Vadrec del Forno GR (© M. Volken)

Gamchigletscher BE (© M. Volken)

Vadret da Grialetsch GR (© M. Volken)

Steingletscher BE (© M. Volken)

Ferdengletscher VS (© M. Volken)

Aletschgletscher VS (© M. Volken)

Gletscherarchäologie: Spuren früherer Menschen aus vergangenen Bergwelten

Schmelzende Gletscher und Eisfelder bringen immer wieder archäologische Gegenstände zum Vorschein. Diese sind Botschafter längst vergangener alpiner Welten und erlauben faszinierende Einblicke – gleichzeitig mahnt Ihr Auftau(ch)en an die sich rasch verändernde Bergwelt und das alpine Kulturerbe.

Mit den Gedanken noch bei der warmen Suppe in der Lötschenpasshütte, geht man achtlos an der Stelle vorbei, an der vor fast 4000 Jahren jemand seine Ausrüstung liegen liess. Auch auf dem Weg zum Oberalpstock geht man unwissentlich an der Stelle bei der Unteren Stremlücke vorbei, an welcher vor etwa 10'000 Jahren Strahler schufteten und dasselbe, wenn man mit Vorfreude am Theodulpass die Abfahrt auf der Skipiste nach Zermatt im Angriff nimmt. Sie sind ephemer und kaum erkennbar: diese Orte, an denen sich die lange Kulturgeschichte der Alpen zeigt. Doch wurden hier von aufmerksamen Augen jahrhundert-, sogar jahrtausendealte Objekte entdeckt – Boten der Vergangenheit und oft fragile Symbole für das Kulturerbe im Hochgebirge.

Fragile organische Objekte aus dem Eis

Jedes Jahr schmelzen archäologische Objekte aus dem Eis der Schweizer Alpen: eine fast vollständige Ausrüstung einer oder eines Reisenden aus der Bronzezeit samt Bogen, Rindentaschen und Spannschachtel am Lötschenpass; die sterblichen Überreste einer jungen Frau, ihrer Kleider und weiterer Gegenstände, die sie vor 400 Jahren auf ihrer letzten Reise über den Porchabella-Gletscher mitgetragen hatte; oder ein über 6000 Jahre alter, aus Lindebast geflochtener Beutel und knapp tausend andere Objekte aus sechs Jahrtausenden vom Schnidejoch. Es sind faszinierende Zeugen des menschlichen Lebens in den Alpen seit Jahrtausenden. Oft sind es seltene und fragile Gegenstände aus organischen Materialien, welche die Zeit in der Regel kaum überdauern. Einmal aufgetaut, gehen sie, falls sie nicht entdeckt werden, unwiderruflich verloren. Viele dieser Fundstellen und die in ihnen verborgenen Objekte werden spätestens in ein paar Jahrzehnten verschwunden sein. Viele werden wohl unentdeckt bleiben.

Sarah Casey, Emergency! Series 2022. Zeichnungen auf Wachspapier, unter anderem von Transportfässern vom Theodulpass, VS. Neuzeit. © Sarah Casey

Anker in der Landschaft der Steinzeit

Der älteste bekannte in den Alpen vom Gletschereis bewahrte Zeuge der Vergangenheit ist die Fundstelle bei der Fuorcla da Strem Sut, der Unteren Stremlücke, im Kanton Uri, zwischen Maderanertal und Surselva. Das Eis konservierte auch hier organisches Material: eine Geweihstange, mit der Bergkristalle ausgebrochen wurden, und Arvenholzfragmente. Ausserdem fanden sich Werkzeuge aus Bergkristall, die zeigen, dass hier vor 8000 Jahren Menschen nicht nur Bergkristall abbauten, sondern daraus auch Werkzeuge herstellten. Diese (mittel)steinzeitlichen Strahler:innen waren keine Entdecker:innen in einem unerforschten Land. Sie bewegten sich in einer ihnen bekannten und gekannten Landschaft voller Geschichten und Traditionen, die weit über die Lebensdauer einzelner Personen hinaus bestand. Eine Landschaft, die geprägt ist von vorangegangen Tätigkeiten und Erfahrungen. Schon etwa 1500-2000 Jahre vor den Benutzer:innen der Geweihstange bauten Jäger und Sammlerinnen an der Stremlücke Bergkristall ab. Wiederum 2000 Jahre später trieben jungsteinzeitliche Bauern aus dem Rhonetal ihre Tiere zum Weiden über das Schnidejoch an die Lenk. Der Pass blieb bis ins frühe Mittelalter ein regional bedeutender Weg über den Alpenkamm.

