Hornberg, Saanen BE (© M. Volken)

«Wir müssen nicht bis 2050 zuwarten»: Energiestudie neu publiziert

Das Urner Institut Kulturen der Alpen hat soeben im Mai 2024 die Studie «Die Alpen für eine klimapositive Schweiz» veröffentlicht, die es im Laufe des letzten Jahrs in Zusammenarbeit mit Forschenden von Hochschulen aus der ganzen Schweiz ausgearbeitet und synthetisiert hat. Der Mitherausgeber und Direktor des Instituts Boris Previšić geht im Gespräch mit Aline Stadler auf die wichtigsten Punkte, auf «Klimapositivität», «Kipppunkte», die Opportunitäten der Alpen und das Zusammengehen von Alpbewirtschaftung, Energieproduktion und Tourismus ein.

Bereits im Lehrgang des ersten und zweiten Semesters der Umweltwissenschaften an der ETH, der die letzten zwei Semester in Zusammenarbeit mit dem Institut und einer lokalen Begleitgruppe im Kanton Uri entstanden ist, steht Klimapositivität im Titel der interaktiven Veranstaltung «Umweltprobleme lösen». Da heisst es «klimapositiver Kanton Uri». Nun wird gleich die ganze Schweiz damit apostrophiert. Wie sieht denn eine klimapositive Schweiz aus?


Kurze Antwort: Die Schweiz ist klimapositiv, wenn sie mehr Klimagase zurückbindet, als sie ausstösst. Die längere Antwort ist etwas komplizierter: Wir haben aufs Klima erst dann einen positiven Einfluss, wenn wir die atmosphärische Klimagaskonzentration wieder senken. Netto null genügt somit noch nicht. Obwohl die aktuellen Klimadaten und Extremwetterereignisse immer prekärer sind und wir heute schon die Klimagaskonzentration senken müssten, hat sich die Schweiz verpflichtet, spätestens ab 2050 klimaneutral zu sein. Bis dann müssen wir gleich viel Klimagase wieder der Atmosphäre entziehen, wie wir ausstossen. Eine klimapositive Schweiz würde sich nicht auf dieses Minimalprogramm beschränken, sondern die ganze Verantwortung als hochentwickeltes Land im ganzen Klimabereich übernehmen. Aus diesem Grund erhebt die vorliegende Studie den Anspruch auf eine Gesamtsicht, welche notwendige Negativemissionen miteinbezieht. Sie betreffen nicht erst die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts, sondern müssen bereits in den dreissiger Jahren hochskaliert werden.

Mit dem Pariser Klimaabkommen hat sich auch die Schweiz dazu verpflichtet, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf 1,5 Grad zu begrenzen. Wo stehen wir auf diesem Weg?


Das Pariser Klimaabkommen setzt das Temperaturlimit «deutlich unter 2 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau», wenn möglich «auf 1,5 Grad Celsius», fest. Das Problem ist nicht, dass diese Grenze von 1,5 Grad nicht sinnvoll wäre. Im Gegenteil: Jedes Zehntelsgrad darüber hinterlässt einen exponentiell grösseren Schaden und triggert Kipppunkte, welche die Erwärmung weiter beschleunigen. Gleich zu Beginn unserer Studie veranschaulichen wir Herausgeber, d.h. Ivo Schillig und ich, den aktuellen Stand der Klimaerwärmung nicht mit der gegenwärtigen statistisch nachvollziehbaren globalen Durchschnittstemperatur der Luft – die 2023 1,1 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau lag – sondern mit einer Grafik, welche die Entwicklung der Durchschnittstemperatur der Meere seit 1981 abbildet. Sie bewegte sich im Jahr 2023 relativ konstant zwischen 19,8 und 20,7 Grad Celsius mit einem höheren Peak im März, da sich die Hauptmasse der Meere auf der Südhalbkugel befindet, und einem tieferen Peak Ende August. Weil die Meere im Unterschied zu den Landmassen und der Luft über 90 Prozent der Energie in der Atmosphäre aufnehmen, hat sich dieser Wert die letzten vierzig Jahre zwar stetig, aber nur ganz leicht erhöht. Darum rechneten die Klimamodelle auch damit, dass die Meere als Dämpfer wirken.

Doch seit letztem Jahr ereignet sich etwas Dramatischs: Seit anfangs 2023 bewegt sich die globale Durchschnittstemperatur aller Meere nicht nur 1 Grad Celsius über der Durchschnittstemperatur der letzten vierzig Jahre, sondern auch immer deutlich über den je gemessenen Durchschnittswerten. Der höhere Peak – was eine Anomalie darstellt – liegt neuerdings im August, obwohl es dann auf der Nordhalbkugel weniger Meeresoberfläche gibt. Mit anderen Worten: Die Basis für die Klimamodellierungen ist uns vor gut einem Jahr schlichtweg entglitten. Sämtliche Modelle, mit denen man beispielsweise den Anstieg des Meeresspiegels, die Wahrscheinlichkeit von Extremwetterereignissen oder die Schneesicherheit auf höher gelegenen Skitourismusdestinationen die nächsten Jahre errechnet hat, sind innert Kürze unbrauchbar geworden. Wir haben somit einen unwiederbringlichen Kipppunkt viel schneller erreicht, als uns die Klimawissenschaft die letzten Jahre vorausgesagt hat.

