Isleten: Von der Zukunft einer geschützten Landschaft – INTERVIEW MIT…
Am 24. November stimmt die Urner Bevölkerung über die Initiative «Isleten für alle» ab, die Samih Sawiris’ neues Projekt auf der Isleten-Halbinsel mit Hotelanlage und Yachthafen verhindern möchte. Welche Bedeutung kommt der Halbinsel als eine der «wertvollsten Landschaften» der Schweiz zu? Ein Gespräch mit Veronika Studer-Kovács, Kulturwissenschaftlerin am Urner Institut Kulturen der Alpen.
Aline Stadler: Veronika, in Deiner Forschung beschäftigst Du Dich mit geschützten Kultur- und Naturgütern. Auch die Isleten-Halbinsel gehört zum «Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler» (BLN) – inwiefern ist der aktuelle Prozess für Dich von Interesse?
Veronika Studer-Kovács: Unser Blick auf – und unsere Wahrnehmung von – Natur- und Kulturlandschaften ist einerseits sehr subjektiv: Je nach Kultur und Sozialisierung werten wir den Raum unterschiedlich. Andererseits können wir auch von kollektiven Sichtweisen und Wahrnehmungen sprechen, die sich historisch entwickeln. Diese kollektiven Sichtweisen bestimmen zum grossen Teil, welche Natur- und Kulturlandschaften als besonders bedeutsam eingestuft und von Institutionen wie der UNESCO auf globaler Ebene oder des BLN und ISOS (Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz) auf nationaler Ebene auf Schutzlisten gesetzt werden. Die Isleten-Halbinsel ist Teil des BLN-Gebiets «Vierwaldstättersee mit Kernwald, Bürgenstock und Rigi» und damit ein Ort von «nationaler Bedeutung». Die Menschen nehmen die Halbinsel jedoch unterschiedlich wahr. Einige haben sich angegriffen gefühlt, als Sami Sawiris sie an der örtlichen Gemeindeversammlung als «hässlich» bezeichnet hat. Wer entscheidet darüber, ob ein geographischer Raum oder ein historisches Gebäude schön ist? Ist die «Schönheit» oder das «Schützenswerte» zwingend sichtbar? Diese Fragen finde ich aus kulturwissenschaftlicher Sicht sehr relevant.
Welche Kriterien machen denn Isleten zu einem BLN-Gebiet?
Es gibt sehr unterschiedliche Landschaften, die als schützenswert eingeteilt und ins BLN aufgenommen wurden. Die Zusammenstellung der BLN-Liste war ein jahrzehntelanger Prozess, der auch selbst ein interessanter Untersuchungsgegenstand wäre. Das Inventar stellt zu jedem Gebiet eine detaillierte und umfangreiche Begründung der nationalen Bedeutsamkeit zur Verfügung und eine Liste von Schutzzielen, die durchgesetzt werden müssen. Im Gebiet Vierwaldstättersee wird die nationale Bedeutung zum Beispiel durch die Form, Ausdehnung und abwechslungsreichen Uferlandschaften des Sees begründet. Wir finden aber auch Argumente wie «insubirische Florenelemente an den Hängen über dem See» oder «natürliche Ufer und Unterwasserlebensräume mit bedeutendem Vorkommen charakteristischer und gefährdeter Pflanzen- und Tierarten.»
Die fünfzehn Schutzziele sind teilweise grossflächig gedacht, so handelt beispielsweise Punkt 2 von der «Authentizität» der vielfältigen Seen- und Berglandschaft, die erhalten werden soll. Dann gibt es aber auch Punkte, die gezielter auf einzelne Objekte eingehen, wie zum Beispiel Punkt 12, der lautet: «Die standorttypischen Strukturelemente der Kulturlandschaft wie Alpgebäude, Hecken, Einzelbäume, Obstgärten und Trockensteinmauern erhalten.»
Die Bewilligung von Bauprojekten in BLN-Gebieten hängt vom Gutachten der ENHK ab, deren Mitglieder Fachexpert:innen – unter anderem Biolog:innen, Geolog:innen und Historiker:innen – sind. Sie beurteilen, ob die einzelnen Schutzziele durch die jeweiligen Bauprojekte gefährdet sind und haben den Auftrag, genau aufzuzeigen, welche Opfer für die Verwirklichung der Projekte erbracht werden müssten. Dabei werden alle Schutzziele gleich gewichtet. Interessensabwägungen haben in diesem Prozess keinen Platz. Diese machen die zuständigen Behörden, die über die Bewilligungen aufgrund vom fundierten Wissen der Gutachten entscheiden.
Nun befindet sich Isleten in Privateigentum; die ehemalige Sprengstofffirma hat das Gelände an Samih Sawiris verkauft. Welche Rolle spielt die ENHK in diesem Prozess?
