Bristen UR (© M. Volken)

Silenen UR (© M. Volken)

Amsteg UR (© M. Volken)

Isenthal UR (© M. Volken)

Monte TI (© M. Volken)

«Gutes Altern im Urner Berggebiet»: Eine architektonische Perspektive auf Begegnungsorte – INTERVIEW MIT…

Öffentliche Räume ermöglichen Begegnungen im Alltag und beeinflussen unsere Gesundheit, auch im höheren Alter. Das Projekt «Gutes Altern im Urner Berggebiet» wirft auch eine architektonische Perspektive auf das Älterwerden in den Dörfern Amsteg, Bristen, Silenen und Isenthal. Und fragt: Was brauchen lebendige Begegnungsorte?

Ein Gespräch mit den Architekturschaffenden Rina Rolli und Tiziano Schürch. Von Aline Stadler.

Rina Rolli und Tiziano Schürch, Sie haben die architektonische Gestaltung der vier genannten Urner Bergdörfer im Hinblick auf das Älterwerden untersucht. Zuerst einmal: Wie hängt die Architektur öffentlicher Räume mit gesundem Altern zusammen?

 

Der öffentliche Raum in Bergregionen wie dem Kanton Uri ist weit mehr als nur eine physische Umgebung – er bildet das soziale und kulturelle Gefüge einer Gemeinschaft. Als Orte der Begegnung, des Austauschs und der Teilhabe fördern diese Räume das Gemeinschaftsleben und sind für ältere Menschen von besonderer Bedeutung, da sie Mobilität und Lebensqualität positiv beeinflussen. Gerade für jene, deren Bewegungsradius zunehmend eingeschränkt ist, sind gut gestaltete, barrierefreie Räume mit klaren Wegführungen, geschützten Bereichen und durchdachter Materialwahl essenziell, um ein aktives und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

 

Neben der physischen Gestaltung prägt auch die soziale Dimension die Qualität öffentlicher Räume: Spontane Begegnungen, sei es ein flüchtiger Blickkontakt oder ein Gespräch auf einer Bank, tragen dazu bei, dass diese Orte als lebendig und integrativ wahrgenommen werden. Ebenso entscheidend sind Zielorte wie Dorfläden, Restaurants oder Kulturtreffpunkte, die einen Anreiz bieten, das Haus zu verlassen und öffentliche Räume aktiv zu nutzen. Nicht zuletzt sind öffentliche Räume auch Träger kollektiver Geschichte und Identität. Besonders in historischen Bergregionen bewahren sie mit traditionellen Elementen wie Brunnen oder Viehhandelsplätzen das kulturelle Erbe und müssen kontinuierlich gepflegt werden, um Raum für neue Schichten des Zusammenlebens zu schaffen, ohne die bereits vorhandenen Schichten der Geschichte zu überschreiben.

Welche Begegnungsorte haben Sie in den untersuchten Dörfern Amsteg, Bristen, Silenen und Isenthal ausfindig gemacht? Gibt es jeweils einen Dorfkern, oder gar mehrere?

 

Die Dörfer Silenen, Amsteg, Bristen und Isenthal liegen geografisch nah beieinander, weisen aber deutliche Unterschiede in ihrer Siedlungsstruktur, sozialen Organisation und Infrastruktur auf. Während alle entlang ihrer Hauptstrassen gewachsen sind, variieren ihre Dorfkerne und -zentren erheblich, was die alltägliche Nutzung des öffentlichen Raums und die soziale Interaktion beeinflusst.

 

Silenen ist ein langgezogenes, polyzentrisches Dorf mit verstreuten Treffpunkten und einer zunehmenden Tendenz zur Azentralität, während Amsteg eine kompakte Struktur mit einem klaren sozialen Zentrum aufweist. Bristen hat sich zu einem bizentrischen Dorf entwickelt, da neben dem traditionellen Kern ein touristischer Schwerpunkt um die Seilbahnstation entstanden ist, während Isenthal, trotz seiner dezentralen Struktur, ein klar definiertes Zentrum um den Schulhof besitzt.

 

Die Analyse dieser Dorftypen verdeutlicht, dass die Verteilung von Infrastrukturen und die Existenz identifizierbarer Treffpunkte wie Dorfläden und Bäckereien oder Restaurants massgeblich dazu beitragen, ob ein Dorf als zusammenhängend oder fragmentiert wahrgenommen wird. Dabei kommt dem öffentlichen Verkehr eine doppelte Funktion zu – er gewährleistet nicht nur Mobilität, sondern schafft mit seinen Infrastrukturen, etwa Buswartehäuschen oder Tal- und Bergstationen, zugleich soziale Begegnungsräume. Indem diese Unterschiede betrachtet werden, lassen sich nicht nur die jeweiligen Herausforderungen und Potenziale der Dörfer erfassen, sondern auch Vergleiche mit anderen alpinen Siedlungsstrukturen anstellen.