An der Studie «Die Alpen für eine klimapositive Schweiz» sind zwanzig Wissen­schaftler:innen aus unterschiedlichen Disziplinen beteiligt. Was zeigt die Studie auf, und worum geht es konkret?


Das Urner Institut Kulturen der Alpen verfolgt seit seiner Gründung vor bald fünf Jahren einen sowohl interdisziplinären als auch transdisziplinären Ansatz. Wir geben uns nicht einfach mit naturwissenschaftlichen Ergebnissen zufrieden, sondern überlegen, was das nun für die Gesellschaft, d.h. die Sozial- und Kulturwissenschaften, und die rechtlich-politischen Verbindlichkeiten und Umsetzungen, d.h. für die Politologie und Rechtswissenschaften, bedeutet. Dabei gehen wir interdisziplinär vor. Transdisziplinär werden wir in dem Moment, in dem wir nicht nur wissenschaftliches theoretisches, sondern auch praktisches Wissen anzapfen und neu generieren. Erst damit werden wir zukunftsfähig angesichts der immensen Herausforderungen, die uns bevorstehen. Die Studie zeigt aus den verschiedenen disziplinären Perspektiven auf, dass wir Netto-Null mit den Neuen Erneuerbaren in der Schweiz rasch erreichen können und nicht bis 2050 zuwarten müssen. Ein deutlich früher erreichbarer Zeitpunkt ist nicht nur machbar, sondern mit grosser Wahrscheinlichkeit auch ökonomisch opportun.


Kommen wir zu den Alpen. Sie bilden 60 Prozent des Schweizer Territoriums. Welche Rolle übernehmen sie, um das Netto-Null so schnell zu erreichen?


Die Alpen haben wie alle anderen Gebirge auf unserer Erde im Gegensatz zum Flachland einen enormen Vorteil für die Energiegewinnung. Dieser Vorteil liegt in ihrer Höhe. Nirgends sonst haben wir eine so grosse Dichte an kinetischer Energie für die Wasserkraft dank der grossen Höhenunterschiede, für die Solarenergie dank der hohen Sonneneinstrahlung und Schneereflexion und für die Windkraft dank der Geländeexponiertheit und -windkanalisierung. Die Kombination der drei Elemente Wasser, Sonne und Wind macht aus den Alpen nicht nur ein Wasserschloss und eine Erholungszone, sondern auch eine Strombatterie und einen Stromgenerator für die Schweiz und für ganz Europa.

Alpenstrom bedeutet also nicht nur Wasserkraft, sondern auch Wind- und Sonnenenergie. Warum eignen sich die neuen erneuerbaren Energieträger in den Alpen besonders für die Stromproduktion?


Die Kombination der drei Energieträger bildet eine einmalige Chance für die Schweiz, vor allem im Hinblick auf die Schliessung der Winterlücke. Denn im Winter werden wir deutlich mehr Strom sowohl für den Gebäudepark als auch für die E-Mobilität brauchen. Schliesslich wollen wir alle noch fossil betriebenen Heizungen und Autos so schnell wie möglich ersetzen. Auch wenn wir möglichst viele Dächer und Fassaden mit Photovoltaik belegen werden, gibt es im Winterhalbjahr ein Defizit, das wir mit den drei alpinen Elementen decken können: erstens mit Wasserspeicherwerken, indem man das Wasser über den Sommer ansammelt und im Winter turbiniert; zweitens mit Windkraftwerken, da es im Winterhalbjahr deutlich mehr Wind hat; und drittens mit alpiner Photovoltaik, weil die Sonne im Winterhalbjahr in den Bergen viel mehr und viel intensiver scheint und erst noch vom Schnee reflektiert wird. Zudem sind Solarpannels deutlich effizienter, wenn sie nicht warm sind. Dadurch produzieren wir im Winter in den Alpen ein Mehrfaches an Solarstrom als im Mittelland, wo er zur kalten Jahreszeit umso mehr gebraucht wird.


Nochmals zurück in die Gegenwart: Die Schweizer Energieversorgung ist derzeit immer noch stark abhängig vom Ausland, importieren wir doch über zwei Drittel der Gesamtenergie aus dem Ausland. Gibt uns Alpenstrom auch die Chance zu einer gewissen Unabhängigkeit und Autarkie?


