Alpenstrom und Raumplanung – eine kritische Betrachtung der aktuellen Gesetzgebung
Mehr Strom aus erneuerbarer Energie: Ein beschleunigter Ausbau alpiner Grossanlagen drängt sich schon länger auf und ist seit der Herbstsession 2022 auch möglich. Doch die neuen Anpassungen am Energiegesetz drohen, grundlegende Prinzipien des Raumplanungsrechts auszuhebeln.
Noch mehr «Alpenstrom» gefragt
Die Abhängigkeit von ausländischen Lieferanten fossiler Energieträger ist unangenehm und wurde durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine nochmals schmerzlich vor Augen geführt. Die vermehrte Stromproduktion aus erneuerbaren Energien in der Schweiz könnte die Auslandsabhängigkeit verringern und zugleich die Klimaschutzziele zu erreichen helfen. Hierbei würden Photovoltaik-Anlagen in den Alpen durch ihren höheren Produktionsanteil in den kritischen Wintermonaten einen Beitrag leisten. Aktuelle Vorhaben wie das Solarstromprojekt in Gondo oder das noch ambitioniertere Projekt in Grengiols weisen die Richtung in eine intensivere Nutzung der Alpen für die Stromproduktion, die bereits jetzt durch die Wasserkraft einen erheblichen Anteil an der Schweizer Stromerzeugung haben.
Die bestehenden Rechtsvorschriften für Photovoltaik-Anlagen wirkten sich bisher hinderlich aus. Während mit dem «Konzept Windenergie» des Bundes eine Planungshilfe für die Windenergie besteht, und das nationale Interesse an Windenergieanlagen gesetzlich geregelt ist, bestanden für die Solarenergie lange Zeit keine rechtlichen Ansätze, grosse Anlagen in den Alpen zu fördern. Einzig Anlagen auf bestehenden Strukturen wie Staumauern sowie auf künstlichen Gewässern wie Stauseen waren seit einer Verordnungsänderung im Sommer 2022 erleichtert möglich.
Vor diesem Hintergrund erscheint es verständlich, dass auf Anpassungen des Rechtsrahmens gedrängt wurde. Auch ich hatte bereits entsprechende Vorschläge unterbreitet. Nun wurden Anpassungen am Energiegesetz vorgenommen. Diese stellen jedoch fundamentale Prinzipien des Raumplanungsrechts in Frage.
Vorrang für die alpine Gross-Photovoltaik
Was hat sich verändert? Der neue Artikel 71a Energiegesetz sieht vor, dass Solaranlagen bei einer Jahresproduktion von mindestens zehn Gigawattstunden (GWh) pro Jahr mit einem erheblichen Produktionsanteil im Winterhalbjahr keiner Planungspflicht unterstehen, und das Interesse an ihrer Errichtung grundsätzlich Vorrang vor den anderen nationalen, regionalen und lokalen Interessen hat. Die Vorschrift betrifft damit vor allem grosse alpine Freiflächenanlagen. Diese Vorgaben wurden als dringliches Bundesgesetz in kürzester Zeit in der Herbstsession 2022 verabschiedet und traten bereits am 1. Oktober 2022 in Kraft. Sie gelten, bis solche Anlagen schweizweit eine jährliche Stromproduktion von maximal zwei Terawattstunden erlauben, höchstens jedoch bis Ende 2025, wobei die Vorschrift für Gesuche, die bis Ende 2025 öffentlich aufgelegt werden, und für allfällige Beschwerdeverfahren anwendbar bleibt.
Raumplanung: Interessenabwägung ist Pflicht
Der neue Gesetzesartikel fügt sich nur schlecht in das bestehende Raumplanungsrecht ein. Die Planungspflicht (Artikel 2 Raumplanungsgesetz) soll sicherstellen, dass alle relevanten Belange auf überregionaler, regionaler und lokaler Ebene auf der dafür jeweils bestgeeigneten Ebene – des Richtplans oder Nutzungsplans – ermittelt und gegeneinander abgewogen werden. Gerade Grossprojekte wie solch leistungsfähige Solaranlagen in der Freifläche können Auswirkungen haben, die eine Planung bereits auf der Ebene des Richtplans erfordern. Solche Anlagen nun völlig von der Planungspflicht auszunehmen, ist wenig hilfreich und dürfte sich auch nicht akzeptanzsteigernd auswirken. Der ursprüngliche Entwurf der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Ständerats (UREK-S) hatte sogar vorgesehen, solche Anlagen von der Umweltverträglichkeitsprüfung auszunehmen. Die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP, Artikel 10a Umweltschutzgesetz) soll es ermöglichen, die voraussichtlichen Auswirkungen eines Vorhabens auf die Natur eingehend im Sinne eines «Impact Assessment» zu beurteilen. Auch für grosse Solaranlagen besteht die Pflicht, eine solche UVP durchzuführen. Dass das Parlament letztlich für eine Beibehaltung der UVP-Pflicht votiert hat, ist zu begrüssen, ermöglicht dies doch weiterhin, die betroffenen Umweltinteressen zu ermitteln.
