Wie klingt mein Tal? Klangwelten des Val d'Hérens ermöglichen neue Einsichten
Klänge können die Verbundenheit zu einem Tal wiederbeleben, wie es derzeit im Projekt Hérison geschieht. Es denkt über Veränderungen im Tal nach, die auch durch den Klimawandel bedingt sind – und fragt, welche Art von Zukunft, einschliesslich des Klangs, wir wollen.
Das fliessende Wasser eines Baches, die Glocken der Kühe, die Rotoren eines Helikopters oder das Knarren der Skischuhe auf dem Weg zur Seilbahn – welche Geräusche kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie an die Alpen denken? Und warum? Seit mehreren Jahrzehnten hält das Interesse an sinnlichen Aspekten Einzug in die Forschung. Und der Ton wurde in seinen verschiedenen Formen in diese Überlegungen miteinbezogen. Ob es sich um Landschaften oder Klangobjekte handelt; alle Aspekte des Hörens stehen heute im Mittelpunkt zahlreicher Untersuchungen in den Human- und Sozialwissenschaften.
Abgesehen von den Ansätzen, die eindeutig der Klangökologie entlehnt sind, konzentrieren sich die meisten Studien über die klangliche Umwelt jedoch auf Städte und urbane Gebiete, während die Alpen, obwohl sie hinsichtlich ihrer reichhaltigen musikalischen und gesanglichen Praktiken weithin untersucht wurden, weniger erforscht sind. Als einer der ersten in der Schweiz hat der Geograf Justin Winkler in den 1990er-Jahren Forschungen in diese Richtung entwickelt und sich für die Klangwelt einiger Schweizer Alpendörfer und die Art und Weise, wie ihre Bewohner:innen sie hören, interessiert. Die Erforschung unterschiedlicher Um- und Mitwelten, Geografien und Räume mit und durch Klang (von Manchen auch "KlangDenken" genannt) ermöglicht es uns, neue Wege des Verständnisses alpiner Räume zu eröffnen und dadurch vielleicht einen anderen lebensweltlichen Bezug herzustellen.
Eintauchen in den Klang eines Ortes, der uns am Herzen liegt
Auch das Projekt Hérison ist Teil dieses Forschungskontexts. Es wird von den vier Kollegen der HES-SO Valais-Wallis (Claude-Alexandre Fournier und Christophe Fellay) und der Universität Lausanne (Christian Keiser und Nelly Valsangiacomo) durchgeführt. Die Studie ist Teil eines grösseren Projekts, das vom Centre interdisciplinaire de recherche sur la montagne (CIRM) koordiniert wird: "Val d'Hérens 1950-2050" soll ein Begegnungsort für verschiedene Disziplinen und die Bewohner:innen dieses Alpentals auf der linken Seite der Rhone sein.
Das Tal ist eine vom Gletscher ausgehöhlte Rille, die vom Fluss Borgne durchflossen wird; es ist vergleichbar mit einer Rille auf einer Schallplatte, aber auch mit einem Musikinstrument, das seine eigene Klangsignatur hat. Solche musikalische Metaphern stehen im Mittelpunkt des Hérison-Projekts. Sie stellen die Verbindung zwischen der spezifischen Klangumgebung des Alpentals und den Menschen, die in ihm leben, her. Leitend dafür ist die Hypothese, dass die Ortsverbundenheit (place attachment) unser Denken über Veränderungen in einem Gebiet und seine Zukunft verändern kann.
