«Gogwärgjini»: Von Zwergen und weiteren Sagengestalten
Schon früher haben Menschen Grenzen missachtet und Naturkatastrophen ausgelöst – zumindest in alpinen Sagen. Diese erzählen von «gutwerkenden» Zwergen und menschlichem Fehlverhalten. Doch den Zwergen wurden die Menschen zu dumm, und sie verschwanden. Dabei könnten wir von ihnen lernen.
Erzählen als Leidenschaft
Sagen haben mich schon als kleines Kind fasziniert und seither nicht mehr losgelassen. Besonders reizvoll finde ich, die angeblichen Schauplätze der oft unheimlichen, stets aussergewöhnlichen Ereignisse und Begegnungen zu besuchen, die zunächst nur mündlich überliefert und erst später niedergeschrieben wurden. Doch die so genannten Spuren in der Landschaft wie der Fussabdruck des Teufels auf der Felsplatte oder das versteinerte Butterfass am Wegrand vermochten mich bislang nicht zu überzeugen. Auch ist mir bei einer nächtlichen Gletscherquerung noch nie eine Arme Seele begegnet, die im Eis für ihre Sünden büssen muss. Ich bin halt kein Temperkind, gehöre nicht zu den in der Quatemberzeit Geborenen, denen ein besonderes Gespür für «parapsychologische Phänomene» nachgesagt wird. Und doch erzähle ich seit über fünfzig Jahren Sagen und wilde Geschichten, vorab aus dem Wallis. Bei der Ausgleichskasse des Kantons lautet meine Berufsbezeichnung «selbständiger Sagenerzähler».
Eine Parabel zur Nachhaltigkeit
Viele der über 2300 Volkserzählungen, die der Sagenforscher Josef Guntern im deutschsprachigen Wallis gesammelt hat, strotzen nur so von Moralin. Sie können den Heutigen nur mehr ohne den belehrenden Schlusssatz für eine christliche Lebensführung erzählt werden. Andere dagegen kommen frisch und aktuell daher, zum Beispiel «Genug Käse und Brot»:
Ein Bauer musste wegen dringenden Besorgungen ins Tal und kehrte erst nach drei Tagen auf die Alp zurück, mit klopfendem Herzen: denn sein Vieh war drei Tage allein, und er befürchtet das Schlimmste. Doch die Kühe weideten, ihre Euter sahen gemolken aus, vom Kamin der Hütte stieg Rauch auf und auf der Bank davor stand das Melkgeschirr frisch gewaschen. Ein Zwerg (Walliserdeutsch «Gogwärgji») hatte die Arbeit verrichtet. Der Bauer dankte und fragte nach dem Lohn. Der Zwerg wollte bloss ein Brot und einen Käse und erklärte, davon könne er sich den Rest seines Lebens ernähren. Der Bauer war mehr als erstaunt und fragte nach. Er esse halt nie mehr als die Hälfte, dann wüchsen Käse und Brot in der Nacht wieder nach, erklärte der Zwerg und er erfüllte den Wunsch des Bauern, schnitt eine Linie mitten durch die Laibe und verschwand mit der Ermahnung, nie mehr als die Hälfte zu essen. Tatsächlich konnte der Bauer den ganzen Sommer über vom selben Brot und vom selben Käse essen. Am Morgen waren beide wieder rund und ganz. Als er aber am Abend der Alpabfahrt mit seinen Kollegen zu viel getrunken hatte, lud er sie nach Hause ein und tischte den Käse und das Brot des Zwergs auf. Und die Gesellschaft ass alles auf, bis auf ein paar Brotkrümel und Käserinden, die sich Maus und Katz geschwisterlich teilten. Nun war nichts mehr vorhanden, was nachwachsen konnte…
Vom Überschreiten von Grenzen
Verstösse gegen Verbote, ja bereits gegen Gebote haben in der Sagenwelt der Alpen oftmals katastrophale Folgen. Bekannt ist die Sage von der Blüemlisalp im Berner Oberland, wo ein Senne den Weg zur Hütte seiner Geliebten mit Käselaiben pflasterte, seinem blinden Vater jedoch Mist aufs Brot strich – und somit gleich drei schwere Sünden beging: Unkeuschheit, Vergeudung von Nahrungsmitteln und Verachtung der Eltern. In der Nacht wurde die herrliche Blumenalp mitsamt dem Sennen und seiner Gespielin unter eine Eislawine begraben. Oder als die Bewohner der Stadt Felik im Vallon de Lys im Aostatal einem Bettler nicht nur das Essen, sondern auch noch einen Schluck Wasser verwehrten, begann es zu schneien, bis die Stadt in den Schneemassen versank: ein Verstoss gegen die biblischen Werke der Barmherzigkeit. Und die bekannteste slowenische Sage erzählt von Zlatorog, einem Gämsbock mit goldenen Hörnern, welcher die Alpenblumengärten auf der Hochebene beim Triglav hütete. Es war tabu, auf diesen Gämsbock zu schiessen. Alle hielten sich daran, bis ein verliebter Jüngling das Tier niederstreckte, um die goldenen Hörner seiner Angebeteten zu bringen. Doch der schwer verletzte Zlatorog stand wieder auf und stiess den Jäger in den Abgrund. Dann zerstörte er in blinder Wut über den Verrat der Menschen den Alpengarten. Die Rillen in den unzähligen Karstfeldern seien die Spuren von Zlatorogs Hörnern, sagt der Volksmund.