Anwendungsprobleme wird besonders der Vorrang der Interessen am Bau solcher Solaranlagen vor anderen Interessen aufwerfen. Grundsätzlich haben die Behörden bei ihren raumplanerischen Entscheiden alle Interessen zu ermitteln und umfassend gegeneinander abzuwägen (Artikel 3 Raumplanungsverordnung). Zwar darf und soll der demokratisch legitimierte Gesetzgeber abstrakt einzelnen Interessen ein besonderes Gewicht beimessen. Im konkreten Anwendungsfall ist es jedoch nach der Gewaltenteilung grundsätzlich Sache der Behörden, zu ermitteln, wie stark die jeweiligen Interessen im Einzelfall betroffen sind, und diese Interessen sodann einem möglichst schonenden Ausgleich zuzuführen.
Die Nutzungsinteressen an den solaren Grossanlagen hatten im ursprünglichen Entwurf der UREK-S generell Vorrang vor den entgegenstehenden Schutzinteressen. Es stellte sich die Frage, ob tatsächlich ohne jede Abwägungsmöglichkeit auch im Einzelfall stets das Interesse an der Solaranlage vorgehen sollte, egal wie stark beispielsweise schützenswerte Landschaften oder Biotope betroffen wären. Das Parlament hat nun das entscheidende Wort «grundsätzlich» eingefügt. Das bedeutet: In der konkreten Umsetzung können andere Interessen auch überwiegen. Im Einzelfall bei besonders starker Beeinträchtigung von Schutzinteressen könnte das Gericht das Interesse an den Solaranlagen lediglich abstrakt höher gewichten und zulassen, dass die Behörde schliesslich gegen die Realisierung einer Anlage entscheidet.
Ausblick: Planung von Grossanlagen
Die jüngste Änderung des Energiegesetzes – dass keine Planungspflicht besteht und die Errichtung von Solaranlagen «grundsätzlich» Vorrang vor anderen Interessen hat – wird sicherlich nicht der letzte gesetzgeberische Schritt in diese Richtung sein. Die UREK-N hat bereits eine neue parlamentarische Initiative (22.461) eingereicht, der am 24. Oktober 2022 von der Schwesterkommission im Ständerat zugestimmt wurde. Die Initiative sieht einen revidierten Artikel 71b Energiegesetz vor, der die Planung von Speicherwasserkraftwerken erleichtern soll und sich ähnlich der geltenden Rechtslage (in für einen abstrakten Gesetzeserlass ungewöhnlicher Weise) direkt auf ein bestimmtes Wasserkraftprojekt – in diesem Fall auf das Projekt Trift – beziehen würde. Ein neuer Artikel 71c Energiegesetz wiederum soll für Windenergieanlagen bis zu einer Steigerung der Produktion im Vergleich zu 2021 um eine Terawattstunde pro Jahr fingieren, dass rechtskräftige Nutzungspläne unter bestimmten Umständen als Baubewilligungen gelten, und würde die diesbezüglichen Rechtschutzmöglichkeiten einschränken. Auch hier würde der raumplanungsrechtliche Stufenbau (erst Planung, dann Bewilligung) also unterlaufen.
Es geht auch anders
Dass es auch ohne solch weitreichenden Verfahrensänderungen geht, zeigt das Beispiel des Windparks Grenchenberg. Das Bundesgericht (BGE 148 II 36) hatte hier unter anderem darüber zu entscheiden, ob sich der geplante Windpark mit dem Schutz lokal ansässiger geschützter Vogelarten wie dem Wanderfalken vereinbaren liess. Schliesslich kam das Bundesgericht zu dem Ergebnis, dass zwei der geplanten Anlagen, die einem Wanderfalkenhorst besonders nahegekommen wären, nicht realisiert werden konnten, der restliche Windpark aber umgesetzt werden kann. Die Interessenabwägung eröffnet also den Weg zu vermittelnden Lösungen: Nicht «Windpark: ja oder nein», sondern «Windpark: ja, aber». Vieles spricht dafür, bei diesem bewährten Ansatz zu bleiben, anstatt ein hiervon stark abweichendes Sonderrecht für bestimmte Kategorien von Anlagen zu schaffen.
In den letzten Jahren hat es sicherlich zu viele Fälle gegeben, in denen Projekte zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern durch gerichtliche Verfahren blockiert wurden. Paradebeispiel hierfür dürfte das Ausbauprojekt zum Wasserkraftwerk Grimsel sein, dass gleich mehrfach vom Bundesgericht beurteilt werden musste. Es sollte überlegt werden, das Verfahrensrecht dahingehend anzupassen, dass rechtliche Einwände möglichst frühzeitig geltend gemacht werden müssen, um eine mehrfache Beurteilung durch das Bundesgericht zu vermeiden. Dies sollte dann jedoch für sämtliche Vorhaben gelten, nicht nur für Anlagen zur Stromerzeugung. Andernfalls droht nicht nur eine Rechtszersplitterung durch ein energiebezogenes «Sonder-Planungsrecht», sondern auch eine Wiederholung der hier diskutierten Probleme im Falle anderer Infrastrukturen, die zukünftig von Bedeutung sein könnten – etwa Wasserstoff- und CO2-Leitungen oder der Ausbau des öffentlichen Verkehrs.