Wilde Wasser – starke Mauern. Wie der Mythos Wasserkraft eine echte Energiewende blockiert.
Der Mythos Wasserkraft ist stark in unseren Köpfen verankert. In der Diskussion um die zukünftige Energieversorgung wirkt er als eigentlicher Klima-Reflex. Doch für die Energieversorgung der Schweiz bestünden dank der Sonnenenergie günstige und umweltfreundliche Alternativen.
Im Jahre 1960 erschien im Zürcher Silva-Verlag die Publikation «Wilde Wasser – starke Mauern». Darin dokumentiert der Künstler Georg Peter Luck Kraftwerksbauten und Berglandschaften mit eingängigen Bildern, darunter die gigantische Baustelle der Grande Dixence, die Turbinenzentrale der Mauvoisin-Werke, das dem Untergang geweihte Bergdörfchen Zevreila und der in den Oberaarsee kalbende Oberaargletscher. Das Buch vermittelt eindrückliche Bilder aus einer Zeit, in der ein kaum hinterfragter Aufbruchs- und Fortschrittsgedanke dominierte. Themen wie Biodiversitätskrise und Klimakatastrophe, die heute in aller Munde sind, existierten noch nicht. Die Bilder im Silva-Band setzten sich damals in meinem Gedächtnis fest und begleiteten mich durch meine Jugendzeit. Die Erinnerung wirkt nach – bis heute überkommen mich heimatliche Gefühle, wenn ich an Staumauern, Druckleitungen und Turbinenzentralen vorbeikomme.
Das Bild der wilden Wasser und starken Mauern hat sich nicht nur in meiner Erinnerung fest eingegraben, vielmehr ist es auch in der Schweiz zum starken Mythos geworden. Es ist die Vorstellung der Alpen als Wasserschloss Europas, die Idee einer Schweiz, die ihren Strom dank mächtiger Natur und hoher Ingenieurskunst eigenständig zu produzieren vermag. Die Vorstellung vom «weissen Gold», wie die Wasserkraft manchmal auch genannt wird, welches in den Bergen sauber und umweltfreundlich produziert wird. So verankerte sich der Wasserkraft-Mythos damals im Bewusstsein von Generationen von Schweizerinnen und Schweizern und wirkt bis heute nach.
Wasserkraft als Klima-Reflex
Heute wissen wir, dass Wasserkraftwerke keineswegs umweltfreundlich sind und mannigfaltige ökologische Schäden verursachen. Dennoch ist der Satz «Wir haben ja unsere Wasserkraft» der Reflex vieler Menschen in der Schweiz, wenn es um die Energiewende und den Klimaschutz geht. Der Glaube, dass die Schweiz die mit Atomausstieg und Dekarbonisierung verbundenen Herausforderungen mithilfe der eigenen Wasserkraft bewältigen könne, ist weit verbreitet. Dies, obwohl selbst der Bund aufzeigt, dass die Wasserkraft in Zukunft einen relativ bescheidenen Anteil an der gesamten Energieproduktion der Schweiz haben wird. In der Politik macht sich die Energielobby dennoch zunutze, dass die Wasserkraft in der Bevölkerung eine hohe Popularität besitzt. Bei ihren Vorstössen für den Ausbau der Wasserkraft und Schwächung des Natur- und Landschaftsschutzes erhalten diese Kreise im Parlament derzeit Mehrheiten von rechts über die Mitte bis ins linke und grüne Lager hinein.
Dass weder die bestehenden Wasserkraftwerke noch deren Aus- und Neubau ökologisch unbedenklich sind, darauf machen die Umweltschutzorganisationen seit langem aufmerksam. Immerhin trugen sie wesentlich dazu bei, dass seit der Fertigstellung des Lag da Pigniu in Graubünden vor drei Jahrzehnten in der Schweiz kein neuer Stausee mehr gebaut wurde (mit Ausnahme des Muttsees im Kanton Glarus). Aktuell scheint sich die Grosswetterlage gerade zu ändern, präsentierte Bundesrätin Simonetta Sommaruga doch kürzlich eine Liste mit 15 möglichen Aus- und Neubauprojekten für Wasserkraftwerke. Einige davon kämen in unberührte Naturräume zu liegen, teilweise sogar in bestehende Schutzgebiete.
Aufklärung ist nötig
Mehrere seriöse Studien dokumentieren, dass die Energiewende und die Dekarbonierung in der Schweiz ohne neue Wasserkraftwerke machbar ist. Sie zeigen auf, dass wir in einer Zeit, in der 95 Prozent des Wasserkraftpotenzials genutzt ist, auf neue Lösungen setzen müssen. In erster Linie auf umweltfreundliche und kostengünstige Sonnenenergie. Auf Dächern, an Fassaden und entlang von Strassen können genügend Sonnenkollektoren installiert werden, um auch nach dem Ausstieg aus der Atom- und Fossilwirtschaft die gesamte Schweiz mit ausreichend erneuerbarer Energie zu versorgen. Dazu braucht es die Bereitschaft in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik für einen grundlegenden Kurswechsel in der Energiepolitik. Hin zu einer solaren Wende, wie diese von Pionierinnen und Pionieren bereits seit Jahrzehnten gefordert wird.
Ich will nicht bestreiten, dass die Speicherung der Sonnenenergie für die Wintermonate eine grosse Herausforderung darstellt. Doch diese ist lösbar und wird dank der sich rasch entwickelnden Forschung und Entwicklung immer vielfältiger greifbar. Neben den bestehenden (und optimierten) Stauseen benötigen wir in erster Linie dezentrale Speichermöglichkeiten in den Siedlungen, zum Beispiel mit aus den Solarenergiespitzen erzeugtem künstlichen Methangas und Wasserstoff. Eine sinnvolle Ergänzung stellen Solarkraftwerke im hochalpinen Raum dar, weil diese auch in den Wintermonaten viel Strom zu produzieren vermögen: Auf Staumauern und Stauseen, an Lawinenverbauungen, entlang von Strassen und an weiteren Infrastrukturen bestehen dafür ausreichend Möglichkeiten.
Das Wissen um die vorhandenen Energiealternativen müsste den immer noch weit verbreiteten Glauben an den Heilsbringer Wasserkraft eigentlich widerlegen können. Dass dem bis heute nicht so ist, weist nicht zuletzt auf die weiterhin starke Wirkung des Schweizer Wasserkraftmythos hin, einem Mythos, der vor bald hundert Jahren entstanden ist und in unseren Köpfen weiter nachwirkt, mit problematischen Folgen bis in die Politik hinein. So ist für einen Klimaschutz ohne Zerstörung von Natur und Landschaft weiterhin viel Aufklärungsarbeit nötig – für eine nachhaltige Entwicklung, die ihren Namen verdient.