Der Hauptanteil des Energieimports umfasst die fossilen Energieträger Öl, Gas und Uran. Zudem gibt es einen gewissen Stromimport im Winterhalbjahr. Von den fossilen Energieträgern kommen wir relativ rasch weg, wenn wir konsequent dekarbonisieren und alles Mögliche elektrifizieren. Dank den Alpen werden wir mithilfe alpiner Photovoltaik, aber auch Wind und Wasser selbst im Winterhalbjahr einen relativ hohen Autarkiegrad erreichen. Wie weit das sinnvoll ist, hängt stark von unserer Zusammenarbeit mit der EU ab. Nicht nur bestimmt sie den Stromhandel, sondern nutzt die Alpen allgemein sowohl als Stromtransit wie auch als Elektrizitätsspeicher in Form unserer Wasserkraftwerke. Man kann aber die Schweiz auch einfach auf der Seite lassen, was sie gegenwärtig tut. Dabei hat in erster Linie die Schweiz das Nachsehen. Mit einem guten Stromabkommen – das immer noch aussteht – können wir es uns leisten, auch günstigen Winterstrom von Windturbinen im Atlantik und in der Nordsee zu importieren, so dass wir den Zubau von Solarflächen in etwa bei einem Prozent der Alpen, d.h. bei ein paar Dutzend Quadratkilometern, belassen können.

An wen richtet sich die Studie? Was geschieht mit den Erkenntnissen?


Die Studie richtet sich an alle Interessierte – und somit an alle Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, welche Verantwortung in der Politik übernehmen wollen, um die Schweiz wieder auf Vordermann zu bringen. Sie richtet sich aber in erster Linie an alle Politikerinnen und Politiker, weil sie über den wichtigen Hebel der Energiepolitik verfügen, welche direkt vom Willen zum Klimaschutz abhängt. Die Studie gilt den Lokalen gerade auch in den Alpen, damit sie sehen, welche wichtige Rolle sie in einem schweizerischen, ja europäischen Gesamtenergiesystem einnehmen können, aber ebenso den nationalen Politikerinnen und Politikern, damit sie ein möglichst effizientes und zukunftsträchtiges Energiesystem unterstützen und aufzubauen mithelfen können.


Und wie steht es um die Klimapositivität in der Schweiz? Können wir da wirklich unseren Beitrag leisten?


In unserer Studie zeigen wir auf, dass wir im Alpenraum ein gewisses Potential zur CO2-Rückbindung in Form von Pflanzenkohle haben, die wir im Strassen- und Tunnelbau, aber auch im Gartenbau und in der Landwirtschaft sinnvoll einsetzen können. Anstatt Holz einfach bis auf die Asche abzubrennen, sollten wir sämtliche Holzfeuerungen durch Pyrolyseöfen ersetzen, welche das Holz in wertvolle Kohle verwandeln. Global besehen leisten wir damit einen ersten Beitrag an die Kohlendioxidentnahme aus der Atmosphäre. Ebenso wichtig ist, dass wir bei kaum verhinderbaren CO2-Quellen wie bei der Kehrichtverbrennung oder in der Zementproduktion das Klimagas direkt herausfiltern und in ehemaligen fossilen Lagerstätten in der Nordsee oder im Mittelmeer verpressen, wo es zu Gestein wird. Eine weitere Möglichkeit ist die direkte Entnahme aus der Atmosphäre irgendwo auf der Welt aus der Luft. Das braucht aber immer noch sehr viel Wärmeenergie und ist sehr kostspielig. In den drei Feldern von Pyrolyse, Quellenentnahme und Kohlenstoffdirektentnahme kann die Schweiz einen wichtigen und namhaften Beitrag im In- und Ausland leisten, um den atmosphärischen Kohlenstoffgehalt zu senken und so auch die historische Bringschuld zu begleichen.

Und zum Schluss nochmals zurück zu den Alpen: «Syntopia Alpina», der Name unseres Online-Magazins, ist ja auch Programm im Sinne einer fruchtbaren Zusammenarbeit verschiedener Akteure in den Alpen. Die Energieproduktion in den Alpen steht immer noch in Konkurrenz zur Alpwirtschaft, zur Biodiversität und zum Tourismus. Welche Lösungen schlägt denn die Studie konkret vor?


Konkret kann die Studie aufzeigen, dass die Alpwirtschaft direkt von der alpinen Photovoltaik profitieren kann, indem sie sich nicht nur direkt an der Stromproduktion beteiligt und die zusätzlichen Mittel gegen die weiter fortschreitende Verbuschung und den entsprechenden Biodiversitätsverlust einsetzt, sondern den Strom, der im Sommer weniger im Mittelland gebraucht wird, für ihre Wasserversorgung in den immer länger werdenden Trockenperioden nutzt. Biodiversität kann nicht nur durch eine Rückkehr zur traditionellen Alpbewirtschaftung erhöht werden, welche dank der zusätzlichen Mittel und Infrastrukturen möglich wird, sondern auch durch gezielte Ausgleichsmassnahmen vor allem im Gewässerbereich, wo die Biodiversität weiterhin am meisten unter Druck steht. Mehr Photovoltaik bedeutet auch weniger Wasserkraft und somit weniger Eingriffe in Fliessgewässer. Hier kommt eine zusätzliche Entlastung zustande. Und schliesslich kann sich gerade der Tourismus auf die Fahnen schreiben, wirklich nachhaltig zu sein – mit Führungen zu den neuen Anlagen, welche sowohl die lokalen Bergbahnen, Wärmepumpen und Elektromobile im alpinen Kurort als auch den Gebäudepark und die Mobilität im Mittelland mit Strom beliefern.

Hier geht's zur Studie «Die Alpen für eine klimapositive Schweiz». Veröffentlicht am 14. Mai 2024.