Gletscherarchäologie: Spuren früherer Menschen aus vergangenen Bergwelten
Schmelzende Gletscher und Eisfelder bringen immer wieder archäologische Gegenstände zum Vorschein. Diese sind Botschafter längst vergangener alpiner Welten und erlauben faszinierende Einblicke – gleichzeitig mahnt Ihr Auftau(ch)en an die sich rasch verändernde Bergwelt und das alpine Kulturerbe.
Mit den Gedanken noch bei der warmen Suppe in der Lötschenpasshütte, geht man achtlos an der Stelle vorbei, an der vor fast 4000 Jahren jemand seine Ausrüstung liegen liess. Auch auf dem Weg zum Oberalpstock geht man unwissentlich an der Stelle bei der Unteren Stremlücke vorbei, an welcher vor etwa 10'000 Jahren Strahler schufteten und dasselbe, wenn man mit Vorfreude am Theodulpass die Abfahrt auf der Skipiste nach Zermatt im Angriff nimmt. Sie sind ephemer und kaum erkennbar: diese Orte, an denen sich die lange Kulturgeschichte der Alpen zeigt. Doch wurden hier von aufmerksamen Augen jahrhundert-, sogar jahrtausendealte Objekte entdeckt – Boten der Vergangenheit und oft fragile Symbole für das Kulturerbe im Hochgebirge.
Fragile organische Objekte aus dem Eis
Jedes Jahr schmelzen archäologische Objekte aus dem Eis der Schweizer Alpen: eine fast vollständige Ausrüstung einer oder eines Reisenden aus der Bronzezeit samt Bogen, Rindentaschen und Spannschachtel am Lötschenpass; die sterblichen Überreste einer jungen Frau, ihrer Kleider und weiterer Gegenstände, die sie vor 400 Jahren auf ihrer letzten Reise über den Porchabella-Gletscher mitgetragen hatte; oder ein über 6000 Jahre alter, aus Lindebast geflochtener Beutel und knapp tausend andere Objekte aus sechs Jahrtausenden vom Schnidejoch. Es sind faszinierende Zeugen des menschlichen Lebens in den Alpen seit Jahrtausenden. Oft sind es seltene und fragile Gegenstände aus organischen Materialien, welche die Zeit in der Regel kaum überdauern. Einmal aufgetaut, gehen sie, falls sie nicht entdeckt werden, unwiderruflich verloren. Viele dieser Fundstellen und die in ihnen verborgenen Objekte werden spätestens in ein paar Jahrzehnten verschwunden sein. Viele werden wohl unentdeckt bleiben.
Anker in der Landschaft der Steinzeit
Der älteste bekannte in den Alpen vom Gletschereis bewahrte Zeuge der Vergangenheit ist die Fundstelle bei der Fuorcla da Strem Sut, der Unteren Stremlücke, im Kanton Uri, zwischen Maderanertal und Surselva. Das Eis konservierte auch hier organisches Material: eine Geweihstange, mit der Bergkristalle ausgebrochen wurden, und Arvenholzfragmente. Ausserdem fanden sich Werkzeuge aus Bergkristall, die zeigen, dass hier vor 8000 Jahren Menschen nicht nur Bergkristall abbauten, sondern daraus auch Werkzeuge herstellten. Diese (mittel)steinzeitlichen Strahler:innen waren keine Entdecker:innen in einem unerforschten Land. Sie bewegten sich in einer ihnen bekannten und gekannten Landschaft voller Geschichten und Traditionen, die weit über die Lebensdauer einzelner Personen hinaus bestand. Eine Landschaft, die geprägt ist von vorangegangen Tätigkeiten und Erfahrungen. Schon etwa 1500-2000 Jahre vor den Benutzer:innen der Geweihstange bauten Jäger und Sammlerinnen an der Stremlücke Bergkristall ab. Wiederum 2000 Jahre später trieben jungsteinzeitliche Bauern aus dem Rhonetal ihre Tiere zum Weiden über das Schnidejoch an die Lenk. Der Pass blieb bis ins frühe Mittelalter ein regional bedeutender Weg über den Alpenkamm.
