Religiöse Praktiken im Alpenraum: Neue Publikation «Grenzgänge. Religion und die Alpen» – INTERVIEW MIT…
Soeben ist der Essayband «Grenzgänge. Religion und die Alpen» erschienen – mit Texten, Fotografien und Kompositionen, die die Wechselwirkungen zwischen Religion und Alpenraum erforschen. Es werden «Tiefenbohrungen» an unterschiedlichen alpinen Ortschaften vorgenommen. Mitherausgeberin Daria Pezzoli-Olgiati gibt einen Einblick.
Syntopia Alpina: Frau Pezzoli-Olgiati, Sie sind Professorin für Religionswissenschaft und Religionsgeschichte an der LMU und Mitherausgeberin dieser Publikation – zuerst einmal: Was ist ihr persönlicher Bezug zu den Alpen?
Daria Pezzoli-Olgiati: In der Freizeit bin ich sehr gerne in den Alpen unterwegs. Die Alpen prägen aber mein Leben nicht nur in den Ferien oder am Wochenende: Ich bin in Locarno in unmittelbarer Nähe zu den Alpen geboren. Früher wegen meines Studiums und heute wegen meiner Arbeit überquere ich sie häufig, besonders gerne über die alte, touristisch attraktive Bahnstrecke durch die Leventina und das Reusstal. Manchmal rase ich aber auch durch den Basistunnel und bin in kurzer Zeit in der Deutschschweiz oder in Deutschland.
Inwiefern sind die Alpen aus religionswissenschaftlicher Perspektive von besonderem Interesse?
Die Alpen sind ein transnationaler, vielfältiger Kulturraum. Sie liegen mitten in Europa und bilden eine natürliche Grenze, die Kulturen und Länder trennt. Gleichzeitig finden seit Jahrtausenden Kulturkontakte und -austausche im Alpenraum statt. Diese Ambivalenz der Berge, die sowohl trennen als auch verbinden, charakterisiert die Nutzungs- und Wahrnehmungsgeschichte durch den Menschen. Und trotz aller Veränderungen, die die wissenschaftlichen, politischen, alpinistischen und touristischen sowie künstlerischen Auseinandersetzungen mit den Alpen mit sich bringen, bleibt diese Ambivalenz der Berge bis heute bestehen. In vielen religiösen Weltbildern, Ritualen und Objekten aus den Alpinen Kulturen spiegelt sich eine Spannung zwischen der Kontrollierbarkeit und der Unkontrollierbarkeit der Berge wider. Auch der heutige Umgang mit den Alpen weist diese religiösen Dimensionen auf.
Zeigen sich in den Alpen religiöse Praktiken und Ansichten aufgrund der Topografie vielleicht auch vielfältiger – oder eigenwilliger – als im Umland?
Da religiöse Vorstellungen und Rituale so vielfältig sind und an jedem Ort unterschiedlich gestaltet werden, ist es nicht sinnvoll, generalisierend darüber zu sprechen. Gerade in den Alpen gibt es sehr verschiedene Formen von Religion, die die Erwartungen und Vorstellungen der Menschen spiegeln, die dort leben. Für die Bewohner:innen im Alpenraum liefern religiöse Symbolsysteme eine Orientierung im Alltag: Die Alpen bilden die Lebensgrundlage, welche von Erdrutschen, Lawinen oder Unwettern zerstört werden kann. Viele Legenden erzählen von dieser Spannung und verarbeiten positive und negative Erfahrungen anhand von mythischen und göttlichen Wesen. Für Menschen aus den Städten, die die Bergen aufsuchten, ging es oft um die Spannung zwischen Erhabenheit der Höhengebiete und dem Wunsch, sie intellektuell, wissenschaftlich und wirtschaftlich zu beherrschen. Die Alpen wurden zum überhöhten Sehnsuchts- und Zufluchtsort, was häufig mit religiösen Verweisen zum Ausdruck gebracht wurde.
