Obergoms UR (© M. Volken)

Aletsch VS (© M. Volken)

Bellwald VS (© M. Volken)

Kooperieren, Adaptieren, Improvisieren – Herdenschutz als gemeinsamer Lernprozess

Wölfe verändern alpine Räume und führen zu Anpassungen in der Schafhaltung. Die Umsetzung von Herdenschutzmassnahmen stellt alle Beteiligten vor grosse Herausforderungen, kann aber auch zu Kooperation, Innovation und einem gemeinsamen Lernprozess führen.

Es ist Sommer. Mitte Juli. Die Alpsaison der Schafe hat vor gut einem Monat begonnen. Einem Höhenweg entlang wandern wir auf eine Alp im Wallis. Aus der Ferne sehen wir die Hütte des Schafhirten, unterhalb davon aus orangem Flexinetz einen Zaun auf der Alpwiese. Er dient als Nachtpferch, in den die Schafe abends getrieben werden. Seit Wölfe Mitte der 1990er Jahre wieder in die Schweiz eingewandert sind, ist vieles nicht mehr so, wie es vorher war. Es ist komplizierter. Komplizierter ist die Situation für die Schafhalter:innen, komplizierter auch das Verhältnis zwischen den Bergregionen und den urbanen Gebieten. Und es ist voller geworden: Nicht nur die Wölfe werden mehr, sondern auch die Hunde, die Zäune und die Hirt:innen. Diese neuen Akteur:innen hinterlassen ihre Spuren in der alpinen Landschaft. Rund 150 Wölfe und 15 Wolfsrudel leben aktuell in der Schweiz (Stand: Frühling 2022). Insbesondere in den letzten drei Jahren sind viele neue Rudel dazugekommen, und die Population hat rasch zugenommen. Die sich aufzwingende und vom Bund geförderte wie geforderte Strategie lautet: Herdenschutzmassnahmen ergreifen und ausbauen. Zu einer Alp, die sich dieser Herausforderung angenommen hat, sind wir an diesem Sommertag unterwegs.

Kooperation und unterschiedliche Formen von Wissen

Auf 2500 m.ü.M. hirtet ein junger Mann in diesem Alpsommer rund 500 Schafe. Während vier Monaten ist er für das Wohl der ihm anvertrauten Tiere zuständig. Diese stammen von Schafhalter:innen aus mehreren Gemeinden der Gegend. Da die Wildhut im Herbst zuvor erstmals Wölfe im Gebiet nachweisen konnte, beschlossen die Schafhalter:innen, dass es an der Zeit sei, auf der Alp Herdenschutzmassnahmen umzusetzen. Der Prozess hin zu einem kompletten und effektiven Herdenschutz ist jedoch lang, aufwendig und verläuft selten nach Lehrbuch, bedingt er doch eine Umstrukturierung der bisher gewohnten Sömmerungspraktiken – nicht nur für die Menschen, sondern auch für die Schafe, die sich ebenso umgewöhnen müssen. Möglich ist dies nur durch die Kooperation aller Beteiligten: von der Schafhaltung, dem Hirtenpersonal und der Wildhut über die Herdenschutzberatung, die kantonale Landwirtschaftsbehörde und die Gemeinde bis hin zum Tourismusverband und der lokalen Jägerschaft. Sie alle arbeiten trotz nicht immer vollständig gleicher Meinung zusammen und bringen wertvolles Wissen und Erfahrungen mit. Dabei versuchen sie, diese sehr unterschiedlichen Formen von Wissen – aus der Akademie, aber auch lokales Erfahrungswissen – zu nutzen und gegenseitig voneinander zu lernen.

Innovation und Kreativität

Nach der Begrüssung des Hirten, wir nennen ihn Hugo, laufen wir das letzte Stück zu seiner Hütte. Diese ist, entgegen der Erwartung, kein festes Gebäude, sondern eine mobile Installation. Durch ihr geringes Gewicht von knapp 900 Kilogramm kann die Hirtenhütte mit dem Helikopter transportiert und an verschiedenen Standorten eingesetzt werden. Sie ermöglicht es Hugo, in unmittelbarer Nähe zu den Schafen zu übernachten und sie so bestmöglich zu beschützen, ohne auf eine Unterkunft verzichten zu müssen. Entwickelt wurde das innovative Konzept von Holztechnik-Studierenden der Berner Fachhochschule in Zusammenarbeit mit den Naturschutzverbänden Pro Natura und WWF, der landwirtschaftlichen Beratungszentrale der Kantone «Agridea» und dem Schweizerischen Schafzuchtverband. Die Hütte ist eine kreative Antwort auf die Problematik, dass vielerorts in den Schweizer Alpen die entsprechende Infrastruktur fehlt, um Herden zu behirten. Von Erfindergeist und gelungenem Einsatz neuer Technologien zeugt auch die App, die Hugo uns bei einer Trinkpause vor seiner Hütte zeigt: Einige Schafe tragen anstelle einer Glocke ein Senderhalsband. Etwa alle 15 Minuten sendet dieses die Position des Schafes an Hugos Smartphone.

