Alpine Gemeingüter: Wie steht es um Kundennahe Dienstleistungen in Berggemeinden?
Postfilialen, Schulen oder Cafés: Dienstleistungen in Berggemeinden wurden die letzten Jahrzehnte vernachlässigt und abgebaut. Dabei spielen sie für die Einwohner:innen eine wesentliche Rolle bei der Entscheidung, ob man bleibt oder wegzieht. Wie können Kundennahe Dienstleistungen und die «neuen Gemeingüter» in den Alpen gestärkt werden?
Mit den «neuen Gemeingütern» sind Initiativen gemeint, die von Kollektiven geleitet werden, von Vereinen oder anderweitigen Gruppierungen, welche mit mehr oder weniger formalisierten internen Strukturen und Regeln ausgestattet sind. Ihre Aktivitäten drehen sich um Ressourcen, die Dienstleistungen im tertiären Sektor produzieren. Dabei handelt es sich beispielsweise um selbstverwaltete Aktivitäten wie Kinderkrippen, Dorfläden, Mikro-Skistationen, Kultur- und Begegnungsräume oder Initiativen zur Erhaltung und Förderung des baulichen Erbes.
Kundennahe Dienstleistungen als neue Gemeingüter zu betrachten, ist nicht neu. Die Perspektive jedoch ist eine andere, insofern lokale Dienstleistungen in peripheren Gemeinden nach einer langen Periode der stillschweigenden Vernachlässigung, die in den 1980er Jahren begann, als wesentliche Bestandteile des Lebens in den Bergen neu kontextualisiert und konzeptualisiert werden. Doch was genau verstehen wir unter Kundennahen Dienstleistungen («community services»)? In der Fachliteratur findet sich keine klare Begriffsdefinition. Und es gibt auch keine statistische Kategorie, mit der sich das Ausmass in einem bestimmten Gebiet messen liesse. Man könnte in Erwägung ziehen, den Begriff ‘persönliche Dienstleistungen’ zu verwenden, der uns bessere und vor allem auch vergleichbarere statistische Daten liefern würde. Aber diese Kategorie ist unvollständig, weil sie das Konzept der lokalen Gemeinschaft nicht miteinschliesst. Darum ist viel eher mit der Nähe zu argumentieren, wie es im italienischen «servizi di prossimità» gemacht wird, oder mit der Begriffsbildung der ‘Kundennahen Dienstleistungen’.
Kundennahe Dienstleistungen
Der Begriff der ‘Kundennahen Dienstleistungen’, in der deutschsprachigen Umschreibung der «nachbarschafts- oder gemeinschaftsbezogenen Dienstleistungen», bezieht sich auf drei Dimensionen: die geografische, die relationale und die habituelle. Die geografische Dimension definiert Gemeinschaft innerhalb eines zeitlich-räumlichen Rahmens und weist auf eine gewisse Leichtigkeit der Bewegung von der Position des Dienstleistungsanbieters zu der des Kunden oder Bürgerin und umgekehrt hin. Die relationale Dimension betrachtet Gemeinschaft als Interaktion zwischen Individuen durch Beziehungen, die über eine bloss technische Kommunikation hinausgehen. Und schliesslich bezieht sich Gemeinschaft in der dritten Dimension – in der Dimension der Gewohnheit und des alltäglichen Lebens – auf regelmässige und wiederkehrende Abläufe und Interaktionen über einen Zeitraum hinweg, ohne sich auf eine bestimmte Dauer festlegen zu müssen.
Aus den Bedeutungen dieser drei verschiedenen Dimensionen ergibt sich eine doppelte Konsequenz. Erstens schafft ihre Kombination ein Gefühl der Zugehörigkeit: Nachbarschaft schafft in der Tat soziale Bindungen, die das Alltagsleben des Einzelnen strukturieren. Zweitens ändern sich die jeweiligen Werte im Laufe der Zeit, aber nicht unbedingt synchron oder im gleichen Ausmass. Mit anderen Worten: Die Rolle und die Beziehung zu den geografischen, relationalen und alltäglichen Dimensionen können je nach historischem Rahmen und damit je nach den spezifischen wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Bereichen variieren.
Vernachlässigung der Bergregionen
Genau diese Ungleichzeitigkeiten haben in den Bergregionen zu einem weit verbreiteten Gefühl der Vernachlässigung geführt. Die tatsächliche und gefühlte sozioökonomische und territoriale Marginalisierung, von der viele alpine Gebiete betroffen waren und sind, ist das direkte Ergebnis von geschwächten Netzwerken Kundennaher Dienstleistungen in den letzten Jahrzehnten. Fast überall in alpinen Berggebieten sind Post- und Bankfilialen, kleine Vertriebsservices, Bildungseinrichtungen, Medizin- und Gesundheitsdienste und manchmal sogar öffentliche Verkehrsdienste abgebaut worden. Paradoxerweise hat der Rückgang der Dienstleistungen – im Vergleich zur Schnelligkeit der digitalisierten Gesellschaft – in vielen alpinen Gebieten Bergbewohner:innen und Berggemeinden ihrer grundlegenden Möglichkeiten hinsichtlich sozialer Bindungen, Funktionen und Dienstleistungen beraubt. Durch das Überdenken der Kundennahen Dienstleistungen als eine Bündelung von Versorgungsleistungen können wir jedoch eine neue Perspektive schaffen. Wenn man Kundennahe Dienstleistungen als neue Gemeingüter («new common goods») betrachtet, muss man eine enge Verbindung zwischen der Erfüllung individueller Grundbedürfnisse und dem Prinzip der «Staatsbürgerschaft» – verstanden als die Rechte, mit denen eine Person ausgestattet ist – herstellen.