In «Grenzgänge. Religion und die Alpen» werden ausgewählte Orte, Gegenstände und Praktiken in der Wechselwirkung von Religion und Alpenraum erforscht. Inwiefern handelt es sich hier um Grenzgänge?
Das Thema «Grenzgänge» konkretisiert unsere Art, wie wir Religion verstehen. Wir identifizieren Religion nicht direkt mit religiösen Institutionen oder Kirchen, sondern schauen auch auf andere Formen, mit denen Menschen in den Alpen auf Geschichte und Gegenwart reagieren. Im Zentrum unseres Buches steht die Frage, wie die Grenze zwischen Faszination und Bedrohung, zwischen Gedeihen und Verderben, zwischen Schönheit und Angst in Erzählungen, Ritualen oder in der materiellen Kultur gestaltet wird. Dabei gehen wir davon aus, dass diese Grenzen nicht für immer festgelegt sind, sondern je nach Kultur, Zeit und Ort unterschiedlich arrangiert werden und sich ständig verändern.
Das Thema Religion in den Alpen lässt an Wegkapellen oder Gipfelkreuze denken – welchen weiteren Bereichen begegnen wir in dieser Publikation?
Es werden Erzählungen, Legenden sowie Gedichte und Romane thematisiert, die unterschiedliche Arten der religiösen Sinngebung in den Alpen erschliessen. Einige Beiträge untersuchen die Rolle von Gegenständen wie den Glocken, die zur Abwendung von Unwettern eingesetzt wurden. Andere beschäftigen sich mit Interpretationen oder Narrativen, welche die Alpen als Ort der Erholung und Offenbarung darstellen oder auch als Ort, an den man sich von Herausforderungen der urbanen, auf Konsum ausgerichteten Gesellschaft zurückziehen kann. Das Verhältnis zwischen Technologie, Wissenschaft und Religion spielt auch eine wichtige Rolle, wenn es um aktuelle Tunnelbohrungen oder eben Gipfelkreuze geht. Weitere Kapitel erkunden die Alpen als Ort der Begegnungen und Auseinandersetzungen mit und zwischen unterschiedlichen Religionen und christlichen Konfessionen. Das Buch ist insgesamt als eine Reise zu ausgewählten alpinen Orten gedacht. Leser:innen finden darin eine Karte, mit der sie entscheiden können, welchen Weg sie beschreiten möchten. Wenn sie auf diese Reise mitkommen, entdecken sie, wie vielfältig Religion in den Alpen und wie relevant religiöse Deutungen und Praktiken heute sind. Und wie bereichernd es ist, sich aus dieser Perspektive mit den Alpen zu beschäftigen.
Der Essayband vereint 16 Beiträge von Religionswissenschaftler:innen, Historiker:innen oder Literaturwissenschaftler:innen sowie Kompositionen und Fotografien – weshalb dieser transdisziplinäre Ansatz?
Religion ist ein Konzept, mit dem sehr unterschiedliche und vielschichtige Phänomene zusammengefasst werden. Wir brauchten verschiedene Zugänge, um uns vertieft mit dieser Komplexität beschäftigen zu können. Die unterschiedlichen Perspektiven in diesem Buch stehen nicht einfach so nebeneinander – vielmehr haben sich die Autor:innen, die übrigens auch aus unterschiedlichen Generationen stammen, auf einen konstruktiven und sehr bereichernden Austausch eingelassen. Ich denke, dass man dies beim Lesen merkt.
Was haben Sie an der Zusammenarbeit besonders geschätzt?
Die Begeisterung aller Beteiligten, die kooperative Atmosphäre und die Lust, gemeinsam ein wunderschönes Projekt zu gestalten. Ich habe neue Menschen kennengelernt, mit denen ich in Zukunft gerne wieder kooperieren würde. Das Buch ist als Experiment gedacht worden: Wir wollten eine neuartige Form der Wissenschaftskommunikation ausprobieren, welche die Menschen mit allen Sinnen involviert. Gerade im Hinblick auf den unsicheren Charakter dieses Experiments hat es mich sehr gefreut, dass alle alles gegeben haben, damit es gelingt.