Das Projekt in Uri ist inspiriert von dem Ursprungsprojekt im Tessiner Dorf Monte: Hier haben Sie als StudioSer architektonische Interventionen vorgenommen, die älteren Menschen zugutekommen. Wie sehen diese konkret aus?

 

Im Fall von Monte, einem kleinen Dorf im Tessiner Muggio-Tal, wurde die Instandhaltung der öffentlichen Räume als Gelegenheit genutzt, gezielt auf die Bedürfnisse einer zunehmend alternden Bevölkerung einzugehen. Dabei ging es nicht nur darum, bestehende Strukturen zu erhalten oder zu erneuern, sondern vor allem darum, die räumlichen Gegebenheiten des Dorfs im Kontext der sozialen Dynamiken und historischen Spuren neu zu betrachten.

 

Eine eingehende Analyse der verschiedenen Schichten des Bestands ermöglichte es, sowohl die physischen Eigenheiten des öffentlichen Raums als auch die noch spürbaren historischen und sozialen Prägungen zu erfassen. Durch diesen prozesshaften Zugang konnten sieben Orte identifiziert werden, die bereits über ein inhärentes Potenzial verfügten und durch gezielte, minimale Eingriffe so angepasst wurden, dass sie besser auf die alltäglichen Bedürfnisse der Bewohner reagieren. 

Diese Eingriffe umfassen sowohl die behutsame Aufwertung historischer Begegnungsorte als auch die gezielte Platzierung neuer Sitzgelegenheiten an besonders frequentierten Orten. Zudem wurden Handläufe in den engen und steilen Gassen des Dorfes installiert, die nicht nur Sicherheit und Halt bieten, sondern gleichzeitig als spielerische Murmelbahnen für Kinder genutzt werden können. Allen Massnahmen ist gemein, dass sie durch ihre Multifunktionalität verschiedene Generationen und Bevölkerungsgruppen ansprechen und damit neue Zielorte schaffen, die die Wahrscheinlichkeit spontaner Begegnungen im Dorf erhöhen.

Wie war das Echo auf diese architektonischen Interventionen vonseiten Bevölkerung?

 

Durch die Feinfühligkeit der architektonischen Eingriffe hat die Bevölkerung die Eingriffe nicht als bedrohende Veränderungen ihres Lebensumfelds wahrgenommen, sondern als neue, kleine Möglichkeiten zur Verbesserung des täglichen Lebens. Besonders der neugestaltete Dorfladen mit seiner Kaffeeecke wurde weitgehend gelobt und ist zu einem beliebten Treffpunkt geworden.

 

Darüber hinaus hat sich eine neue Wertschätzung für Orte entwickelt, die einst wichtige Treffpunkte waren, aber lange in Vergessenheit geraten sind. Diese Orte werden heute wiederentdeckt und die Bevölkerung nimmt sie wieder als ihre wahr. Besonders hervorzuheben sind die Spielmöglichkeiten, die nicht nur einheimische Kinder, sondern auch Familien von ausserhalb in den Dorfkern zurückführen und das Dorf wieder lebendiger machen.

Analog zu Monte haben Sie nun auch für die vier Urner Bergdörfer, aufbauend auf Ihrer architektonischen Auswertung, einzelne Interventionen entworfen. Mögen Sie Beispiele nennen?

 

Die Gespräche mit den Bewohner:innen der Urner Bergdörfer führten zu Überlegungen, wie gezielt kleine Eingriffe im öffentlichen Raum grössere Veränderungen im Alltag der Dorfgemeinschaften bewirken können. Dabei ist es entscheidend, die spezifische Typologie jedes Dorfes und seine gewachsene Siedlungsstruktur zu erkennen und zu stärken. Bestehende Zentralitäten sollten dabei nicht geschwächt, sondern gezielt unterstützt und nur punktuell durch neue Zielorte ergänzt werden. Für jedes Dorf haben wir bei den Interventionsvorschlägen die spezifischen Charakteristiken, Probleme und Potenziale berücksichtigt. In Silenen, einem dezentralisierten Dorf, haben wir statt der Schaffung eines zentralen Ortes die Stärkung bestehender Knotenpunkte sowie die Schaffung neuer Treffpunkte im öffentlichen Raum vorgeschlagen. Ein Beispiel ist die Erweiterung des Aussenbereichs der Bäckerei im Quartier Dägerlohn, um ihre Multifunktionalität zu fördern. In Quartieren ohne klaren Gravitationspunkt können kleine Treffpunkte das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken.

