Versam, Safiental GR (© M. Volken)

Strassen in den Alpen: Wie viele braucht es?

Der Kanton Graubünden feiert dieses Jahr den 200. Geburtstag der Fahrstrasse über den San-Bernardino-Pass – mit Büchern, Festen und Reden. Höchste Zeit, einen Blick auf die Strassen im Alpenraum zu werfen. Und darauf, woran sie uns hindern.

Leise Melancholie, raue Alpenlandschaft

1727 bauten die Bauern-Zimmerleute den Stall auf Tresch in Sumvitg in der Surselva. Eine Konstruktion ohne einen Nagel. In dieser Kuh-Kathedrale fanden achtzig Tiere Platz. Das Dach wurde morsch, die Steine, die die Schindeln auf dem Dach gehalten hatten, fielen aufs Tenn. Die Ruine musste schliesslich vor einem Dutzend Jahren einer Strasse im Rahmen eines Meliorationsprojekts weichen, die der Erschliessung ländlicher Gebiete dienen sollen. Mit dem Stall auf Tresch verschwindet Architektur, und mit ihr die Landschaft, deren Nutzung den Stall platziert und geformt hat. Ein Schatz an über viertausend Jahre alten Erfahrungen geht verloren. Ein Schatz, der das Wissen und Können beinhaltet, die die Menschen in den klimatischen, topografischen und ökologisch besonderen Verhältnissen der Alpen benötigen: wie mit Kälte, Trockenheit, Hochwasser und Lawinen umgegangen wird, die Steilheit genutzt und die Wege über Stock und Stein angenehm angelegt werden können. Mich fasziniert eine solche Tradition stärker als noch vor dreissig Jahren, denn sie birgt viel Methodenwissen, das weit über die Alpen und den Bauernberuf hinaus für eine gute Wirtschafts- und Lebensform nützlich ist.

Sisyphos in den Alpen

Seit 1992 trägt die Sunnibergbrücke die Strasse über das Tobel bei Serneus im Prättigau und versorgt sie in einen Tunnel. Die Automobilist:innen umfahren so Klosters auf Christian Menns eindrücklicher Betonplastik und kommen schneller nach Davos oder zur Verladestation der RhB am Portal des Vereinatunnels, wo sie seit 1999 mit der Eisenbahn huckepack in 18 Minuten durch den Berg ins Unterengadin reisen.


Dieser Tunnel gehört Sisyphos. Der lebenslustige König der Antike muss als Strafe für Respektlosigkeit gegen die Götter bis heute einen Stein den Hang hinauf stemmen – vergeblich. Kaum oben, rollt er wieder nach unten. Die Gemeinde- und Regierungsräte in den Alpen sind Sisyphos’ Kollegen. Sie bauen Milliarden in die Alpenlandschaft, um deren Wildnis zu bändigen und sind voll guter Hoffnung, Landschaft so umbauen zu können, dass sie jederzeit möglichst effizient benutzt werden kann. Vergeblich stellen sie sich gegen die Schwerkraft. Vergeblich hofften sie, dass Infrastrukturen Probleme lösen würden. Sie schaffen immerhin Nachfrage. Auf der N 28 – die Strasse durchs Prättigau ist seit ein paar Jahren eine Nationalstrasse – hat sich der Verkehr in den letzten dreissig Jahren von täglich 8‘000 auf 16‘000 Autos verdoppelt. Dabei sind die Spitzen an schönen Skitagen nicht beachtet, an denen er sich vervierfacht. Der Tunnel hat mehr Verkehr in die Alpen gebracht. Dennoch hat diese Erschliessung der Abwanderung und Überalterung nicht entgegengewirkt. Das Prättigau ist trotz des Durchgangverkehrs keine wirtschaftlich blühende Landschaft geworden. Das gilt oft auch für andere mit Strassen beglückten Regionen: Die Bevölkerung der Surselva tröpfelt aus, obschon jedes Jahr Millionen in Beton verbaut werden; das Rheinwald hat zwar eine Hochleistungsstrasse, aber die Gleichung «je mehr Strasse, desto mehr Wohlstand» geht nicht auf, und die Leventina, durch die eine europäische Transversale zieht, ist heute ein verlassenes Tal.

Kultur, Kunst und Zuversicht

Menschen, ihre Kultur und Kunst sind ein Motor für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Alpen. Immerhin: Der Kanton Graubünden weiss um diesen Tatbestand und hat den Kulturetat erhöht. Die Verknüpfung von Wissen um den Ort mit dem Willen für einen neuen Ort ist die Essenz des kulturellen und künstlerischen Aufbruchs, der Graubünden seit dreissig Jahren bereichert. Ein schönes Beispiel dafür ist die Kapelle von Peter Zumthor in Sogn Benedetg, einem Weiler oberhalb von Sumvitg in der Surselva. Sie erinnert an ein Klösterchen von Beginen, das 1984 unter die Lawine kam. Wer in diesem hölzernen Seelencello sitzt, lernt, was Ort und Atmosphäre ist.


Das Andere gibt es. Das Andere ist im Gang. Es braucht keine grossen Anläufe wie die Thermen in Vals, in Not und Fängen eines seltsamen Kaufmanns, mittlerweile wohnhaft in Dubai. Das Andere ist ein Tourismus, der aus den Gegebenheiten des Ortes schöpft, umweltnah und sorgsam. Ich denke an die tatkräftigen Hoteliers, die seit Generationen ihre Häuser halten und ihr Auskommen aus ihnen schöpfen. Ich denke an Initiativen wie das Kulturfestival Origen im Oberhalbstein oder das Gasthaus am Brunnen in Valendas, wo kluge Leute Ort, Geschichte und Zuversicht für einen «sanften Tourismus» verbinden.

Dennoch trägt mich leise Melancholie durchs Leben. Denn ich glaube an das Übersinnliche, aber ich glaube auch an das Sinnliche und auch an die, die mit Vernunft und Wissenschaft das Sinnliche deuten, zerlegen und in Perspektive setzen. Und sie sagen mir: Die Folgen der Klimanot werden die Alpenlandschaften ökonomisch, demografisch, sozial und kulturell in ganz anderem Mass beschädigen als das den Menschen innerhalb und ausserhalb der Alpen bewusst ist.