Einen wichtigen Bestandteil der Publikation bilden die Aufnahmen des alpinen Fotografen Marco Volken – in welchem Dialog stehen sie zu den Texten?
Mit diesem Buch wollten wir neue Wege gehen und haben deswegen von Anfang an nicht nur unterschiedliche Fachleute aus der Alpen- und Religionsforschung involviert, sondern auch einen Fotografen, Musiker und Komponisten sowie eine Expertin für zeitgenössische Kunst. Gemeinsam mit ihnen haben wir die Vielfalt von Religion in den Alpen erkundet. Religion ist ein System von Vorstellungen und Praktiken, in dem visuelle und akustische Dimensionen eine wesentliche Rolle spielen, weswegen wir in unserem Projekt auch mit unterschiedlichen Ausdrucksformen arbeiten wollten. Die Bilder von Marco Volken vermitteln nicht nur eine Vision eines Ortes, sondern eine gesamte Stimmung. Wenn man sie betrachtet, ist man plötzlich an diesem Ort und man spürt die Höhe der Berge und die Tiefe der Täler, die Kälte des Schnees oder die Stärke des Windes und das Licht. Marco Volkens Bilder religiöser Spuren in den Bergen zeigen die Präsenz von Menschen in diesen Gebieten, verweisen auf ihre Erwartungen, Wünsche und Ängste, aber auch auf das Vergessen und das Verschwinden dieser Spuren.
Matthias Arter und Darija Andovska haben zudem Kompositionen für diese Publikation geschrieben. Wie begegnet ihre Musik den alpinen Grenzen oder Grenzgängen?
Im Buch finden sich QR-Codes, die zu den Musikstücken von Matthias Arter und Darija Andovska führen. Sie sind vom pre-art-Trio mit Matthias Arter (Oboe und Lupophon), Karolina Öhman (Violoncello) und Vladimir Blagojević (Akkordeon) gespielt. Die Bergwelt und ihre religiösen Praktiken sind nie still, sondern stets von einer eigenen Klangwelt charakterisiert. Gletscher, Felswände, Wasser und Wind nehmen wir akustisch wahr. Die Präsenz des Menschen hinterlässt massive akustische Spuren. Bohrmaschinen, Autoverkehr oder das Schwingen von Seilbahnkabel: Alles Geräusche, die zur alpinen Klangkulisse gehören. In religiösen Praktiken wird gesprochen, gesungen, musiziert. Glockenklang oder imaginierte jenseitige Stimmen kommen auch vor. Die Kompositionen aus unserem Projekt nehmen diese Klangwelt auf und erweitern sie auf eigenen Wegen.
Und noch eine Frage an die Tessinerin: Gibt es einen Unterschied im Zugang zu den Alpen, je nachdem, ob man sich ihnen von Süden oder von Norden her annähert?
Sprachen, Konfessionen und lokale Kulturen prägen die unterschiedlichen Formen der Religion in den Alpen. Auch architektonisch erkennt man unmittelbar, in welchem Teil der Alpen man ist. Gleichzeitig sieht man gerade in den Alpen, dass Menschen und Kulturen immer im Austausch standen und, dass Objekte, Stile und Vorstellungen mit Menschen wandern. Beispielweise waren die ersten Gipfelkreuze im ausgehenden 18. Jahrhundert in der katholischen Tradition verankert, im Laufe der Zeit verbreiteten sie sich auch in protestantisch geprägten Regionen. Heute findet man buddhistische Gebetsfahnen überall: Sie signalisieren eine Verbundenheit der Bergsteiger:innen in den Alpen und im Himalaya – auch eine Form des Kultur- und Religionsaustauschs.