Der überwiegende Teil des Landes, das sich in BLN-Gebieten befindet, ist in Privateigentum. Das ist nicht aussergewöhnlich. Die Eidgenössische Natur- und Heimatschutzkommission wird auch diesen Fall prüfen und ein entsprechendes Gutachten abgeben. Bei der Isleten stellt sich mir die Frage nach Vertrauen seitens der Bevölkerung in behördliche Institutionen, die sich dem Projekt annehmen. Die Initiative «Isleten für alle» macht die Befürchtung deutlich, dass ein Projekt bewilligt werden könnte, welches dem von der ENHK zugesprochenen Schutz nicht gerecht wird. Zu diesem Misstrauen trägt sicherlich auch bei, dass die Gutachten der ENHK nicht öffentlich publiziert sind. Die Initiative zeigt eine tiefe Betroffenheit; viele Einheimische bewegt es, was mit der Isleten-Halbinsel geschieht, und sie möchten über die Nutzung des Gebiets mitentscheiden. Die Bedenken der Bevölkerung fanden teilweise bereits Berücksichtigung: Das Projekt wurde neu dimensioniert und inklusiver gestaltet.
Welchen Einfluss haben Gutachten der ENHK auf die entsprechenden Projektvorhaben tatsächlich?
Wenn Schutzziele nicht respektiert werden, erhält das Projekt mit grosser Wahrscheinlichkeit keine Bewilligung oder muss entsprechend angepasst und optimiert werden. Wie bereits erwähnt, darf die ENHK jedoch keine Interessen abwägen. Das bedeutet, sie machen je nach Zweck der Bauprojekte keinen Unterschied. Eine Photovoltaik-Freiflächenanlage – von der angenommen wird, dass sie indirekt Schutzzielen wie dem Gletscherschutz dienen könnte – wird genauso wie ein Hotelprojekt betrachtet. Sie äussern sich ausschliesslich zu den direkten Folgen der Bauprojekte für die Schutzzone.
Das ist interessant. Das zuständige Amt, und je nach Einbindung auch die Bevölkerung, entscheiden schlussendlich darüber, welche Interessen berücksichtigt werden?
Ja, und die Initiative bietet den Einheimischen eine Möglichkeit, Einfluss zu nehmen. Gleichzeitig ist sie ein Signal an die Politik und zuständigen Behörden, dass der Bevölkerung das Vertrauen in deren Entscheidungen fehlt. Ich denke, an dieser Stelle gewinnen Betroffenheit und emotionale Verbundenheit an Bedeutung. Interessant ist, dass sich diese bei geschützten Natur- und Kulturgütern unterschiedlich zeigen. Denken wir an den Brand von Notre-Dame zurück: Manche waren empört darüber, wie gross die emotionale Verbundenheit und entsprechend auch die finanzielle Unterstützung für die Wiedererrichtung der Pariser Kathedrale im Vergleich zum brennenden Amazonas war. Dabei kann man das nachvollziehen: Hunderte Millionen von Menschen haben eine eigene Erfahrung, eine Anekdote mit diesem Gebäude. Es war vor dem Brand die meistbesuchte Touristenattraktion der meistbesuchten Stadt der Welt. Zum brennenden Amazonas haben, zumindest im Westen, nur wenige eine persönliche Beziehung.
Wer setzt sich wofür ein? Engagiert man sich eher für Kulturgüter, Tierarten oder Landschaften, mit denen man sich identifiziert, oder auch für Kultur- und Naturgüter, von denen man nur weiss, dass sie wichtig sind, deren Bedeutung man jedoch weniger spürt? Hier kommen auch Identitätsfragen sowie die eigene Erfahrung in den Werturteilen ins Spiel, die sich die Aufmerksamkeitsökonomie zunutze macht.
Um nochmals auf den Fall Isleten zurückzukommen: Wie könnte denn ein sinnvoller Konsens aussehen?
Bei dieser Initiative stehen neben den Schutzzielen des Gebiets vor allem auch die Art und Weise der Nutzung zur Diskussion. Wer soll Zugang haben dürfen zu diesem Gebiet, das eigentlich als Gemeingut definiert und gleichzeitig Privateigentum ist? Auf dieser Ebene kann ein fruchtbarer Dialog geführt werden. Der Schutz der Landschaft und der historischen Bauten ist das eine, doch das andere ist die Teilhabe und die Frage, was die Bevölkerung möchte.
Veronika Studer-Kovács, herzlichen Dank für diese Einordnungen!
Mehr Informationen zum Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung (BLN) finden sich auf dessen Webseite und zum betroffenen BLN-Gebiet unter diesem Link. Weitere Ausführungen zur Volksabstimmung «Isleten für alle» gibt es hier.