein Jäger aus Unterschächen erzählt mir, dass er manchmal nachts nicht schlafen könne, so heftig schaukeln sich die Eigenschwingungen des Seils hoch. Immer wieder wird mir von einem spontanen «Singen» berichtet, vor allem wenn die Bahn nicht fährt und ein Wetterwechsel ansteht. Ausgedehnte akustische Messungen an verschiedenen Materialseilbahnen entlang der Klausenpassstrasse verdeutlichen, wie diese verspannten Drahtseile hochsensibel auf Wind und Temperatur, Erdbewegungen, Vögel und schaukelnde Flugwarnkugeln reagieren – aber auch auf Motorräder und Heubläser.


Das Anekdotische erfährt in diesen tonnenschweren Resonanzsaiten eine Mittelung und wird Teil von sich über Stunden und Tage hinziehenden Klangveränderungen. Zwischen Berg und Tal per-sonifizieren sich unterschiedlichste Wellenformen und Knotenpunkte als groovige Tanzrhythmen oder Obertongesänge. Die Technomusikszene hat bereits ihr Interesse signalisiert. Darüber hinaus sind weiterführende anwendungsbezogene Nutzungen denkbar: so die Aufzeichnung grosser klimatischer und sozioökonomischer Veränderungsprozesse und ihrer Einflüsse auf die akustische Ökologie.

Klangvoller Wetterumsturz

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Charakteristischer Klangverlauf des Seils der Materialseilbahn Unterschächen/Stutz–Obsaum; bei ruhender Bahn, jedoch umschlagendem Wetter (aufgezeichnet von Michel Roth, 06. November 2020; Kontaktmikrofon, unprocessed).

Der globale Wandel gefährdet nicht nur die Alpen, sondern auch ihre lokalen Möglichkeiten seiner Dokumentation. Es bleibt zu hoffen, dass trotz intensiviertem Strassenbau und trotz verlassener Höfe die stets wandelbaren Nutzungen von Seilbahnen mitbedacht werden – damit diese vielsaitigen Instrumente weiterklingen und die geschulten Schächentaler Ohren ihnen weiterhin zuhören.

Das dichte Netz an Seilbahnen und Wildheuseilen im Urner Schächental kann als Musikinstrument betrachtet werden, dessen Zusammenklingen und temporale Performanz systemische Erkenntnisse des Lebens und Zusammenlebens in den Bergen vermitteln.


Die im Zuge des Forschungsprojekts «Alpine Netze der Verbundenheit» (2020/21) aufgezeichneten Klänge weisen überdies eine ästhetische Relevanz auf, sind lokal identitätsstiftend und sensibilisieren die akusmatische Wachsamkeit gegenüber der Umwelt.

Aufzeichnungen der spontanen Seilschwingungen erlauben Anwendungen im Bereich der Klangkunst (u.a. Techno, Sound Art) und der Wissenschaft (u.a. Sozioökonomie, Klimatologie).


Mit Ziel einer Dissemination dieser Klänge und ihres Langzeit-Monitorings ist 2021/22 ein Nachfolgeprojekt entstanden (gefördert von der Pro Helvetia), wo mittels einer kleinen Messstation das «Singen» der Seile live ins Internet gestreamt werden kann: www.seilsender.ch.

Forschungsblog und kommentierte Klangbibliothek: https://fhnw.ch/plattformen/seilbahn/ [31.03.2022]

Zur technologischen Entwicklung der Piano Wire Quality: Freebourn, Norbert E. (1990): «A Brief History of Wire Rope». In: Wire Rope News & Sling Technology (Dezember), 22–32.

Datenbank des ehemaligen Instituts für Seilbahntechnik der ETH Zürich (Prof. Gábor Oplatka): https://www.seilbahnen.org/de/Service/Datenbanken/ [31.03.2022].

Dokumentation der Seilbahn Witerschwanden–Eggenbergli: https://www.seilbahninventar.ch/objekt.php?objid=41177&lang=de [31.03.2022].

Zur Methodologie des Forschungsprojekts: Hunt, Andy / Hermann, Thomas (2011): «Interactive Sonification». In: Thomas Hermann, Andy Hunt, John G. Neuhoff (Hrsg.): The Sonification Handbook, Berlin, 273–298.

Rezeption der entdeckten Klänge durch die Techno-Szene: https://www.fazemag.de/schweizer-forschungsprojekt-der-techno-klang-der-seilbahnen/ [31.03.2022].