Alpine Landwirtschaft: Am Rand der Digitalisierung?
Unser Alltag ist mit digitaler Technik durchdrungen – das gilt auch für den Bauernhof im Alpenraum. In der historischen Forschung stehen vor allem Städte im Fokus, wenn die Digitalisierung diskutiert wird. Dabei sind ländliche Gebiete ebenso stark betroffen und besonders bäuerliche Kleinbetriebe gefordert.
Der Computer, in seiner uns im Alltag geläufigen Form, kommt aus dem kalifornischen «Silicon Valley». Es heisst, von dort seien andere Weltregionen digital entwickelt worden. Die Verbreitung des Computers verlief aber nicht gradlinig, sondern führte zu Ungleichzeitigkeiten. Digitale Technik war lange sehr teuer und stand bis ca. 1980 fast nur Regierungen, Universitäten und grossen Firmen zur Verfügung.
Brüche in der Verbreitung der Computernutzung bis in den Alltag der meisten Menschen hinein werden als «Digital Divide» bezeichnet. Sie drücken sich geographisch aus, aber auch nach Einkommensklassen und Generationen. Kinder beispielsweise werden seit Jahren in die Welt von «Social Media» hineingeboren. Nicht umsonst entstand für die Jahrgänge ab 1995 der Begriff «Digital Natives» – während ältere Menschen im neuen virtuellen Raum eher als «Zugezogene» erscheinen. Dabei ist zwischen der technischen Verfügbarkeit von Rechenmaschinen, den Fähigkeiten im Umgang mit ihnen und der Motivation zur Nutzung eines Computers zu unterscheiden. In allen diesen Hinsichten gibt es Spannungen zwischen Zentren und Rändern der Digitalisierung. Mehr noch: Zu den neueren Ansätzen der Digitalgeschichte gehört eine regionalgeschichtliche Perspektive auf die digitale Transformation und der Blick darauf, wie Digitalität gesellschaftlich hergestellt wurde. Zwischen verschiedenen Regionen, Ländern und Gebieten zeigen sich gleichzeitige, doch andersartige Digitalisierungen, mit anderen Treibern und Motiven. Das gilt auch für die Alpenregion.
Computer: Wofür soll man ihn brauchen?
Die Digitalisierung des Alpenraums basiert auf der Verfügbarkeit von Strom und Telekommunikation. Im Gegensatz zu vielen Regionen Europas ist der Agrarsektor in der Schweiz bis heute immer noch stark von Kleinbetrieben geprägt, die nur über beschränktes Investitionskapital verfügen. Die finanziellen Herausforderungen spielen bei der Implementierung neuer Technologien eine wichtige Rolle. Die Elektrizität kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Land. Ein früher Anschluss wurde zum Beispiel 1902 in Kerns (OW) installiert. Noch in den 1960er-Jahren wehrten sich aber dortige Bauernbetriebe dagegen, an das Stromnetz angeschlossen zu werden. Sie wussten nicht, ob sie Ende Monat genug Bargeld erwirtschaftet haben würden, um die Rechnung zu zahlen. Beim Telefon war es ähnlich. Mit dem Komplex aus Rechnern und elektronischer Datenverarbeitung treffen nun wieder fundamentale Neuerungen auf verschiedene Gesellschafts- und Arbeitsbereiche; auch auf die alpine Landwirtschaft.
Der Computerhistoriker Gleb J. Albert hat 2019 festgehalten: Als der Computer «erstmals als Massenkonsumgut in Erscheinung trat, gab es nur ganz vage Vorstellungen davon, welche Rolle er im Alltag einnehmen und welchen konkreten Nutzen er bringen sollte». Er löste im Gegensatz zu anderen Kommunikationsmaschinen kein bestehendes Problem, so wie es die Telegrafie, der Funk, das Telefon und das Fernsehen bezüglich der Fernübertragung von Sprache, Ton und Bild getan hatten. Stattdessen lassen sich die damaligen und heutigen Rechner just durch ihre freie Programmierbarkeit als Multifunktionsgeräte definieren.