 

In Amsteg wird eine starke Identität und ein lebendiges Dorfleben angestrebt, obwohl das Dorf durch die Industrialisierung und den Bevölkerungswandel vor Herausforderungen steht. Ein zentrales Element ist die Bäckerei, die als multifunktionaler Treffpunkt dient. Um die soziale Bedeutung zu stärken, sollte der Aussenbereich der Bäckerei erweitert werden, um den Dorfplatz und die Kirche besser zu verbinden und das Dorfzentrum zu revitalisieren. Historische Spuren wie die Industriekultur sollen in einem Industrieweg erfahrbar gemacht werden, um das Dorf stärker mit seiner Geschichte zu verbinden.

In Bristen wird der Dorfladen als zentraler Treffpunkt wahrgenommen, besonders nach der Schliessung jeglicher Restaurants im Dorfkern. Eine Intervention zur Verbesserung des Aufenthaltsbereichs im und rund um den Dorfladen könnte die soziale Bedeutung weiter steigern. Der Tourismus spielt eine wichtige Rolle, doch der Nutzen für die Dorfbewohner:innen könnte durch Verkaufsstände an Bushaltestellen, die lokale Produkte anbieten, gesteigert werden.

 

Isenthal ist aufgrund seiner geographischen Lage und isolierten Struktur auf die bestehende Infrastruktur angewiesen. Der Dorfladen nimmt eine zentrale Rolle im sozialen Leben der Gemeinschaft ein. Um das touristische Potenzial besser zu nutzen, sollen gezielte Massnahmen getroffen werden, die sowohl den Erhalt der Infrastruktur als auch eine wirtschaftliche Wertschöpfung durch den Tourismus fördern.

Wie geht es nun weiter mit dem Projekt und diesen gestalterischen Ideen?

 

Die aus der Studie und der architektonischen Analyse gewonnenen Erkenntnisse werden den beiden Gemeinden sowie dem Kanton vorgestellt, um das Potenzial ihrer öffentlichen Räume sichtbar zu machen. Dabei ist es entscheidend zu verdeutlichen, dass gesamtterritoriale Visionen für eine gezielte und nachhaltige Entwicklung von Vorteil sind. Solche Visionen setzen sich aus einer Vielzahl kleinerer und grösserer Eingriffe zusammen, die nicht nur bestehende Potenziale aufzeigen, sondern auch den gemeinschaftlichen Zusammenhalt stärken. Erfahrungen aus anderen Alpenregionen zeigen, dass selbst kleinste Eingriffe einen bedeutenden Beitrag zur Belebung des öffentlichen Raums leisten und die soziale Kohäsion nachhaltig stärken können.

 

Trotz ihrer geringen Grösse bieten diese Dörfer Raum für nachhaltige und zukunftsorientierte Entwicklungskonzepte. Jedes Dorf sollte eine langfristige Strategie für die Gestaltung des öffentlichen Raums erarbeiten, um bei künftigen Entscheidungen eine klare Orientierung zu haben. Dabei gilt es, nicht nur kurzfristige Bedürfnisse zu berücksichtigen, sondern auch langfristige Perspektiven zu entwickeln, die insbesondere zur Stärkung zentraler Begegnungsorte beitragen.

Rina Rolli und Tiziano Schürch, herzlichen Dank für diesen Einblick!

StudioSer vereint seit 2019 die Ideen von Rina Rolli und Tiziano Schürch in Projekten, die sich von der Nord- bis zur Südseite der Alpen erstrecken. Mit Sitz in Zürich und Lugano erforschen sie in ihrer Arbeit die Möglichkeiten von Architektur, die als eine Sache der Begegnung konzipiert ist. 

Ob es sich dabei um Begegnungen von Materialien, Zeit oder Menschen handelt, im Zentrum ihrer Untersuchungen steht immer das Bestreben, das Wesen und die Einzigartigkeit eines Ortes, seiner Gemeinschaft und seiner Geschichte zu enthüllen und zu stärken. 

«Gutes Altern im Urner Berggebiet» ist ein Projekt der Gesundheitsförderung Uri in Zusammenarbeit mit dem Institut Kulturen der Alpen. Es untersucht mittels Oral-History-Interviews die Geschichte sowie die Bedürfnisse älterer Menschen in den vier Dörfern Amsteg, Bristen, Silenen und Isenthal. 

Projektleiterin Eveline Lüönd und Historikerin Rahel Wunderli geben in einem Interview auf Syntopia Alpina einen Einblick in das Gesamtprojekt.