In der Forschung wird das Konzept der Ortsverbundenheit, das eng mit dem Gefühl der Zugehörigkeit verwoben ist, auch verwendet, um über die Beziehungen zwischen den Menschen und ihrer Umwelt und die Folgen des Klimawandels für die psychische Gesundheit in ihrer alltäglichen Dimension nachzudenken. Personen mit einer starken Bindung an ihre lokale Umwelt sind eher um deren Erhalt besorgt. Das deutet darauf hin, dass eine fehlende Ortsbindung ein Hindernis für ein umfassendes Bewusstsein für unsere Auswirkungen auf das Klima und auf weitere Faktoren um uns herum darstellt. Und was ist mit dem Klang? Die Ortsbindung beinhaltet sensorische und umweltbezogene Interaktionsformen. So befasst sich unsere Forschung mit der Frage, wie der Klang an der Konstruktion unserer lokalen geografischen Vorstellung beteiligt ist.
Die Erinnerung an einen Klang, der in die Zukunft projiziert wird
Für die gemeinsame Konstruktion von Wissen und aktiveren Formen des Zuhörens in der Umgebung stehen künstlerische Forschung, Psychologie, Geschichte, Geografie und Tontechnik zur Verfügung. Diese Kombination erfolgt in der Absicht, gemeinsam mit den Bewohner:innen dieser Regionen eine erste Antwort auf die Schlüsselfrage zu erhalten: In welche Richtung wollen wir uns klanglich entwickeln? Soll sie anthropophon, geophon oder biophon sein? Es handelt sich um ein Projekt, das nicht ohne Wissen und Erinnerung der Einwohner:innen der ausgewählten Gemeinde Evolène auskommt. Sie besteht aus acht Dörfern auf einer Höhe zwischen 1'300 und 1'900 Metern mit 1'700 Einheimischen und 20'000 Hektaren Land: genug, um die Erinnerung zum Klingen zu bringen!
Im Projekt, das noch in den Kinderschuhen steckt und etwa ein Jahr dauern wird, möchten wir mit Zeitzeug:innen verschiedener Generationen zusammenarbeiten und gemeinsam das Klanggedächtnis derjenigen Orte erlauschen und übermitteln, welche den Beteiligten am Herzen liegen. Inspiriert von den zahlreichen Studien über die Klangfrequenzen eines Ortes wird zunächst eine Art Klangidentität des Tals durch dreidimensionale Kartierung und anschließende Klangmodellierung kreiert. Dadurch wird eine gemeinsame Grundlage für das Zuhören geschaffen. Anschliessend beschäftigen sich die Beteiligten mit dem Zuhören ihrer Orte, denen sie sich besonders verbunden fühlen. Kontextuelle und immersive Hörstrategien eröffnen neue Klangräume, und es entstehen Erzählungen, die an die Erinnerung und das persönliche Archiv appellieren. Eines der Hauptziele ist es, den Hörer oder die Hörerin auf die eigene Umgebung aufmerksam zu machen. Gleichzeitig werden die Einwohner:innen dem Projekt wertvolle Informationen über das Hören in der Umgebung liefern.
Ausblick
Parallel zu diesem Ansatz wird eine qualitative historische Untersuchung eine Chronologie der wichtigsten Elemente des Tals zwischen 1930 und heute erstellen, die es ermöglicht, wesentliche Veränderungen in der akustischen Umgebung des Tals zu rekonstruieren. Ein zweiter Teil der historischen Forschung wird sich auf die Wahrnehmung von Klängen in einem allgemeineren Sinne konzentrieren: wie Klänge im Laufe der Zeit wahrgenommen und übertragen wurden, sowohl im Zusammenhang mit der Entwicklung der Region als auch mit den starken Bestrebungen zum Erhalt der Landschaft im 20. Jahrhundert. Die Aneignung und Überarbeitung der Ergebnisse dieser historischen Forschung durch die beteiligten Personen werden ermöglichen, Überlegungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verbinden.
Dieses Projekt soll ein umfassendes Klangerlebnis sein, bei dem die verschiedenen Ebenen von Analyse und Beteiligung miteinander verknüpft werden. Das Zuhören wird so zu einem Instrument, mit dem wir die Veränderungen an einem spezifischen Ort verstehen, die Beziehung zu diesem erneuern – und das Bewusstsein dafür schärfen können, welche Zukunft wir diesem wünschen.