Schon in den späten 1960er-Jahren war die Schweiz in Sachen Computerdichte in Europa führend. Das Aufkommen von Mikrocomputern – darunter zählen etwa Home- und Personal Computer – geschah dann mit grossem Tempo. Ende 1984 liessen sich, je nach Quelle, hierzulande etwa 72‘000 Computer zählen, im Jahr 1990 bereits über 800‘000. Und 2002 waren über 5 Millionen Personal Computer im Einsatz, davon 1,8 Millionen als feste Installationen im Privatgebrauch. Das ist erstaunlich für ein Produkt, für das vor seiner Ankunft keine Nachfrage bestand. Mit der flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung mit digitalen Endgeräten und mit deren Vernetzung hat das Verhältnis von Einzelpersonen zum Staat einen neuen Charakter angenommen und die Führung von Kleinbetrieben änderte sich gerade in subventionierten Branchen wie der Landwirtschaft.
Widerstände und Neugier in der Landwirtschaft
Laut einem Gespräch mit Vertretenden der Bauernverbands-Sektion Unterwalden-Obwalden-Uri (das im Januar 2020 in Alpnach Dorf stattfand) war beim Aufkommen des Computers der «Vater Staat» ein grosses Thema. «Wir sind keine freien Bauern mehr» sei in den frühen 1980er-Jahren gesagt worden, sondern durch digitale Technik kontrollierte Angestellte der Landesregierung. Vorbehalte gegenüber Computern beschränkten sich jedoch keinesfalls auf die Landwirtschaft: Medien und der Gewerkschaftsbund problematisierten dazumal die neuen Überwachungsmöglichkeiten durch Terminals, die am Fliessband unter anderem das Arbeitstempo, den Arbeitsrhythmus sowie kurzfristige Abwesenheiten registrieren konnten. Das fördere den Leistungsstress und schaffe ein neues Machtgefüge. Doch nicht nur Widerstände dominierten den Diskurs. In der «Innerschweizer Bauernzeitung» (IBZ) wurde ab 1980 vermehrt über den Computer berichtet, etwa anlässlich von Vortragsreihen zu «Elektronik und Computer in der Landwirtschaft». Die Artikel benannten zwar Bedenken bezüglich der Wirtschaftlichkeit digitaler Investitionen, betonten zugleich aber auch die Vielfalt der Anwendungsbereiche etwa in der betrieblichen Buchhaltung, der Berechnung von Futterplänen, der Düngerdosierung und der Zuchtwahl.
Der Computer erreichte die Schweizer Landwirtschaft zunächst über die «fédération nationale des coopératives agricoles» (FENACO). 1983 stand in der Landi Obwalden erstmals ein Computer zur Auftragsbearbeitung und zur Verwaltung der Debitoren. Ab den 1980er-Jahren wurden Endgeräte auch zum Kauf angeboten, während der Bund (damals PTT) zeitgleich die Kapazität des Netzwerks ausbaute. Parallel dazu reformierten die landwirtschaftlichen Bildungszentren ihr Studienangebot. Seit 1989 ist das Tastaturschreiben in den Ausbildungsgängen Pflicht. Und es wurden Kurse in «Informatik» aufgebaut.
