Von alten Wegen, Weiden und Siedlungen: Ethnographische Forschung im Verzascatal
Die alpine Kulturlandschaft des Verzascatals ist durch Zerfall der früheren halbnomadischen Infrastruktur und das Überwuchern ehemaliger Nutzflächen akut bedroht. «Verzasca Etnografica» erfasst erhalten gebliebene Strukturen des Tals – und trägt zur Pflege dieses wertvollen kulturellen Erbes bei.
Eine besondere alpine Kulturlandschaft
Die Valle Verzasca darf mit gutem Gewissen als das wildeste und unwirtlichste Gebirgstal des Tessins bezeichnet werden, das ganzjährig bewohnt ist. Die alpine Kulturlandschaft dieses Tals ist über Jahrhunderte durch eine halbnomadische Anbau-, Vieh- und Futterwirtschaft – die sogenannte Transhumanz – geprägt worden. Und hat durch ihre Vielstufigkeit zu einer für den Alpenbogen einmaligen Ausprägung gefunden. Zum Dorf Verzasca kommt nicht nur eine weitere, tiefer gelegene Stufe am Rand der Magadino-Ebene hinzu, wie sie auch im Wallis beobachtet werden kann; auch Maien- und Alpstufen mussten infolge der kargen, gering bemessenen Nutzflächen mehrstufig angelegt werden. Alle Wirtschaftsstufen wurden familienweise bestellt, eine genossenschaftliche Alpwirtschaft war nur in wenigen Ausnahmefällen möglich. Die kinderreichen Familien gingen über das ganze Jahr und die vielen Stufen verteilt ihren zahlreichen Arbeiten in Rebbergen, Kastanienselven, auf Feldterrassen, Wildheuwiesen sowie Maien- und Alpweiden nach. So wurden jährlich mehr als 3000 Tonnen Wildheu als Futterreserve für den Winter eingebracht. Wegen der Steilheit der Grasbänder in den Felswänden mussten davon mehr als 90 % der Flächen mit der Handsichel geschnitten werden.
Voraussetzung für diese alpine halbnomadische Landwirtschaft war ein dichtes Wegnetz, welches dem exponierten Gelände zum Trotz möglichst kurze Verbindungen zwischen den einzelnen Wirtschaftsstufen sicherstellte, um unproduktive Marschzeiten kurz zu halten. Die Steilheit des Geländes ermöglichte meist keine alternativen Routenführungen und machte deshalb eine aufwendige Befestigung der Wege mit Trockenmauern, Pflästerung und Treppen notwendig, um einer Erosion der Wegkörper entgegenzuwirken. Es sind diese für eine menschliche Ewigkeit erstellten Befestigungen, die heute (wenn überhaupt) das Auffinden aufgelassener Wege und die Überwindung exponierter Passagen erst ermöglichen, um die grosse Anzahl verlassener Siedlungen mit ihren ehemaligen Anbauterrassen erreichen zu können.
Kartierung des Wegnetzes
Ein zentrales Ziel von Verzasca Etnografica ist die Rekonstruktion und Kartierung des durch die Transhumanz geprägten Wegnetzes in der Valle Verzasca. Als Grundlage hierzu dient die systematische Auswertung des heute digital auf dem Geoportal von swisstopo zur Verfügung stehenden Kartenwerks, das die Dufour- (1:100'000), Siegfried- (1:50'000) und Landeskarte (1:25'000) umfasst. In diesen Kartenwerken sind stets nur die wichtigsten Trassen vermerkt, der Grossteil der ehemals benutzten Wege wurden nie eingezeichnet. Aus diesem Grund ist zur Vorbereitung einer Exploration im Gelände eine zusätzliche Auswertung von Luft- und Bodenaufnahmen (ebenfalls auf dem Geoportal vorhanden) nötig, die das Territorium bis in die 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts dokumentieren. Von unersetzlichem Wert sind zudem die radarbasierten Höhenmodelle von swisstopo («swissALTI3D»), die durch das Wegrechnen der Vegetationsdecke alte Wegführungen sichtbar machen können.
Das Kartenstudium und die zahlreichen Explorationen im Gelände bestätigen: Dörfer oder Dorfteile waren mit ihren diversen temporär bestossenen Maien- und Alpsiedlungen jeweils durch kürzestmögliche Wege untereinander verbunden, soweit es das Gelände zugelassen hat. Erkenntnisse wie diese erleichtern heute das Auffinden verloren geglaubter Trassen.
Dokumentation der Siedlungen und ehemaligen Nutzflächen
Die meisten der früheren Maien- und Alpsiedlungen in der Valle Verzasca sind mit der Aufgabe der Subsistenzwirtschaft (Selbstversorgung) nach Ende des Zweiten Weltkriegs teilweise oder ganz verlassen worden. Zwischenzeitlich sind bereits sehr viele Bauten zerfallen beziehungsweise von der rasant vorstossenden Vegetation überwuchert worden. Die verbleibenden Strukturen dieser einmaligen Kulturlandschaft sind daher akut bedroht. Und die Umnutzung landwirtschaftlicher Bauten als Feriendomizil hat nur bedingt zum Werterhalt der historischen Bausubstanz beigetragen. Mit der Abwanderung der Menschen ist zudem so einiges an kulturellem und landwirtschaftlichem Wissen verloren gegangen.
Die Forschungsliteratur ist zwar reich an Übersichtsarbeiten zu alpinen Kulturen im Kanton Tessin. Bisher fehlt jedoch eine repräsentative Zahl von Studien, die das Territorium einer Kulturlandschaft wie jener der Valle Verzasca systematisch zu erfassen versuchen. Die Ergebnisse der ersten zwanzig von Verzasca Etnografica durchgeführten Feldstudien haben gezeigt, dass eine möglichst flächendeckende ethnographische Kartierung des Geländes eine grosse Menge an zusätzlichen Daten zu liefern vermag, die zu einem besseren und detaillierteren Verständnis der früheren landwirtschaftlichen Kultur führen. Beeindruckend sind besonders die zahlreichen Unterschiede unmittelbar benachbarter Territorien, welche auf die Anpassung an die jeweiligen Mikroökosysteme zurückzuführen sind. So wurden etwa auf Alpstufe noch Heuställe errichtet, sofern die Wiesen neben Weidegang auch Futterwirtschaft erlaubt haben. Deren Räume wurden funktionell angepasst, um einen Teil des Heubodens zusätzlich als Käserei verwenden zu können.
Ausblick
Das Ziel von Verzasca Etnografica ist eine möglichst umfassende Bestandesaufnahme noch vorhandener Strukturen der halbnomadischen Vielstufenwirtschaft im Verzascatal. Die dafür aufgebaute Datenbank wird der Forschung und Wirtschaft sowie einem nachhaltigen Tourismus zur Verfügung gestellt. Auf diese Weise soll der bedrohten Kulturlandschaft ihre Stimme zurückgegeben und Anreize für Projekte geschaffen werden, diese lebendig zu erhalten. So hat sich bereits eine Zusammenarbeit mit der «Società Escursionistica Verzaschese SEV» und der «Federazione Alpinistica Ticinese FAT» ergeben, aufgelassene Wege der Transhumanz wieder begehbar zu machen und zu dokumentieren. Eine temporäre Ausstellung im Museo di Val Verzasca (26.05.2024 – 18.05.2025) bietet zudem Einblick in die Forschungsarbeit von Verzasca Etnografica: einen Einblick in alte Lebensformen und Kulturtraditionen dieses Tessiner Tals.