Menschliches Fehlverhalten wird in der Sagenwelt häufig als Auslöser von Naturkatastrophen gesehen. Lawinen, Gletscherabbrüche, Murgänge, Bergstürze töten Menschen und Haustiere und zerstören Hab und Gut oder paradiesische Landschaften, weil die Menschen Grenzen missachten. Hier finden wir Parallelen zur aktuellen Klimaerwärmung und zum rasanten Verlust an Biodiversität: Grenzen des Wachstums und Grenzen der Belastbarkeit unserer Ökosysteme werden wider besseres Wissen missachtet und wir fahren buchstäblich mit Vollgas Richtung Abgrund. Gefährlich bei Katastrophen ist jedoch die Jagd nach Sündenböcken. Hunderte, ja tausende von Menschen, vor allem Frauen, wurden in Europa als Wetterhexen oder Schadenszauberer verhaftet, gefoltert und verbrannt.
Vom Verschwinden der Zwerge
Zwerge, Teufel und rückkehrende Seelen (Geister) sind populäre Sagengestalten. In der Walser Siedlung Macugnaga im piemontesischen Anzascatal heissen die Zwerge «Güötwärchjini», was man mit «Gutwerkende» oder «Gutwirkende» übersetzen kann. Tatsächlich sind die Zwerge in den Sagen fast ausnahmslos sehr hilfsbereit und flink, und sie können mehr als die Menschen; beispielsweise mit einem Korb Wasser holen, entgegen allen Regeln der Physik, ausser das Wasser wäre im gefrorenen Zustand. Sie wissen auch, wo die Kristalle, Eisenerze und Goldadern in den Bergen verborgen sind. Und für den Alpenraum sehr wichtig: Die Zwerge haben die Menschen die Verarbeitung der Milch gelernt, die Herstellung von Butter, Käse und Ziger. Ja, sie wollten den Menschen noch zeigen, wie man aus Molke (auch «Sirte» oder «Chäsmilch») Kerzenwachs gewinnen könnte. Doch durch einen dummen Streich vertrieben die ihren Lehrer.
Die Zwerge verschwanden laut den Sagen nicht nur wegen der Dummheit der Menschen, sondern auch wegen deren Hartherzigkeit, Verachtung, Ausgrenzung, ja sogar brutalen Gewalt. Ein Säumer im Haslital ärgerte sich über einen Zwerg, der vor ihm auf schmalem Weg mit seinen kleinen Beinen nur langsam vorwärtskam. Also schlug er den Winzling mit der Peitsche, bis der tot umfiel. Da erhob sich ein Geschrei, aus allen Löchern strömten Zwerge vorbei und trugen ihren ermordeten Kollegen davon und verschwanden für immer. In Macugnaga wird erzählt, dass bei der grossen Linde eine Mutter mit ihrem jüngsten Mädchen sass. Da kam eine alte Zwergin vorbei, und das Kind begann sie zu verspotten, nicht nur weil sie so klein war, sondern weil ihre Füsse «umgekehrt» waren, also die Fersen vorne und die Zehen hinten. Der Spott ärgerte die Zwergin derart, dass sie zuoberst auf die Linde stieg, ein Wollknäuel in die Höhe warf und an dem sich abrollenden Faden bis zu den Wolken hinaufkletterte.
Schlussbemerkung
Sagen sind nicht bloss kuriose Erzählungen aus längst vergangenen Zeiten, als es noch keine Elektrizität gab und «digital» ein Fremdwort war. Sie thematisieren und kritisieren menschliche Verhaltensweisen, Irrungen und Wirrungen, die heute leider immer noch aktuell sind. Also lösche ich das Licht, zünde eine Kerze an und beginne zu erzählen, von den Vorderen und meine die Heutigen. Homo narrans.