Unter diesem Gesichtspunkt ermöglicht uns der Blick auf die Geschichte, die Funktion der Kundennahen Dienstleistungen als konstituierendes Element der Bürgerschaft der Bergbewohner:innen bewusster zu betrachten. Wie kann man angesichts der drastischen Bevölkerungsabnahme im 19. und 20. Jahrhundert nicht auf den Verlust der Bedeutung der Berggebiete hinweisen, auch wenn Länder wie Italien und Österreich (und in vielerlei Hinsicht auch die Schweiz) die Berge politisiert und idealisiert haben, indem sie sie zu einem Bestandteil ihrer Identität machten?
Alpine Gemeingüter heute
Dass Kundennahe Dienstleistungen als Gemeingüter betrachtet werden können, sollte nicht überraschen. Überlegungen in diese Richtung werden von vielen verschiedenen Disziplinen angeregt, von der Ökonomie bis zur Anthropologie und Soziologie, und die multi- und pluridisziplinäre Dimension ist für die Analyse und Untersuchung dieses Bereichs von grundlegender Bedeutung. Auf dieser Grundlage entwickeln das Centre interdisciplinaire de recherche sur la montagne – CIRM der Université de Lausanne und das LabiSAlp der Università della Svizzera italiana ein Forschungsprojekt, das sich mit neuen alpinen Gemeingütern beschäftigt. Erste Ergebnisse zeigen, dass alpine Gemeingüter Elemente von Netzwerken Kundennaher Dienstleistungen sind, die nicht selten öffentliche oder private Dienstleistungen ergänzen oder ersetzen, welche im Namen der wirtschaftlichen Effizienz und einer rationalisierten Ressourcenzuteilung zurückgedrängt oder abgeschafft wurden.
Darüber hinaus verstärken sich der Verlust Kundennaher Dienstleistungen und der demografische Rückgang in Berggebieten häufig gegenseitig und tragen wesentlich zur Marginalisierung dieser Regionen bei. So besteht zum Beispiel ein direkter Zusammenhang zwischen Bevölkerungsrückgang, Verschwinden von Schuleinrichtungen und Verarmung des sozialen und wirtschaftlichen Systems (Indire 2024). Der Rückgang der Schüler:innenzahlen führt zur Schliessung von Schulen, was Umzüge von Familien zur Folge hat, wodurch sich die dortigen Probleme weiter verschärfen.
Diese Phänomene sind wesentlich an einer allgemein defizitären allgemeinen Planungsfähigkeit beteiligt, die sich sowohl auf die Wirtschaft als auch auf die Infrastruktur auswirkt. Oft fragen öffentliche oder private Auftraggeber:innen in Unkenntnis der Hintergründe nach ‘gebauten Räumen’ und nicht einfach nur nach ‘Orten’, ohne die Frage zu stellen, wofür diese Räume genutzt werden können. Mario Botta stellte fest, dass Louis Kahn, einer der Gründerväter der amerikanischen Architektur, selbst bei der Arbeit an einem einzelnen Gebäude immer darauf bedacht war, nicht einfach einen Raum («space»), sondern vielmehr einen Ort («place»), das heisst einen öffentlichen Raum («public space») zu schaffen.
Neue Orte schaffen – Kundennahe Dienstleistungen stärken
Auch in alpinen Gebieten stellt sich die Frage nach der Rolle architektonischer Strukturen, ihrer Errichtung und Wiederverwendung oder Umnutzung – nicht nur für die Unterbringung und den Betrieb von Dienstleistungen wie Schulen, sondern auch für ihre «Erfindung». Der von Kahn formulierte Grundsatz bezieht sich auf einen Planungsprozess, der in erster Linie auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingehen muss. Ein positives Beispiel dafür ist das «Casa della Sostenibilità» («Haus der Nachhaltigkeit»), das in Airolo von der Gemeindeverwaltung gemeinsam mit der Università della Svizzera Italiana im alten Postgebäude eingerichtet wurde. Es wurde als Lehr- und Lernzentrum konzipiert, das sich auf das Thema Nachhaltigkeit in seiner Multidimensionalität konzentriert, aber auch als Ort der aktiven Nachbarschaftsplanung im Interesse der Gemeinschaft.
Projekte wie diese setzen positive Dynamiken in Gang, die eine soziale und ökologische Nachhaltigkeit sicherstellen. Das Eingehen auf die Bedürfnisse der Einheimischen garantiert Formen der Zusammengehörigkeit – diese beruhen in vielen Gebirgsregionen auf territorialen Regenerationsprozessen, die sich schlussendlich an lokalen Notwendigkeiten orientieren.