Göscheneralpsee UR (© M. Volken)

«Alte Göscheneralp 2.0»: Als ein Dorf dem Stausee weichen musste

«Ä See isch gsi, und ä See wird’s wieder gä», soll einst ein älterer Einwohner prophezeit haben, als noch niemand an einen Stausee auf der Göscheneralp dachte. In den 60er Jahren traf genau dies ein: Die Göscheneralp weichte der Stromproduktion. Geblieben sind Stimmen und Fotografien, die Einblick in das frühere Alpleben geben.

Bedrückt schaute er in die wolkenlose, warme Nacht hinaus, sah Sterne über dem Tal, sah den Urwangstock vertraut in die schwebende Dämmerung aufragen, erkannte auf der Ebnetmatt die dunklen Haufen der zerstreut herumliegenden Kühe und hörte das kurze Klöppeln, wenn eine ihr Haupt bewegte. Ihm war, er habe schon einmal in einer Nacht so dagestanden und das Tal mit dem künftigen See vor sich gesehen, aber hoch gestimmt und voll der schönsten Hoffnungen. Jetzt waren seine Hoffnungen weggeschwemmt, der See stieg aus dem ertrinkenden Talgrund unaufhaltsam höher, über die Ufer hinaus, und langsam wie das Wasser, das durch Türen und Fenster hereindrang, das Hausdach überflutete und den Büel für alle Zeiten begrub, stieg aus seinem tiefsten Grunde die Angst, dass ihm etwas Unersetzliches verloren gehe.


Zeilen aus dem 1954 erschienenen Roman «Urwang» von Meinrad Inglin, der sich fiktiv damit auseinandersetzt, was es für Betroffene eines Alpentals bedeuten kann, wenn eine Stromgesellschaft ihren Lebensraum im Wasser ertränkt, um Strom zu produzieren. Fortschritt steht gegen Tradition, Erneuern gegen Bewahren. In das gleiche Jahr 1954 fällt der Beginn des Baus des Kraftwerkes Göschenen und des Staudamms Göscheneralp. Der fiktive Text des Schwyzer Autors spürt damit, absichtlich oder unabsichtlich, den Spuren realer Vorkommnisse nach.

Vom Untergang der Göscheneralp

Auf der Göscheneralp lebte bis in die 1960er Jahre eine intakte Dorfgemeinschaft. Als diese dem Stausee weichen muss, verschwinden 10’000 Aren Wiesland, Allmenden und Alpen, die dort lebenden Familien sowie 70 Stück Grossvieh und 400 Schafe und Ziegen. Die Kirche, die Schule, das Pfrundhaus, die Wohnhäuser und die Ställe wurden abgebrochen und gingen unter. 1962 wurde der Göscheneralpsee von den Centralschweizerischen Kraftwerken (CKW) in Betrieb genommen. Dieses technische Werk setzte der Lebenswelt damaliger Bewohner:innen ein jähes Ende – geblieben sind ihre Erinnerungen. Von 2006 bis 2008 habe ich Stimmen und photographische Zeugnisse ehemaliger Bewohner:innen des untergegangenen Dörfchens auf der Göscheneralp gesammelt. Daraus entstanden sind Tonaufnahmen und über 100 Schwarz-Weiss-Aufnahmen als Zeugnisse dieser noch nicht weit zurückliegenden Zeit. Sie geben Einblick in das Leben der damaligen «Göschenerälpler» und dokumentieren die Veränderungen, welche die Dorfgemeinschaft erlebte. So schildert der ehemalige Göschenerälpler Peter Mattli:


Ich war der Letzte meiner Familie, der die Hinteralp verliess. Ich weiss nicht, wieso ich so lange dortgeblieben bin, aber ich bin geblieben. Ich würde meinen zu glauben, dass man dieses Martyrium durchstehen musste. Ich war da, als alles begann. Die Maschinen und die Beleuchtung in der Nacht sind mir stark in Erinnerung. Dieser Lärm – natürlich, auch die Reuss machte Lärm, aber das war Musik im Gegensatz dazu. 14 bis 15 Bagger rund um das Haus. Die arbeiteten in der Nacht. Es war schwierig zu schlafen. Der Untergang dieses schönen Alpbodens... damit abgefunden habe ich mich nie so wirklich.

Früher auf der Göscheneralp © Familie Mattli (Jahrgang unbekannt)

Berichte wie diese zeugen von einem tiefen Gefühl des Verlustes, welches die Einwohner:innen der Göscheneralp begleiten konnte. Für sie bedeutete der Bau des Stausees Entwurzelung. «Da habe ich noch die grössere Dummheit begangen. Ich habe geholfen, die Häuser zu demontieren. Stell dir das mal vor. Ich habe die Häuser von Freunden demontiert. Als es um unser Haus und das Gasthaus ging, haben wir freundlich "Nein, danke!" gesagt. Das Eigene abreissen können wir nicht. Und ja, wir konnten es nicht tun.», erzählt Peter Mattli. Für die verlorenen Höfe und Gaden gab es Realersätze sowie finanzielle Entschädigungen, was die Heimat natürlich jedoch nicht ersetzen konnte.

Inseln der Erinnerung

Stimmen wie diese sind heute auf einem Parcours im Raum Göschenen / Göscheneralp anzutreffen. Das Projekt «Alte Göscheneralp 2.0» gibt an acht Stationen Einblick in das damalige Leben der Bergbewohner:innen, unter anderem in deren Familienalltag, den Postdienst oder den Lawinenwinter 1951. Die gesammelten Tonaufnahmen, welche vor Ort angehört werden können, stellen die bisher grösste mündliche Zeugnissammlung der Göscheneralp dar. Aus dem Projekt heraus entstanden ist zudem ein Buch, welches die Veränderungen im Tal durch den Bau des Stausees festhält. Da der Grossteil der Bilder aus Alben der ehemaligen Einwohner:innen stammen, weist das photographische Material einen besonders privaten Charakter auf.


Für einen Augenblick setzen uns die Erzählungen der damaligen Bewohner:innen um ein halbes Jahrhundert zurück. Die Inseln der Erinnerungen führen an eine ehemals intakte Berglandschaft heran – und konfrontieren uns mit den Fragen, was Heimat, Tradition, aber auch Energieproduktion und Fortschritt bedeuten. Fragen, die heute wieder von besonderer Aktualität sind.

Porträt der Familie Gerig im Jahr 1948 bei ihrem alten Wohnhaus (genannt «s’Fluris») auf der Göscheneralp V.l.r.: Josef Gerig, Katharina Gerig-Tresch und Matilda Tresch und die Kinder v.l.r. Walter Gerig, Clemens Gerig (hinten), Martha Gerig und Marlis Gerig © Familie Gerig

Der Parcours mitsamt Hörstationen und Bilder ist im Raum Göschenen und Göscheneralp anzutreffen sowie online auffindbar.