Val Malvaglia TI (© M. Volken)

Val Malvaglia TI (© M. Volken)

Val Malvaglia TI (© M. Volken)

Val Malvaglia TI (© M. Volken)

Sichtbarmachung alter Tessiner Alpweiden: Stallruinen und architektonische Interventionen

Unter dem Namen «Ricomposizioni» arbeitet Schweizer Architekt Martino Pedrozzi mit alten Ställen im Tessin und setzt sich würdevoll mit ehemaligen Alpweiden auseinander. Ein Gespräch über die Sichtbarmachung alter Kulturtechniken in den Tessiner Alpen.

Aline Stadler: Martino Pedrozzi, viele Alpen wurden in den letzten Jahrzehnten verlassen, Gebäude und Ställe sind in Ruinen zerfallen. Was fasziniert Sie an diesen traditionellen Bauten?


Martino Pedrozzi: Die alpine Landwirtschaft wurde an vielen Orten seit den 1950er Jahren aufgegeben und Alpweiden innert kürzester Zeit verlassen in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen in den Tälern. Ein Prozess, der schnell voranging. Ich würde nicht die Faszination, sondern vielmehr eine Dringlichkeit und Notwendigkeit als Antreiber meiner Auseinandersetzung mit diesen Orten nennen. Als ich 1994 auf eine alte Stallruine auf der Alpe di Sceru im Malvaglia-Tal traf, wurde ich das Gefühl nicht los, dass hier etwas noch nicht abgeschlossen wurde. Diese Unvollendetheit war Antrieb meiner ersten Rekomposition.

AS: Was genau verstehen Sie unter einer «Rekomposition»?


MP: Jeder Bau hat eine öffentliche und eine private Komponente. Die private umfasst das Funktionale, die Verbindung zur einzelnen Person, die darin lebt und arbeitet. Diese private Komponente ist in den alten Ställen auf Alpweiden endgültig verschwunden, weil sie nicht mehr in ihrer ursprünglichen Funktion genutzt werden. Die öffentliche Komponente aber – was diese Bauten für die Gemeinschaft bedeuten – kann durch eine Restaurierung wiederhergestellt werden. Eine Rekomposition bezeichnet die Verlegung aller umgestürzten und verstreuten Steine von aussen in den ursprünglichen Umriss eines Stalls. Die Ställe werden dann wieder zu Formen und einem Bezugspunkt in der Landschaft, so, wie sie einmal waren. Bei einer Rekomposition geht es mir darum, diesen traditionellen Bauten ihre öffentliche Bedeutung zurückzugeben und ihre private Bedeutung gleichzeitig abzuschliessen. Die ehemaligen Alpweiden wurden oftmals in einem schnellen Tempo verlassen im Unwissen darüber, dass man nicht mehr zurückkehrt – gefühlt steht die Flasche Wein vielerorts noch auf dem Tisch. Diesen unvollendeten Prozess möchte ich mit einer Rekomposition vollenden.


AS: Und diese Rekompositionen führen Sie bis heute fort...


MP: Ich hätte nach der ersten Rekomposition aufhören können – auf eine Weise sind alle weiteren Rekompositionen auch Repetitionen. Aber es ist eine nie endende Aufgabe. Wenn man diese Aktivität auch als Dienstleistung für die Gemeinschaft, für den öffentlichen Raum sieht, ist es mit einem Gebäude noch lange nicht getan. Es ist wichtig, sich dem Ort insgesamt anzunehmen.

Architektonische Intervention auf der Alpe di Sceru im Malvaglia-Tal © Pino Brioschi

AS: Sie haben Sceru im Malvaglia-Tal genannt, auch in Pizzada haben Sie Arbeiten umgesetzt. Was ist mit diesen Orten seit Ihren architektonischen Interventionen geschehen?


MP: Die Bauten werden meistens nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zweck genutzt. Es gibt Ruinen, die ich aufsammle als Rekompositionen, die natürlich nicht bewohnt oder benutzt werden können. Andere noch bestehende Gebäude wurden durch eine Renovation wieder bewohnbar und als (Ferien-)Haus verwendet.


AS: 2019 waren Sie für eine Rekomposition zusammen mit Studierenden der Schweizer Architekturfakultäten der USI, EPFL und ETHZ für einige Tage auf der Alp Luzzone. Welche Erfahrungen haben Sie mit den Studierenden gemacht?


MP: Das war ein bewegendes Erlebnis. Bereits früher habe ich Rekompositionen mit Studierenden gemacht, diese war jedoch die grösste; insgesamt kamen 120 angehende Architektinnen und Architekten. Wir arbeiteten, assen und schliefen auf der Alp Luzzone. Eine Rekomposition ist für mich immer ein emotionaler Prozess, bereits, wenn ich alleine arbeite – in einer solch’ grossen Gruppe war es umso intensiver. Diese Art des Wiederaufbauens war auch für die jungen Leute eine bedeutungsvolle Erfahrung.

Vor Interventionen auf der Alpe di Giumello © Pino Brioschi

AS: Wie reagieren denn Einheimische, die Menschen vor Ort, auf Ihre Rekompositions-Projekte?


MP: Eine wichtige Frage. Meine erste Intervention habe ich tatsächlich einfach gemacht, ohne Einverständnis zu holen. Ich sah die Ruine – einen alten Stall in schlechtem Zustand, der wahrscheinlich schon lange nicht mehr aufgesucht wurde – und habe ihn wieder zusammengesetzt. Ich konnte nicht einschätzen, wie die Reaktion der Menschen vor Ort sein wird. Man berührt Erinnerungen von Personen, Familien, das ist eine empfindliche Angelegenheit. Tatsächlich haben die Eigentümer aber unglaublich positiv reagiert, sie haben es geschätzt, dass sich jemand um diesen zerfallenen Stall kümmert. Manchmal verbinden die Menschen vielleicht auch noch Erinnerungen aus der Kindheit mit diesen Bauten – Grosseltern, die da noch gelebt und gearbeitet haben. So ist auch ihr Gefühl oft ein gemischtes: Lokale oder Leute aus der Familie haben den Prozess des Verlassens und Auseinanderfallens der Gebäude oft mitbekommen. Die Tatsache, dass sich nun jemand darum kümmert und einen Abschluss, einen Punkt macht, bringt auch ihnen eine Art Frieden. Das hat mich darin bestärkt, weiterzumachen.


AS: Gibt es aktuelle Rekompositions-Projekte oder sind solche in Planung?


MP: Es gibt einige weitere Ruinen im Val Malvaglia und im Bleniotal, die mich interessieren – zurzeit sind jedoch keine konkreten Rekompositionen in Planung. Hierfür braucht es aber auch nicht viel Vorlaufzeit und Organisation: Man braucht das Einverständnis, geht dorthin und bewegt die Steine (lacht).

Während Rekompositions-Arbeiten auf der Alpe di Giumello © Martino Pedrozzi