Göschenen UR (© M. Volken)

Seelisberg UR (© M. Volken)

Altdorf UR (© M. Volken)

Bürglen UR (© M. Volken)

Silenen UR (© M. Volken)

Amsteg UR (© M. Volken)

«Gutes Altern im Urner Berggebiet»: Von Herausforderungen und Bedürfnissen älterer Menschen – INTERVIEW MIT...

Das Altern in Berggebieten hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert – auch im Kanton Uri. Das Projekt «Gutes Altern im Urner Berggebiet» untersucht mittels Oral-History-Interviews die Geschichte sowie die Bedürfnisse älterer Menschen in den vier Dörfern Amsteg, Bristen, Silenen und Isenthal. Und zeigt auf: Die Pflege der Gemeinschaft ist heute besonders wichtig. 

Ein Gespräch mit Eveline Lüönd, Projektleiterin «Gesund ins Alter» Kanton Uri, und Rahel Wunderli, Historikerin am Urner Institut Kulturen der Alpen.

(Aline Stadler): Eveline Lüönd, Sie leiten das Projekt «Gutes Altern im Urner Berggebiet». Was wird unter gesundem Altern eigentlich verstanden?

 

(Eveline Lüönd): Die Gesundheit ist ein wichtiger Faktor für das «Gute Altern». Wir verwenden einen ganzheitlichen Begriff von Gesundheit, der die körperliche, geistige, soziale und seelische Dimension einschliesst und nicht allein das Freisein von Krankheit und Gebrechen meint. Ausgehend hiervon haben wir festgestellt, dass die soziale Teilhabe, die zwischenmenschlichen und intergenerationellen Begegnungen, für alle Befragten zentral sind. Für das Wohlbefinden im Alter, das «gute Altern», ist es wichtig, sich als Teil der Dorfgemeinschaft zu erleben. Ältere Menschen möchten weiterhin «gebraucht» werden, mitwirken, gestalten, dazugehören und ihre persönlichen Geschichten und Dorfgeschichten weitergeben, jedoch ohne die Hauptverantwortung am Erhalt und der Pflege der Dorfgemeinschaft nach wie vor tragen zu müssen. 

 

(AS): Wie gut wird eine solche soziale Teilhabe in den untersuchten Dörfern aktuell ermöglicht, Rahel Wunderli?

 

(Rahel Wunderli): Es gibt diverse Initiativen in den untersuchten Dörfern, Treffpunkte für ältere Menschen oder Begegnungsmöglichkeiten für verschiedene Generationen zu schaffen: Altersturnen, Yogakurse, Vorträge, Mittagessen mit anschliessenden Spielnachmittagen etc. Und dann sind da natürlich die zahlreichen Vereine, die eine unglaublich wichtige Funktion haben als Plattformen, wo mehrere Generationen zusammenkommen. Wir waren alle beeindruckt von der Vereinsdichte, besonders in den abgelegenen Dörfern.

(AS): Gleichzeitig gehen Einkaufsmöglichkeiten, Restaurants und weitere Dienstleistungen in Berggebieten tendenziell stark zurück. Welche Auswirkungen hat dies auf ein gutes Altern in den befragten Gemeinden?

 

(EL): Viele der verloren gegangenen Dienstleistungen können kompensiert werden. Wo dies nicht (mehr) allein möglich ist, hilft die Familie, die meist in der Nähe wohnt, die Nachbarschaft, Online-Dienstleistungen oder Institutionen wie die Spitex oder der Fahrdienst des Roten Kreuzes. Nicht zu kompensieren hingegen sind die Begegnungen und auch die Bewegung, die man zum und am Bankschalter, im Restaurant oder auch bei verschiedenen kirchlichen Festen und Prozessionen früher hatte und, die heute seltener geworden sind. Räume für spontane Begegnungen verschwinden mehr und mehr. Und mit ihnen die Gründe, um das Haus zu verlassen, in Kontakt zu kommen und sich zu bewegen. Es braucht in der Regel einen Effort, um Leute zu treffen. Wir haben jedoch auch herausgefunden, dass im Verlauf der letzten Jahrzehnte neue Treffpunkte entstanden sind wie beispielsweise beim Anstehen an der Seilbahnstation, dem Skilift oder im Postauto.