Doch folgte zwischenzeitlich eine Ernüchterung: Im Jahre 1985 schrieb die IBZ, die Hardware werde zwar immer erschwinglicher, eine neue Software sei aber rar und teuer. Der Internet-Vorläufer «Videotex» blieb hinter den Erwartungen zurück. Auch eine Sonderschau «Computer im Stall», die 1987 an der Messe Luzern (LUGA) von der Firma Agrotronic AG Sursee organisiert wurde, konnte das Interesse nicht wieder entfachen. Die Verbreitung des Computers nahm erst ab 1990 wieder zu, als der «Rinderwahnsinn» (BSE) die Schweizer Kuhställe erreichte. Seither sind alle Landwirtschaftsbetriebe in der Schweiz einer digitalen Kontrolle durch die Tierverkehrsdatenbank unterstellt. Der Bund beauftragte die Firma «Identitas», systematisch Daten über die Geburt, den Aufenthalt und das Ableben aller Rinder zu sammeln. Daten über weitere Tiere kamen hinzu. Bäuerliche Betriebe im Berggebiet mussten neu den Normalstoss jeder Kuh auf der Alp fein säuberlich in ein elektronisches Formular eingeben. Seit 1998 gilt die Buchhaltungspflicht auf allen staatlich subventionierten Landwirtschaftsbetrieben. Neue private EDV-Beratungsfirmen entstanden auch spezialisiert auf die Agrarbranche.
Digitalisierung bedeutet in diesem Zusammenhang vor allem betriebliche Effizienz, gesteigerte Staatsnähe und Entfernung vom Kerngeschäft. Ein Bauernberater hält rückblickend fest: «Eben, es ist schon eine ganz andere Welt wie da das Arbeiten. Man ist Bauer geworden, weil man gerne draussen arbeitet, weil man gerne mit Tieren arbeitet. Und nicht, weil man immer gerne so macht [tippende Geste]».
Automatisierte Abläufe im Alltag
Grosse technische Systeme haben im Alltagsleben an der alpinen Peripherie schon lange eine wichtige Rolle gespielt, etwa durch den Eisenbahn- und Strassenbau sowie die Nutzung der Wasserkraft. Mit dem Computer und mit digital gesteuerten Geräten wie Haushaltsmaschinen, Traktoren, Seilbahnen und Helikoptern kam, durch Computerchips und -systeme überwacht und gesteuert, eine neue Dimension der Automatisierung auf die Höfe. Vor diesem Hintergrund zeigt sich: Der Rand der Digitalisierung ist auch ein Zentrum. Einzelne Innerschweizer Betriebe fanden in den letzten Jahren genug Investitionskapital, um das Füttern und das Melken des Viehs voll zu automatisieren. Ebenso gibt es funktionierende Anwendungen in der Tierzucht und durch Satellitendaten gestützt als «Precision-» oder «Smart Farming» im Ackerbau.
Der ländliche Alltag steht durchaus nicht am Rand der Digitalisierung. Politische und ökonomische Zwänge haben zu innovativen Lösungen geführt und tun es nach wie vor. Bereits 1990 berichtete die IBZ fast euphorisch, der vernetzte Computer schaffe neue Möglichkeiten der «Telearbeit.» Die Corona-Pandemie hat eben jene Heimarbeit wieder zum Thema gemacht, die für Bauernbetriebe schon seit Jahrhunderten eine wichtige Einkommensergänzung war. Seit einigen Jahren fördern die «Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete» und das SECO sogenannte «Smart Villages», um der Abwanderung aus peripheren Gebieten des Alpenraums entgegenzuwirken. Zentral ist dabei der Ausbau der digitalen Infrastruktur, insbesondere der Glasfaserleitungen. Gemeinden, die den Smart-Village-Ansatz bereits umgesetzt hatten, konnten davon nicht zuletzt während der Corona-Krise profitieren, berichtete der «Schweizer Bauer» Ende 2020.
Das zeigt sich auch heute: Bauernbetriebe bieten etwa Coworking-Spaces an – so kann man in Laax (GR) mit wunderbarer Aussicht und etwas Feriengefühl auf 2252 Meter über Meer arbeiten. Mittlerweile ist es eben nicht mehr so, dass von einem vermeintlichen Zentrum («Silicon Valley») die Zukunft ausgeht – sie wird vielmehr im Alltag generiert. Das gilt auch für den Alpenraum.