Urner Migrationsgeschichten sammeln und auswerten – Dialogprojekt «Uri im Wandel»
Das Thema Migration ist seit Jahrzehnten ein politischer Dauerbrenner. Im Austausch mit der Bevölkerung hat das Projekt «Uri im Wandel – Bevölkerung und Wissenschaft im Dialog» während eineinhalb Jahren verschiedenste Geschichten im Kanton gesammelt – mit dem Ansatz, Migration möglichst weit zu fassen.
Seit 2021 widmet sich das sogenannte Dialogprojekt unterschiedlichen Facetten von Wandel im Kanton Uri. Nachdem in einer ersten Kampagne die Landwirtschaft im Zentrum stand, nahmen sich das Projektteam und die Begleitgruppe dem Thema Migration an. Schnell wurde klar: Migration ist einerseits eine Folge und andererseits ein Auslöser von Wandel. Wenn Menschen ihren Lebensmittelpunkt verschieben, verändert sich sowohl der Ort, den sie verlassen, als auch der Ort, an den sie hinziehen. Je mehr Menschen in kurzer Zeit migrieren, desto stärker sind die Auswirkungen.
Migration in Zahlen?
Zum Teil lassen sich diese Auswirkungen anhand von statistischen Daten erfassen. Besonders deutlich zeigt sich dies am Beispiel Göschenen zwischen den 1870er- und 1880er-Jahren. In dieser Zeitspanne, als der erste Gotthardbahntunnel entstand, wurde das Dorf durch den Zuzug der benötigten Arbeitskräfte buchstäblich umgekrempelt. Die Bevölkerungszunahme am Fuss der Schöllenen und auch der Bevölkerungsrückgang nach Abschluss des Grossprojekts waren derart stark, dass sie die meisten statistischen Daten des Kantons prägten (siehe Grafik). Beispielsweise ist der Anteil junger Männer im Kanton Uri jener Jahre zunächst in die Höhe geschnellt und hat nach der Eröffnung des Tunnels 1882 wieder stark abgenommen. Dasselbe gilt für den Anteil Italienisch sprechender Personen – der grösste Teil der Bauarbeiter kam aus Italien.
Auffällig ist allerdings auch, dass bereits im nahe gelegenen Silenen so gut wie keine Migrationsbewegungen festzustellen sind. Das zeigt uns: Migration ist kein Phänomen, das alle Dörfer und Regionen gleichmässig betrifft. Es gibt auf der einen Seite Hotspots und auf der anderen Seite Orte, die kaum tangiert werden. Die Zahlen machen auch deutlich: Migration verläuft manchmal langsam, sozusagen tröpfchenweise, nicht selten aber auch ruckartig. So ist die Abwanderung aus abgelegenen Dörfern meist ein kontinuierlicher Prozess, der sich über mehrere Jahrzehnte hinzieht und statistisch gesehen nicht dramatisch erscheint. Aufgrund der kleinen Bevölkerungszahlen kann dennoch jeder Wegzug einschneidende Folgen haben und beispielsweise eine Schulschliessung mit sich ziehen. Grosse Infrastrukturprojekte hingegen (in Göschenen etwa die Tunnelbauten sowie der Stausee Mitte des 20. Jahrhunderts), starkes Wirtschaftswachstum (wie wir es aktuell in Andermatt vorfinden) sowie gewalttätige Konflikte und Kriege sind Auslöser für besonders dynamische Migrationsbewegungen.
Migration als Geschichten
Viele Fragen der Migrationsgeschichte lassen sich mit dem statistischen Material allerdings nur bruchstückhaft, auf einzelne Jahre eingeschränkt oder auch gar nicht beantworten. Woher kamen die Leute? Wie lange sind sie geblieben und wohin sind Urner Auswandernde gezogen? Was sind die Gründe für den Wegzug oder Zuzug? Und wie wirkt sich Migration im Alltag einer Gemeinschaft auf? Als Ergänzung zur Statistik braucht es deshalb sogenannte qualitative Quellen. Sie dokumentieren zum Beispiel im Fall von Göschenen, wie das stürmische Wachstum die lokalen Infrastrukturen (wie Wohnraum und sanitäre Anlagen) überforderte, unter welchen unsäglichen Bedingungen die Arbeiter deswegen hausen mussten und wie das Leben im Dorf auf den Kopf gestellt wurde.
Stimmen aus Uri
Um die Geschichte und Gegenwart von Migration im Kanton Uri besser zu erfassen, hat das Dialogprojekt deshalb neben Zahlen auch Aussagen und Erzählungen von Personen gesammelt, die das Migrieren aus eigener Erfahrung oder aus Erzählungen von Nahestehenden kennen. Dabei haben wir die Bezeichnung «Migrant:in» bewusst weit gefasst. Nicht nur das Einwandern nach Uri aus dem Ausland als Arbeitskraft oder als geflüchtete Person, sondern auch der Zuzug aus einem anderen Schweizer Kanton, einem anderen Urner Dorf oder der Wegzug aus Uri sind als Erfahrungen in den geführten Interviews und in den Gesprächen im Rahmen von mehreren Veranstaltungen vertreten.