Wie die steinzeitliche Abbaustelle, waren auch Pässe und Übergänge jahrtausendelang wiederholt aufgesuchte Anker- und Knotenpunkte in den Alpen. In der Eisenzeit (im 3./4. Jahrhundert v. Chr.) hinterliess jemand einen Sichelgriff aus Ahornholz nahe dem Theodulpass. Jahrhunderte später deponierte man an diesem Übergang zwischen Aosta- und Mattertal Münzen. Diese römischen Weihegaben wurden 1895 von Josephine Pelissier beim Wasserholen gefunden. Sie war Küchenmagd im Theodulgasthaus und der Pass war noch immer ein nodaler Punkt. Vielleicht waren die römischen Münzen die ersten als solche erkannten gletscherarchäologische Funde aus den Alpen. Diese dauerhaften Orte, diese Anker in der Landschaft wie der Lötschenpass oder der Theodulpass, verloren ihre Bedeutung über das Mittelalter und die Neuzeit hinaus nicht – der Theodulpass sieht heutzutage wohl so viele Leute wie noch nie zuvor.
Bedrohtes kulturelles Erbe
Gletscher- und Firnfeldobjekte sind wahrscheinlich diejenigen Funde aus der Kryosphäre, welche im Alpenraum und darüber hinaus in der Öffentlichkeit die grösste Aufmerksamkeit zukommt. Die Alpen beherbergen aber eine weit grössere Vielfalt an bedrohtem kulturellem Erbe. Bedroht wird dieses einerseits direkt durch klimatische Änderungen: Objekte schmelzen aus Eis und Permafrost hervor, in Mooren und Böden ändert sich die Feuchtigkeit und die alpine Vegetation wandelt sich, was Einfluss auf die Erhaltung von archäologischen, paläobotanischen und –zoologischen Überresten sowie auf das Archiv der Umwelt- und Menschheitsgeschichte hat. Andererseits gibt es auch indirekte Bedrohungen, die von klimatischen Änderungen ausgehen, wie die sich ändernde Land- und Forstwirtschaft, touristische und infrastrukturelle Bauwerke, Zersiedelung oder auch hydro- und solarenergetische Bautätigkeiten. Letzteres mag erstaunen: Doch insbesondere grosse Freiflächenanlagen können mit massiven Bodeneingriffen wie dem Bau von Fundamenten, Gräben oder Zufahrtswegen einhergehen, so auch im Falle von Skipisten und Beschneiungsanlagen. Fährnisse sind nicht zuletzt (teilweise klimabedingte) Landnutzungsänderungen. Sie alle haben einen grossen Einfluss auf die Landschaft und damit auf das materielle sowie das immaterielle Kulturerbe.
So müssen sich Land- und Forstwirtschaft bereits jetzt anpassen, genauso wie der Alpinismus, das Strahlen oder der Tourismus. Aber auch religiöse und soziale Bräuche geraten vermehrt unter Änderungsdruck. Landschaftselemente wie Wiesen, erratische Blöcke, Höhlen und Gletscher sind aber Träger von Traditionen, Sagen und Geschichten und sind manchmal sogar verbunden mit Vorfahren.
Ausblick in eine stark veränderte Landschaft
Als Gesellschaft haben wir uns mit dem «Europäischen Übereinkommen zum Wert des Kulturerbes für die Gesellschaft» (Konvention von Faro von 2005) verpflichtet, unser Kulturerbe zu schützen. Am COP 27, an der UN-Klimakonferenz im November 2022, wurden Kulturerbe und Bergregionen explizit im «Glasgow–Sharm el-Sheikh work programme on the global goal on adaptation» aufgenommen. Materielle wie immaterielle Traditionen können nur gedeihen, wenn sie gelebt werden. Traditionen, Bräuche, Sagen, Geschichten und Routen werden erzählt, gelebt und begangen. Diese wiederholte Tätigkeit verleiht uns ontologische Sicherheit und somit Gewissheit, sich heimisch fühlen zu können. Und es ist genau diese Sicherheit, die Menschen Sorge tragen lässt für ihren Platz in der Welt – für ihr eigenes Zuhause. Unser kulturelles Erbe, egal, ob fünf- oder fünftausendjährig, ist Teil dieser ontologischen Sicherheit. Und wir werden sie brauchen, um uns an die Änderungen, die schon im Gange sind und die unweigerlich noch kommen, anpassen zu können – und um die Suppe in der Hütte auch in einigen Jahrzehnten noch geniessen zu können, wenn Gletscher und Eisfeld am Pass verschwunden sind.