Wie die steinzeitliche Abbaustelle, waren auch Pässe und Übergänge jahrtausendelang wiederholt aufgesuchte Anker- und Knotenpunkte in den Alpen. In der Eisenzeit (im 3./4. Jahrhundert v. Chr.) hinterliess jemand einen Sichelgriff aus Ahornholz nahe dem Theodulpass. Jahrhunderte später deponierte man an diesem Übergang zwischen Aosta- und Mattertal Münzen. Diese römischen Weihegaben wurden 1895 von Josephine Pelissier beim Wasserholen gefunden. Sie war Küchenmagd im Theodulgasthaus und der Pass war noch immer ein nodaler Punkt. Vielleicht waren die römischen Münzen die ersten als solche erkannten gletscherarchäologische Funde aus den Alpen. Diese dauerhaften Orte, diese Anker in der Landschaft wie der Lötschenpass oder der Theodulpass, verloren ihre Bedeutung über das Mittelalter und die Neuzeit hinaus nicht – der Theodulpass sieht heutzutage wohl so viele Leute wie noch nie zuvor.

ArchäologInnen bei der Ausgrabung nahe der Unteren Stremlücke (UR), oberhalb des Brunnifirns. © Valentin Luthiger / Institut Kulturen der Alpen

Bedrohtes kulturelles Erbe

Gletscher- und Firnfeldobjekte sind wahrscheinlich diejenigen Funde aus der Kryosphäre, welche im Alpenraum und darüber hinaus in der Öffentlichkeit die grösste Aufmerksamkeit zukommt. Die Alpen beherbergen aber eine weit grössere Vielfalt an bedrohtem kulturellem Erbe. Bedroht wird dieses einerseits direkt durch klimatische Änderungen: Objekte schmelzen aus Eis und Permafrost hervor, in Mooren und Böden ändert sich die Feuchtigkeit und die alpine Vegetation wandelt sich, was Einfluss auf die Erhaltung von archäologischen, paläobotanischen und –zoologischen Überresten sowie auf das Archiv der Umwelt- und Menschheitsgeschichte hat. Andererseits gibt es auch indirekte Bedrohungen, die von klimatischen Änderungen ausgehen, wie die sich ändernde Land- und Forstwirtschaft, touristische und infrastrukturelle Bauwerke, Zersiedelung oder auch hydro- und solarenergetische Bautätigkeiten. Letzteres mag erstaunen: Doch insbesondere grosse Freiflächenanlagen können mit massiven Bodeneingriffen wie dem Bau von Fundamenten, Gräben oder Zufahrtswegen einhergehen, so auch im Falle von Skipisten und Beschneiungsanlagen. Fährnisse sind nicht zuletzt (teilweise klimabedingte) Landnutzungsänderungen. Sie alle haben einen grossen Einfluss auf die Landschaft und damit auf das materielle sowie das immaterielle Kulturerbe.


So müssen sich Land- und Forstwirtschaft bereits jetzt anpassen, genauso wie der Alpinismus, das Strahlen oder der Tourismus. Aber auch religiöse und soziale Bräuche geraten vermehrt unter Änderungsdruck. Landschaftselemente wie Wiesen, erratische Blöcke, Höhlen und Gletscher sind aber Träger von Traditionen, Sagen und Geschichten und sind manchmal sogar verbunden mit Vorfahren.

Ausblick in eine stark veränderte Landschaft

Als Gesellschaft haben wir uns mit dem «Europäischen Übereinkommen zum Wert des Kulturerbes für die Gesellschaft» (Konvention von Faro von 2005) verpflichtet, unser Kulturerbe zu schützen. Am COP 27, an der UN-Klimakonferenz im November 2022, wurden Kulturerbe und Bergregionen explizit im «Glasgow–Sharm el-Sheikh work programme on the global goal on adaptation» aufgenommen. Materielle wie immaterielle Traditionen können nur gedeihen, wenn sie gelebt werden. Traditionen, Bräuche, Sagen, Geschichten und Routen werden erzählt, gelebt und begangen. Diese wiederholte Tätigkeit verleiht uns ontologische Sicherheit und somit Gewissheit, sich heimisch fühlen zu können. Und es ist genau diese Sicherheit, die Menschen Sorge tragen lässt für ihren Platz in der Welt – für ihr eigenes Zuhause. Unser kulturelles Erbe, egal, ob fünf- oder fünftausendjährig, ist Teil dieser ontologischen Sicherheit. Und wir werden sie brauchen, um uns an die Änderungen, die schon im Gange sind und die unweigerlich noch kommen, anpassen zu können – und um die Suppe in der Hütte auch in einigen Jahrzehnten noch geniessen zu können, wenn Gletscher und Eisfeld am Pass verschwunden sind.