Geteilte Verantwortung und die Bereitschaft aller zum Lernen

Nun machen wir uns auf den Weg zur Herde. Nach den Schafen Ausschau haltend, gelangen wir zu einem vertikal verlaufenden Zaun und einem eisernen Tor, das geschlossen ist. Es soll die Schafe daran hindern, über den Höhenweg auf die Nachbaralp zu gelangen. Der Höhenweg, der drei Alpen miteinander verbindet, ist beliebt bei Tourist:innen. Jeden Tag kommt es vor, dass das Tor von Wander:innen nicht mehr geschlossen wird. Schafe, die früher, vor der Zusammenlegung zur Herde, auf die Nachbaralp getrieben wurden, nutzen diese Gelegenheit, um auf ihr gewohntes Weidegebiet abzuwandern. Beim Tor wird uns klar, dass sehr viel mehr Menschen in der Verantwortung stehen für einen funktionierenden Herdenschutz als nur die Hirt:innen und Alpbetreiber:innen. Auch die Wandertourist:innen müssen ihren Beitrag leisten und Neues dazulernen, damit die Aufrechterhaltung von Sömmerungspraktiken auch bei der Anwesenheit von Wölfen möglich ist. Das trifft nicht nur auf das Schliessen des Tors, sondern auch auf das Verhalten gegenüber den Herdenschutzhunden zu. Diese haben uns mittlerweile bemerkt und machen dies mit lautem Gebell deutlich. Wir bleiben stehen und lassen ihnen Zeit, sich ein Bild zu machen, wer da in «ihre» Herde eingedrungen ist.

Lokale Begebenheiten und individuelle Lösungen

Schliesslich treffen wir auf eine erste kleine Gruppe Schafe, die unterhalb des Höhenweges grast. Hugo erklärt, dass die Schafe der einzelnen Besitzer:innen in der Regel in ihren eigenen Verbänden zusammenbleiben und sich diese verschiedenen Grüppchen über das ganze Alpgebiet verteilen. Das Hüten der Schafe ist dadurch mit einem enormen Arbeitsaufwand verbunden. Die von den Leitschafen getragenen Senderhalsbänder sind darum eine grosse Hilfe und verschaffen Hugo zumindest einen guten Überblick, insbesondere, wenn sich Schafe noch nicht als einheitliche Herde bewegen und erst zusammengeführt werden müssen. Da Hugo als Hirt über die Sömmerungsbeiträge bezahlt wird, reichen 500 Schafe lediglich für eine Hirtenstelle aus. Es wäre hilfreich, eine zweite Person anzustellen, um die Umstrukturierungsmassnahmen zu bewältigen. Die Rassenspezifik der Schafe erhöht den Arbeitsaufwand für den Hirten zusätzlich, da Hugo eine äusserst flinke, berggängige, aber auch scheue Sorte von Schafen hirtet. Zudem erschwert die Topografie – es ist ein steiniges, steiles und weitläufiges Gebiet – die Umsetzung von Herdenschutzmassnahmen, wie etwa die Installation des Nachtpferchs oder den Einsatz von Herdenschutzhunden. Solche lokalen Begebenheiten verlangen nach Raum für individuelle Lösungen, die nicht immer den offiziellen Ideallösungen entsprechen. Alternative, durch Bund oder Kantone unterstützte Finanzierungsmodelle, etwa für die Anstellung von mehr Hirtenpersonal oder für innovative Herdenschutzprojekte, könnten dies erleichtern.