Der breite Blick auf Migration trägt der Tatsache Rechnung, dass Migration einerseits ganz unterschiedliche Formen hat und unter unterschiedlichen Umständen stattfindet, was bei der Einordnung jeder Geschichte berücksichtigt werden muss. Andererseits sollte nicht vergessen gehen, dass Migration im Kern eine geteilte Erfahrung ist: Wer sich an einem neuen Ort niederlässt, muss sich mit Unbekanntem auseinandersetzen und sich in irgendeiner Form integrieren. Das gilt für vergangene Situationen ebenso wie für heutige. Eine Urnerin, die als 40-Jährige von Altdorf nach Bern gezogen ist, formulierte es so: «Als ich in diesem Saal in Bern stand und niemanden kannte, da wurde mir bewusst: Wenn ich hier ankommen will, bedeutet das Arbeit.» Integration als beinharter Knochenjob, das beschreibt auch ein Geflüchteter aus Eritrea, der seit 12 Jahren in Uri lebt: «Seit Jahren komme ich fast jeden Tag hier in die Kantonsbibliothek und lese die Urner Zeitungen. Ich habe alle Urner Dörfer besucht und will auf jede Seilbahn im Kanton.» Seine Integration gestaltete sich natürlich ungleich schwieriger als jene der oben erwähnten Einheimischen, trotzdem formulieren beide eine ähnliche Erfahrung.
Neue soziale Umgebungen – neue Landschaften
Alle Gesprächspartner:innen beschreiben, dass sie lernen mussten, sich in einem neuen gesellschaftlichen Umfeld zu bewegen. Wie stark sprachliche Hürden dabei wirken können, beschreibt eine gebürtige Marokkanerin: «Die Vernetzung mit anderen Menschen war schwierig zu Beginn. Und die Würze der Sprache hatte ich damals noch nicht. Ich bin nicht hier aufgewachsen, ging nicht in die Schule mit den Menschen hier. Ich hatte so gesagt keine gegebenen Verbindungen mit ihnen. Nach ein paar Wörtern und Sätzen war dann eine Konversation fertig, das war schwer für mich.» Ein aus einem anderen Kanton zugezogener Schweizer schätzte hingegen, dass er zumindest am Anfang eine gewissermassen neutrale Position im Dorf innehatte: «Wir kamen in dieses Dorf beziehungsweise in eine Gesellschaft, in der sich die meisten Leute schon seit Ewigkeiten kennen. Die meisten gingen bereits miteinander zur Schule, ihre Eltern kannten sich schon oder sogar ihre Grosseltern. Wir waren auf eine Weise unbefleckt und gehörten nicht dazu. Das gab uns dann die Möglichkeit, relativ ungezwungen in Kontakt zu treten, weil wir nicht zu einer bestimmten Gruppe gehörten.» Zuziehen bedeutet also: Hineingeworfenwerden in eine neue soziale und oft auch neue kulturelle Umgebung. Die Erfahrungen damit können ambivalent sein, wie die folgende Aussage andeutet: «Schweizer:innen sind nicht so, dass sie einem um 7 Uhr morgens umarmend einen guten Tag wünschen, aber mir gefällt es, weil es hier viel Respekt gibt, was ich in meinem Heimatland sehr vermisst habe.»
Bemerkenswerterweise erwähnen praktisch alle Gesprächspartner:innen neben den sozialen Erfahrungen, wie prägend die neue Landschaft für ihre Migrationserfahrung war und ist. Sei es, dass sie ein Element aus ihrer früheren Umgebung vermissen (zum Beispiel die Weitsicht) oder froh sind, es nicht mehr täglich zu sehen (zum Beispiel die vielen Steine) – sei es, dass sie ihre Furcht vor Wäldern oder Bergen überwinden mussten oder, dass ihnen ein bestimmter Ort heute ein Gefühl von Daheimsein auslöst.
Und die, die bleiben?
Für Bewohner:innen von Dörfern, die seit Längerem Abwanderung erleben und um die Zukunft ihrer Gemeinde kämpfen müssen, ist die Erfahrung des Zurückbleibens meist schwierig. Andere beschreiben die Ambivalenz eines Verwurzeltseins, das gleichzeitig einengen kann: «Es ist ja sehr kleinräumig hier in Altdorf, man kennt sich. Das ist wunderschön. Und gleichzeitig geht man durch diese kleine Welt und ist ja ein wandelndes Konzept in dieser Welt und beobachtet oder begrüsst andere wandelnde Konzepte, die man kennt. Dabei sieht man aber immer nur die Oberfläche von dem, was vor einem wandelt, oder von einem selbst. Man ist aber eventuell längst etwas anderes oder jemand anderer.» Migration erscheint in dieser Aussage als eine Möglichkeit, dem persönlichen Wandel auch äusserlich Ausdruck zu verleihen.
Migration, das kommt in diesen und anderen Aussagen aus Uri zum Ausdruck, hinterlässt Spuren in den individuellen Biographien. Die Erinnerungen sind präsent. Wenn man das Thema weit fasst und damit viele «Betroffene» in den Blick bekommt, kann man sich Uri – und selbstverständlich auch andere Regionen – als ein grosses Potpourri voller Migrationsgeschichten vorstellen.