 

(RW): Ich bin skeptisch gegenüber dem Bild, dass früher spontane Begegnungen viel häufiger gewesen seien. Aus den Erzählungen der befragten Personen haben wir erfahren, dass der Alltag in den meisten dieser Dörfer zumindest bis in die 1970er-Jahre quasi durchorganisiert war: Die Arbeit dominierte. Es gab wenig Gelegenheiten für einen «Schwatz zwischendurch», weil der überwiegende Teil der Bevölkerung entweder auf dem eigenen Land, im Haushalt oder auswärts tätig war – und zwar praktisch den ganzen Tag. Selbst die Kinder bewegten sich kaum im ganzen Gemeindegebiet, sondern blieben im Umkreis ihres Weilers. Der öffentliche Raum war ausserdem klar aufgeteilt zwischen den Geschlechtern. Frauen gingen beispielsweise nicht ins Restaurant, wenn sie nicht riskieren wollten, dass im Dorf über sie getratscht wurde. Und in einigen Kirchen sassen am Sonntag die Männer auf der einen und die Frauen auf der anderen Seite. Die vielen Fest- und Feiertage waren dann DIE Gelegenheiten, in denen es zu Durchmischungen kam, und wo auch das Anbandeln zwischen Jungen und Mädchen erwünscht war.

(AS): Gibt es heute eine Dorfmitte oder ein Zentrum, wo man sich trifft?

 

(EL): In den Urner Berggemeinden ging und geht Bewegung und Begegnung mit einer zielgerichteten und praktischen Tätigkeit einher. Man verlässt das Haus, um einzukaufen, einzuzahlen, auf die Post zu gehen, zur Kirche, zur Probe usw. Dass man sich trifft, wie auf einer italienischen Piazza oder auf dem «Bänkli» vor dem Haus sitzt und auf einen Schwatz mit der Nachbarin oder dem Passanten wartet, kennt man in den Urner Bergdörfern eher nicht. Und so haben wir auch keine solche Infrastruktur im öffentlichen Raum wie zum Beispiel eine Art Piazza gefunden. Dazu muss man sagen, dass die meisten Bergdörfer räumlich auf eine Weise gegliedert sind, in der es kein einzelnes «natürliches» Zentrum gibt. Die meisten Dörfer gliedern sich entlang der Strassen und dazu kommen noch Streusiedlungen in abgelegenen Weilern.

 

(AS): Inwiefern beeinflussen denn Begegnungsorte das Engagement für die Gemeinschaft?

 

(EL): Ich würde sagen, Begegnungsorte sind schon selbst ein Engagement für die Gemeinschaft. Sie stärken das soziale Miteinander, das Dazugehören und ein Gefühl der Verbundenheit. Das kann auch ganz ohne Absicht für ein weitergehendes Engagement sein. Insbesondere im hohen Alter, wenn die Kräfte nachlassen, werden neue und weniger tragende Rollen innerhalb der Gemeinschaft wichtig. Rollen, in denen man vielleicht einfach «nur» dabei sein und zuschauen kann. Wenn Begegnungsorte zusätzlich noch die Möglichkeit bieten, über die Generationen hinweg im Miteinander Ideen auszutauschen, gemeinsam Pläne zu schmieden und umzusetzen, kann dies das Engagement für die Gemeinschaft sicher zusätzlich fördern.

 

(RW): Mir kommt da ein Interview in den Sinn, das ich im Rahmen unseres Projekts im Altersheim Spannort in Erstfeld mit einer Gruppe von fünf BewohnerInnen geführt habe. Die meisten von ihnen hatten einen Grossteil ihres Lebens im Dorf Silenen verbracht. Zu Beginn des Interviews sassen sie mir als Einzelpersonen gegenüber und ich konnte keine Verbindungen zwischen ihnen erkennen. Im Verlauf des Gesprächs haben sich ihre Erinnerungen an das Dorfleben von damals angefangen zu verweben. «Weisst du noch, dass der erste Fernseher bei der Familie XY stand und sich bei wichtigen Ereignissen das halbe Dorf dort versammelt hat?» oder «Ja, ihr von eurem Weiler hattet definitiv den längsten Schulweg.» Lauter solche Geschichten. Zum Schluss haben sie den Raum als Gruppe verlassen. Für uns heisst das: Sowohl Begegnungsorte als auch das Austauschen von Erinnerungen, haben das Potenzial, eine Erfahrung des Dazugehörens zu erzeugen.