Archäologin bei Dokumentationsarbeiten am Rand eines Eisfeldes. © Marcel Cornelissen

Im Eis eingefrorene Objekte bleiben über sehr lange Zeiträume erhalten, auch wenn sie aus leicht zersetzbarem organischem Material wie Textilien, Holz, Leder oder Haut bestehen. Die Alpen sind deshalb für Archäolog:innen in Zeiten des Klimawandels von besonderer Bedeutung. Mehr Informationen zur Gletscher- und Eisfeldarchäologie finden sich auf der Webseite von alparch.


Vom 26. Dezember 2022 bis 14. Oktober 2023 ist die Ausstellung «Bergeis – Strahlen der Steinzeit» im Talmuseum Ursern in Andermatt zu sehen. Sie präsentiert die mittelsteinzeitliche gletscherarchäologische Bergkristallabbaustelle nahe der Unteren Stremlücke in Uri. Sie begleitet das Team bestehend aus Archäolog:innen, Strahler, Bergführer und dem Fotografen Valentin Luthiger bei ihren archäologischen Arbeiten im Hochgebirge.

Das Projekt «Bergeis. Strahlen und Bergkristall in der Steinzeit» untersucht eine Bergkristallabbaustelle nahe der Unteren Stremlücke (2817 müM) sowie den Gebrauch von Bergkristall in der Mittelsteinzeit in der Schweizer Alpen anhand weiterer mittelsteinzeitlicher Fundstelle in den Kantonen Uri und Wallis. Die Fundstelle an der Unteren Stremlücke war bis zu ihrer Entdeckung 2013 vom Eis des Brunnifirns verborgen.


Was bedeutet eigentlich «Kulturerbe»? Eine Unterorganisation der UNESCO namens ICOMOS (International Council für Monuments and Sites) gibt folgende Definition: «Cultural Heritage is an expression of the ways of living developed by a community and passed on from generation to generation, including customs, practices, places, objects, artistic expressions and values. Cultural Heritage is often expressed as either Intangible or Tangible Cultural Heritage.» (ICOMOS 2002)

Cornelissen, Marcel / Auf der Maur, Christian / Reitmaier, Thomas (2022): A glacially preserved mesolithic rock crystal extraction site in the Swiss Alps. In: Norwegian Archaeological Review, 55:1, 96-102.

Gubler, Regula / Klügl, Johanna (2020): Archäologie aus dem Eis der Berner Alpen. In: Felber, Christine / Boschetti, Adriano / Fischer, Jürgen / Gerber, Christophe (Hrsg.): Archäologie macht Geschichte. Funde aus dem Kanton Bern. 50 Jahre Archäologischer Dienst. Bern, 131-143.

Hafner, Albert (Hrsg. 2015): Schnidejoch und Lötschenpass. Archäologische Forschungen in den Berner Alpen. Bd. 1 und 2. Bern.

ICOMOS International Cultural Tourism Committee (2002): International Cultural Tourism Charter. Principles And Guidelines For Managing Tourism At Places Of Cultural And Heritage Significance.

Pilø, Lars / Finstad, Espen / Wammer, Elling Utvik / Post-Melbye, Julian R. / Rømer, Axel Hee / Andersen, Øystein Rønning / Barrett, James H. (2021): On a Mountain High: Finding and Documenting Glacial Archaeological Sites During the Anthropocene. In: Journal of Field Archaeology, 47-3, 149-163.

Providoli, Sophie / Curdy, Philippe / Elsig, Patrick (Hrsg. 2015): 400 Jahre im Gletschereis. Der Theodulpass bei Zermatt und sein «Söldner». In: Reihe des Geschichtsmuseum Wallis, Bd. 13. Baden.

Reitmaier, Thomas (Hrsg. 2021): Gletscherarchäologie. Kulturerbe in Zeiten des Klimawandels. Darmstadt.

Schaer, Andrea (2022): Potenzial aus der Vergangenheit: wie das kulturelle Erbe zur Ressource für Morgen wird. In: Weber, Angela / Eberhard, Lilli / Roord, Lena (Hrsg.): Now! Die Welt gemeinsam gestalten. Bildung neu denken. Das Morgenmachen-Lesebuch. Bielefeld, 263-282.

UNFCCC Conference of the Parties serving as the meeting of the Parties to the Paris Agreement (2022): Glasgow–Sharm el-Sheikh work programme on the global goal on adaptation referred to in decision 7/CMA.3 [11.01.2023]. Revised draft decision -/CMA.4.