Amden SG (© M. Volken)

Schneekanonen: Von der Antizipation eines fehlenden Winters

Schneekanonen sind eine dankbare Technologie zu Zeiten der Klimaerwärmung – ohne sie würden schon heute die meisten Skipisten nicht mehr existieren. Als «Technologie der Antizipation» versprechen sie einen schneesicheren Winter und reproduzieren ein technikoptimistisches Narrativ, welches heute ins Wanken gerät.

Erforschen kulturwissenschaftliche Disziplinen «Technologien der Antizipation» (Thomas Lemke), dann geht es um Beobachtungen, wie spekulative statt gesicherte Zukunftsprognosen die Gegenwart prägen. Kältetechnologien sind hierfür prädestiniert. Mit ihrer Speicherfunktion können sie beispielsweise auf verschiedenste Zukunftsszenarien reagieren. In einem etwas breiteren Sinne verstanden sind auch Schneekanonen ein Beispiel für eine Kältetechnologie, die in ganz unterschiedlichen Bereichen mit Aspekten der Antizipation verknüpft ist.

Antizipation des fehlenden Winters

Schneekanonen antizipieren das Risiko eines unzuverlässig werdenden Wintereinbruchs und versprechen Schneesicherheit. Das gilt in der Schweiz seit bald 50 Jahren. In Savognin garantierte man 1978 mit der ersten Grossbeschneiungsanlage der Schweiz «schneesichere Dezemberskiwochen». Antizipiert wurden damit aber auch umfassendere Versprechen, die sich als «sozio-technische Imagination» des Kunstschnees lesen lassen. Unter solchen Imaginationen versteht man in der Definition von Sheila Jasanoff eine breit abgestützte Vision einer wünschenswerten Zukunft, die durch einen technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt erreicht werden kann.


Es geht meist weit mehr als um die gesicherte Pistenqualität, wie die Worte von Tobias Kuoni, dem damaligen Verwaltungsratspräsidenten der Savognin Bergbahnen AG, deutlich machen. In seiner am 8. Dezember 1978 gehaltenen Eröffnungsrede für die Einweihung der Beschneiungsanlage sah er in dieser den Beginn einer resilienteren alpinen Gesellschaft: «Manches deutet darauf hin, dass sich hier ganz neue Tendenzen und Entwicklungen abzeichnen und Wirtschafts- und Lebensformen entstehen, die nicht nur Reste einer auslaufenden traditionellen, sondern Anfänge einer neuen anpassungsfähigen Gesellschaft im Alpenraum sind.» Motor dieser neuen Anpassungsfähigkeit bildete die enge Verzahnung von technologischem Fortschritt, einem eigenständigen wirtschaftlichem Handeln der Bergregionen und der daraus folgenden sozialen Wirkung, wie Kuoni ebenso pointiert erklärte: «Einmal mehr bewahrheitet sich auch im Oberhalbstein, dass ökonomisch richtiges Handeln nahe bei sozial gerechtem Handeln liegt.» In Savognin wurde der sozio-technischen Imagination nicht zuletzt auch eine ökologische Vision eingeschrieben. Kunstschnee sorge nämlich auch in der Pflanzenwelt für neue Resilienz, wie man 1978 in einem Werbeprospekt erklärte: «Selbstgemachter Schnee ist kompakt, hält länger als gefallener Schnee und schont zudem das Wiesland.»

Winterimaginationen

Diese vermeintliche Schutzfunktion durch den künstlichen Winter wurde in den 80er-Jahren von Umweltschutzverbänden angezweifelt. Hierfür finanzierte man eigene Studien, die aufzeigen, welche negativen Folgen die vermehrte Nutzung von Schneekanonen für die Natur haben können.

Solche wissenschaftliche Zukunftsbilder wurden bei den Kritiker:innen der Schneekanonen durch weitere Zukunftsbilder ergänzt. Meist waren das düstere Vorstellungen, die eine dystopische Zukunft antizipierten. Als man beispielsweise Ende der 80er-Jahre damit begann, dem Kunstschnee abgestorbene Bakterien als Gefrierkeime beizumischen, präsentierte dies die Rote Anneliese aus dem Wallis 1990 als Indiz für eine zunehmend durch Gentech geprägte Welt: «Wetten, dass keine fünf Jahre vergehen, bis wir in Zermatt durch lockeren Gentech-Schnee zu Tale stäuben.» Das war zwar eine rhetorische Übertreibung, dennoch förderten solche düsteren Zukunftsvisionen ein Verständnis von Kunstschnee, der sich von natürlichem Schnee unterscheiden liess – und dessen falscher Zukunft man individuell in der Gegenwart entkommen konnte. In Bern forderte beispielsweise 1993 ein Leser in einem Leserbrief an den Bund eine «Deklarationspflicht für diese Sorte von Bodenbelag. ‚Achtung Sie fahren jetzt zweihundert Meter über Kunstschnee!’ Von Herzen gerne werde ich dann meine Skis ausziehen und sie diese Strecke tragen.» Solche Forderungen gab es auch als umweltpolitische Handlungsanweisungen. So enthielt beispielsweise das Umweltkompendium für den privaten Haushalt in der Schweiz von 1990 den Rat: «Willst du beim Skifahren die Umwelt möglichst wenig belasten? Du kannst dich an folgende Regeln halten: [...] Nicht auf Kunstschnee fahren.»

Backyard Syndrome

Kunstschnee entkommt man auf der Piste allerdings kaum, denn er lässt sich von natürlichem Schnee nicht unterscheiden. Und doch gibt es Unterschiede: Wenn Schnee unabhängig vom Wintereinbruch produziert werden kann, dann funktioniert die etablierte menschliche Sensorik nicht mehr. Das führte zu ganz neuen Problemen. 1987 machte die amerikanische Zeitung «The Boston Globe» einen Unterschied zwischen einem «realen» und einem «psychologischen» Schnee. Ersterer befindet sich auf der Piste. Letzterer schneit in den Städten und fungiert dort als «visual reminder that it's time to get out the old skis, buy that new parka and make those condo reservations». Fehlte es an psychologischem Schnee, dann reichte aber auch der schönste reale Schnee nichts. Als «backyard syndrome» wurde dieses Problem in den folgenden Jahren von den Skigebieten beschrieben: «People think if they don't have snow in their backyard, we don't have snow», so erklärte es einst ein amerikanischer Skigebietsbetreiber.


Auch Schweizer Skigebiete kennen dieses Problem. 1996 wurde in der Berner Tagwacht die Klage des Betriebsleiters von Adelboden laut. