Airolo: Die zweite Gotthardröhre und der Lebensraum Leventina
Eine kleine bedeutende Geschichte um ein grosses Bauwerk: mit der zweiten Röhre am Gotthard wurde auch die Forderung nach Rückgewinnung von Landschaft und Lebensraum laut. Ein fast fertig gebasteltes ASTRA-Projekt wurde umgekippt. Der Kampf der Airoler Bevölkerung hat sich gelohnt – doch bestehen bereits Manöver für den vierspurigen Betrieb der zwei Röhren.
Auf der Talebene von Airolo weilte ich dauernd als Bub in den 60er Jahren: es war unsere Spielarena, unter anderem mit Fussball- und Eishockeyfeld und einer Passerelle über den Ticino, auf welcher wir Cowboy spielten. Damit war bald Schluss, es folgten Bauarbeiten über zehn Jahre hinweg und 1980 wurde der neue Autotunnel eröffnet. Ein zerrissener Talboden und eine zerstörte Landschaft blieben als Geschenk der Autobahn-Ära in diesen Jahren des wirtschaftlichen Booms zurück. Es ist eine unter vielen Autobahnsündern der 60-70er Jahren in der Schweiz.
Wir in Airolo haben über 40 Jahren darunter gelitten, samt Lärmimmissionen und einer progressiv lahmgelegten lokalen Wirtschaft. Hunderte von öffentlichen Arbeitsplätzen gingen verloren und viele Familien zogen weg, unter anderem wegen des parallelen Rückzugs von Armee- und Bundesbetrieben. 2016 schliesslich entstand das ASTRA-Projekt für eine neue, zweite Gotthardröhre. Als die mindestens zehn Jahre andauernde Baustelle für deren Realisierung in Aussicht stand, dominierte unter den Einwohner:innen der Region die Perspektive, nun dauerhaft leiden zu müssen. Ein schwarzer Blick in die Zukunft, den die Airoler Bevölkerung zum Aufstand bewegte – der zerrissene Talboden als sanierungsbedürftige Autobahnsünde.
Die letzte Möglichkeit: eine Jahrhundertwende für künftige Generationen
So schickte die Bevölkerung eine klare Botschaft an Bundesbern und ASTRA, dem Bundesamt für Strassen: Airolo möchte alle Chancen nutzen, nicht nur den Gotthardtunnel, sondern auch die zerstörte Talebene zu sanieren. Die Ortschaft soll neu lanciert und ein Entwicklungsimpuls für die ganze Gotthardregion herbeigeführt werden. Airolo liegt in einem engen Tal, ist stark durch natürliche Gefahren eingeschränkt und verfügt kaum mehr über eine ebene Fläche. Es wurde ein Raumkonzept erarbeitet, das die Talebene der Oberen Leventina qualitativ gestaltet und für Landwirtschaft sowie Erholung und Sport reserviert. Die Wohnqualität soll innerhalb der bestehenden Bauzone aufgewertet werden – auch, wo es angemessen ist, durch Verdichtung. Das Ziel der engagierten Airolesi war es, den nachkommenden Generationen eine Überlebens- und zugleich Weiterentwicklungschance in Airolo und der Oberen Leventina zu ermöglichen. So wurde im Raumkonzept Schweiz von 2012 unter anderem festgehalten (S. 51): «Die erforderlichen baulichen Sanierungen der übergeordneten Verkehrsinfrastrukturen sollen dazu genutzt werden, den Raum Gotthard raumplanerisch, landschaftlich und ökologisch aufzuwerten.»
Das ASTRA-Projekt als Auslöser
Am 26. April 2016 hatte ASTRA den Entwurf des generellen Projektes an einem öffentlichen Informationsabend mit über 200 Einwohner:innen vorgestellt. Bei dieser Gelegenheit hatte ASTRA erwähnt, dass auch eine einfache Bedachung eines Abschnitts der Süd-Nord-Spur vis-à-vis des Dorfes vorstellbar wäre. Das Publikum hatte damals vehement reagiert und diese Art von Überdachung als inakzeptable Lösung gewertet. Im Juli 2016 erhielt die Gemeinde weitere Varianten von ASTRA, welche nun eine stellenweise Bedachung der Nord-Süd-Spur vorsah, hingegen die neuen Anschlusswerke genau in der Mitte des Talbodens ansiedeln liessen, vis-à-vis des Dorfes. Diese erste Überarbeitung des Projektes war aus Sicht der Dorfbevölkerung ebenfalls inakzeptabel. Und die Exekutive hatte dieser Scheinlösung beinahe zugesagt. Diese Entscheidung wurde ohne Einbindung der Legislative gefällt: Es war geplant, erst im Oktober die Legislative über den Kompromiss zu informieren, de facto vor vollendete Tatsachen zu stellen. Als im August im Dorf diese Information zur Scheinlösung durchsickerte, begann sich eine kleine Gruppe aus Vertreter:innen der drei Lokalparteien mit dieser Problematik intensiv zu beschäftigen. Darauffolgend hat die kleine Dreier-Vertretung des Grossen Gemeinderates Anfangs Oktober 2016 die Exekutive getroffen und eine Absichtserklärung mit den Leitplanken für eine komplette Überarbeitung des Projektes abgegeben. Dies war der erste wichtige Schritt. Das Wort «Landschaft» wurde zum ersten Mal gross geschrieben. Als Folge dieser Aktion wurde ein paar Wochen später durch die Exekutive eine Sonderkommission mit dem Namen «Galleria e Sviluppo» gebildet.
Das neue Projekt aus der Küche der Gemeinde
Neben dieser Kommission wurde auch ein Auftrag an drei externe Experten mit internationalen Erfahrungen gegeben. Dies war der zweite wichtige Schritt. Am 12. Dezember 2016 fand in Bern das wichtigste Treffen zwischen ASTRA, der Tessiner Bundeshausdeputation, dem Kanton Tessin und der Gemeinde Airolo statt. An diesem Tag wurde die lokale Entwicklungsstrategie vorgestellt – Resultat dieses dritten wichtigen Schrittes ist ein neues Eingangstor. Die Gemeindelegislative hat daraufhin einem Kredit von 100’000.- CHF für die Einbindung der Expert:innen im Projekt zugestimmt. Von Anfang an haben wir Airoleser so unsere Entwicklungsstrategie beschrieben: Die neue Strategie für die Entwicklung von Airolo, der Alta Leventina und der Gotthardregion Teil Süd heisst «Landschaft».
Dabei geht es um den Wiederaufbau und die Neugestaltung der Landschaft des Talbodens, die dem Dorf zu neuem Glanz verhelfen wird. Dank der neuen Landschaft möchte Airolo wieder ein attraktives Bergdorf werden, inmitten von Natur und umgeben von Wald, Landwirtschaft und von Ruhe. Die Eckpfeiler des neuen Leitbildes sind dreierlei: Erstens soll der Landschaft eine klare und geordnete Struktur gegeben werden, zweitens bildet die Talebene den Sockel des Leitbildes und drittens wird die Verankerung der Talebene am Gesamtraum von Airolo durch drei Eingangstore gegeben. Mit unserem Leitbild stellten wir ASTRA im Februar 2017 vier Varianten der Entwicklungsstrategie «Landschaft» zu, unter welchen eine – nach einem Treffen zwischen Gemeinde, Kanton und ASTRA – gewählt wurde.
Zwischen März und April 2017 hatte ASTRA diese Lösung überarbeitet. Dies war der vierte wichtige Schritt. An einem Treffen am 27. April zwischen Behörden wurde offiziell entschieden, dass die Autobahn vor dem Dorf über eine Länge von 1’086 m überdeckt und die Talebene mit dem Aushubmaterial neu modelliert wird. Das war der fünfte Schritt. Der Vorteil für die Gemeinde besteht nun darin, dass insgesamt 220’000 Quadratmeter zu Landwirtschafts- und Naturfläche zurückgewonnen werden (zu 90%). Damit kann Airolo wieder zu einem attraktiven Wohn- und Ferienort werden. Ein Vorteil für ASTRA wiederum liegt darin, dass 1.2 Millionen Kubikmeter Aushubmaterial direkt vor Ort deponiert wird. Das ermöglicht eine kostengünstigere und ökologischere Verwaltung des ganzen Projektes. Von den Mehrkosten gehen je 50 Millionen Franken zulasten von Bund und Kanton. Der zurückgewonnene Talboden wird die Seitentäler nochmals miteinander verbinden. Durch dieses neue Landschaftskonzept entsteht aus der zerstörten Talebene von Airolo ein neuer Erholungs-, Sports- und Landwirtschaftsraum.
Der harte Kampf hat sich gelohnt
Am 25. Oktober 2017 hat der Bundesrat das Projekt sowie die Vereinbarung mit der Gemeinde Airolo genehmigt. In einer Zeitspanne von lediglich sechs Monaten hat es die Gemeinde Airolo geschafft, ein Gesamtprojekt von ASTRA durch eine neue Lösung zu ersetzen. Am 8. Mai 2018 hat der Tessiner Grossrat dem Kredit von 50 Millionen Franken mit Applaus zugestimmt. Das Unglaubliche wurde erreicht, dank der Entschlossenheit der Absichten der Airolesi, der wesentlichen Unterstützung der kantonalen Politik (insbesondere durch den verantwortlichen Regierungsrat Zali), der guten Zusammenarbeit mit ASTRA (trotz den Anfangskonflikten) und dank den Gemeinden Pollegio und Biasca, welche nach der langen AlpTransit-Baustelle keine neue Grossdeponie mehr wollten. Die Landschaft: Ihr wurde eine tragende Bedeutung in der räumlichen Entwicklungsstrategie einer alpinen Gemeinde zuerkannt. Zu den Gewinnern werden ebenfalls die künftigen Generationen gezählt.
Der erwartete Angriff auf den Alpenschutz
Zu meinem weinenden Auge durch den Abstimmungsmisserfolg vom Februar 2016 zur zweiten Röhre ist dadurch ein lachendes «Airoleser»-Auge hinzugekommen. Beide Tunnelröhren sollen nur einspurig befahren werden dürfen. Doch die Manöver, den vierspurigen Betrieb zu erringen, laufen bereits, wie es zu befürchten war. Die Forderung nach Aufhebung der Kapazitätsbeschränkung wird laut – ein frontaler Angriff auf den Alpenschutzartikel. Es gilt, diesen Angriff abzuwenden.