Geteilte Räume als Lerngemeinschaft gestalten

Die Rückkehr der Wölfe verändert die alpine Landschaft der Schweiz. Sie erhöht das Bewusstsein, dass sich unsere Umwelt in einem steten Wandel befindet und Landschaften von Nutztieren, Wildtieren und Menschen gemeinsam gestaltet werden. Der vordergründig plausible Befund des Nutzungskonflikts greift dabei schnell zu kurz und ist wenig zielführend. Allzu rasch führt er zur trennenden Unterteilung in «Schützer:innen» (Umweltschutz) und «Nutzer:innen» (Berglandwirtschaft, Tourismus). Dabei geht es viel eher darum, die geteilten alpinen Räume als komplexes multispezifisches Beziehungsgeflecht und die anstehenden Veränderungen als gemeinsamen Lernprozess zu verstehen. Genau diesen müssen wir als Lerngemeinschaft angehen und unter Beteiligung aller, auch ohne vollständigen Konsens, Bereitschaft zum Kooperieren und gegenseitigen Lernen und Lehren zeigen. Als eine Lerngemeinschaft, die sich verschiedene Formen von Wissen sowie Innovation und Kreativität zu Nutze macht und in der es Möglichkeiten gibt, auf lokale Begebenheiten einzugehen und individuelle Lösungen zu realisieren.

Seit Jahrhunderten wird Herdenschutz in verschiedenen Gegenden Europas betrieben, in denen Grossraubtiere niemals ganz verschwunden waren (Italien, Balkan, Osteuropa, Türkei). Dieses Wissen wird nun auch in der Schweiz und in anderen Ländern Mitteleuropas, in denen sich Wölfe ausbreiten, wieder aufgegriffen. Herdenschutzpraktiken müssen hier jedoch an historisch gewachsene und lokalspezifische Bedingungen angepasst werden. Herdenschutz wird daher stetig weiterentwickelt.


Die (alpine) Landwirtschaft, insbesondere die Schafhaltung, die Jägerschaft, die Wildhut, der Umweltschutz, der Tourismus, die Wissenschaft, Ingenieure und Entwickler:innen – alle müssen miteinander kooperieren.


In den letzten Jahrzehnten haben sich die interdisziplinären Forschungsströmungen der human animal studies,multispecies ethnography und more-than-human anthropology entwickelt, die aktuell auch in der Sozial- und Kulturanthropologie diskutiert werden. Dabei geht es im Gegensatz zu früheren Ansätzen, welche das Mensch-Tier-Verhältnis primär als unidirektionale Domestikations- oder Dominationsbeziehung sahen, um eine relationale Anthropologie, welche wechselseitige, netzwerkartige, interspezifische Beziehungen zwischen unterschiedlich gearteten Akteur:innen zum Gegenstand ihrer Untersuchungen macht. Auf diese Weise können auch die alpinen Landschaften, die durch die Wolfspräsenz verändert werden, neu gedacht werden.

In vielen anderen Regionen Europas, in denen Herdenschutz betrieben wird, kommt es zu weniger Begegnungen und Konflikten mit der lokalen Bevölkerung und mit dem Tourismus als dies in den Alpen der Fall ist. Im dicht besiedelten und auch touristisch stark genutzten Alpenraum stösst Herdenschutz auf neue, vielfältige Herausforderungen. Hier müssen kreative Lösungen entwickelt werden, die den komplexen Nutzungskonflikten und gleichzeitig den lokalen Begebenheiten gerecht werden. Von solchen innovativen Lösungen können wiederum auch andere Regionen profitieren.


Involvierte Organisationen und Institutionen:

Agridea

Alptracker AG

Bundesamt für Umwelt BAFU (2016): Konzept Wolf Schweiz. Vollzugshilfe des BAFU zum Wolfsmanagement in der Schweiz. Bern.

Bundesamt für Umwelt BAFU (2019): Vollzugshilfe Herdenschutz. Vollzugshilfe zur Organisation und Förderung des Herdenschutzes sowie zur Zucht, Ausbildung und zum Einsatz von offiziellen Herdenschutzhunden. Bern.

Herdenschutz Schweiz

Pasturs Voluntaris

Schweizerischer Schafzuchtverband

Verein Herdenschutzhunde Schweiz

Arnold, Irina (2021): Wissen, lernen, anders machen. Die Rückkehr der Wölfe als Lernprozess. In: Hamburger Journal für Kulturanthropologie 13, 317–327.

Haraway, Donna (2002): The Companion Species Manifesto: Dogs, People, and Significant Others. Chicago

Heinzer, Nikolaus (erscheint 2022): Wolfsmanagement in der Schweiz. Eine Ethnografie bewegter Mensch-Umwelt-Relationen. Zürich.

Tsing, Anna (2012): Unruly Edges: Mushrooms as Companion Species. In: Environmental Humanities 1, 141–154.

Zangger, Ariane (2018): Von Wölfen, Schafen und Menschen. Konflikt, Partizipation und institutioneller Wandel im Umgang mit Grossraubtieren (Masterarbeit). Bern.