(AS): Die Entwicklungen der Gemeinden wurden in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt durch den Strassenausbau und das Auto geprägt. Welche Rolle spielt heute die Mobilität im Alter?

 

(EL): Wir müssen unterscheiden zwischen der eigenen körperlichen Mobilität und der motorisierten Mobilität. Beide Aspekte wurden durch den Strassenbau und das Auto geprägt. Wir haben beispielsweise festgestellt, dass die Interviewten in Dörfern aufgewachsen sind, wo es noch keine oder wenige Autos gab. Bis ins Erwachsenenalter (ca. 1980er-Jahre) haben sie enorme Fuss- oder Velodistanzen zurückgelegt. Die Fussmärsche waren auch wichtige Begegnungsmomente. Viele dieser SeniorInnen sind, sofern keine grossen gesundheitlichen Zwischenfälle passiert sind, bis ins hohe Alter unglaublich fit und agil. Heute legt niemand mehr solche Alltags-Distanzen aus eigener Kraft zurück. Die Menschen sind mehrheitlich im Auto oder anders motorisiert unterwegs. Zeit für einen Schwatz gibt es da oft nicht und die Alltagsbewegung ist im Vergleich zu früher sehr gering geworden.

 

Gleichzeitig haben der Strassenausbau und das Auto die Welt erschlossen. Es ermöglicht den Menschen, in den abgelegenen Dörfern und Weilern wohnen zu bleiben und eine Arbeit oder Freizeitinteressen ausserhalb des Dorfes wahrzunehmen. Es hat also viel Unabhängigkeit und Individualismus gebracht und auch die Existenz dieser Dörfer massgeben gesichert. Zudem ist man in Notfällen besser versorgt.

 

(RW): Das ist für mich als Historikerin ein ganz wichtiger Punkt: In diesen Dörfern kannten sich eigentlich alle und Privatsphäre war ein rares Gut, wir sprechen dann von einer «Face-to-Face-Gesellschaft». Eine solch hohe soziale Dichte würde heute nicht mehr funktionieren, wenn da nicht mehr individuelle Freiräume wären, die sich den EinwohnerInnen unter anderem dank erhöhter Mobilität erschliessen.

(AS): Wie schätzen Sie den (familiären) intergenerationellen Austausch in Silenen, Bristen, Amsteg und Isenthal aktuell ein?

 

(EL): Der grösste Teil des intergenerationellen Austauschs findet wohl in der Familie statt. Wir haben in unseren Gesprächen immer wieder von sehr gut funktionierenden innerfamiliären Strukturen gehört. Somit deckt die Familie enorm vieles ab und fast alle haben einen Teil der Familie in der Nähe. So werden auch Systemlücken oder -veränderungen aufgefangen wie Digitalisierung, Rückgang von Dienstleistungen sowie von Betreuung- und Pflegeleistungen. Der Austausch zwischen den Generationen ausserhalb der Familie findet eher im Rahmen von Projekten oder Veranstaltungen statt und ist meist punktuell und temporär.

 

(RW): Ja, es ist bemerkenswert, wie stabil und tragfähig diese familiären Netzwerke sind. Unter anderem wohl deshalb, weil die Leute um das Konfliktpotenzial von Familie wissen und entsprechend vorsorgen. Wir haben Aussagen gehört wie: «Wir haben mit unserem Sohn absichtlich kein Zweifamilienhaus gebaut, damit sowohl wir als auch er mit seiner Familie für sich sein können.» Man ist also teilweise ganz bewusst darum bemüht, die Kontakte innerhalb der Familie nicht zu eng werden zu lassen und die individuellen Freiräume zu schützen. Ausserfamiliär spielen die Vereine sicher eine tragende Rolle. 

(AS): Aus den geführten Gesprächen wurden Bedürfnisse und auch Herausforderungen abgeleitet, welche die ältere Generation in Urner Berggebieten heute aufweisen. Welche Bedürfnisse wurden im Besonderen genannt?

 

(EL): Besonders stark zeigt sich das Bedürfnis nach Kontakt und Verbundenheit mit der Dorfgemeinschaft, insbesondere auch mit jüngeren Generationen. Dies kommt zusammen mit einer grossen Erzählfreude. Sei es über die eigene Geschichte oder die Geschichte des Dorfes. Man teilt gerne ortsspezifische und gemeinsame Erinnerungen. Menschen wollen informiert bleiben darüber, was in «ihrem» Dorf läuft.

 

(RW): Es war beeindruckend zu hören, wie sehr den meisten Befragten die Zukunft ihrer Dörfer am Herzen liegt. Sie haben einen beachtlichen Teil ihrer Lebenszeit investiert, um diese Dörfer lebendig und attraktiv zu halten und wissen um deren Fragilität angesichts vieler aktueller Trends. Für sie ist klar, dass ein Dorf mit Zukunft Kinder braucht, aber auch ein Minimum an Infrastrukturen wie einen Dorfladen, stabilen öV-Anschluss und ein Vereinsleben, das es den älteren EinwohnerInnen möglich macht, in ihrer nächsten Umgebung die notwendigsten materiellen und sozialen Bedürfnisse zu befriedigen und möglichst unkompliziert zu einer grösseren Ortschaft zu gelangen.

 

(AS): Was geschieht nun mit den in diesem Projekt gewonnenen Forschungserkenntnissen?

 

(EL): Die von den älteren Generationen gewünschten Kontakte brauchen Orte, Plätze und Momente, in welchen sie zufällig oder geplant passieren können. Hier können unserer Ansicht nach die öffentlichen Räume in den Dörfern etwas bieten. Ein multiperspektivischer Blick auf diese Begegnungsorte sowie entsprechende Optimierungen können deren Attraktivität für möglichst viele Anspruchsgruppen steigern. Die Forschungsergebnisse werden nun mit den Verantwortlichen in den Urner Gemeinden sowie im Kanton geteilt. Ziel ist, dass die Perspektive der älteren Bevölkerung von Anfang an in die langfristigen Pläne und Entscheide der Politik einbezogen werden.

 

(RW): Zudem werden wir diesen Herbst im Rahmen des Projekts «Uri im Wandel – Bevölkerung und Wissenschaft im Dialog» zwei öffentliche Veranstaltungen organisieren, an denen wir ausgehend von dieser Studie die Generationenverhältnisse in Uri erörtern und mit den Anwesenden diskutieren.

 

(AS): Rahel Wunderli und Eveline Lüönd, herzlichen Dank für dieses Gespräch!

«Gutes Altern im Urner Berggebiet» ist ein Projekt der Gesundheitsförderung Uri in Zusammenarbeit mit dem Institut Kulturen der Alpen. Im kommenden Beitrag auf Syntopia Alpina sprechen wir über die architektonische Perspektive dieses Projekts mit Rina Rolli und Tiziano Schürch des Architekturstudios «studioSER».

Auswertungsbericht «Gutes Altern im Urner Berggebiet» – Audioversion

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Sprecherin: Dominique Barth

Die Feststellung «Wir werden immer älter» gilt auch für die Einwohner:innen der Urner Berggebiete. Im Projekt «Gutes Altern im Urner Berggebiet» werden Daten über die ältere Bevölkerung in den Urner Berggemeinden erhoben, insbesondere qualitative Daten in Form von Interviews. Es ist die Absicht, eine Art Generationenbiographie zu erstellen. Daraus sollen multiplizierbare Handlungsempfehlungen und konkrete Massnahmen auf Gemeindeebene vorgeschlagen und umgesetzt werden, so dass die Voraussetzungen für ein «Gutes Altern im Urner Berggebiet» erhalten oder gar verbessert werden können.

Das Architekturstudio «studioSER» ist ebenso am Projekt beteiligt und schlägt architektonische Interventionen zur Aufwertung der Lebensqualität im höheren Alter vor - deren Erfahrungen stammen aus dem Projekt im Tessiner Dorf Monte.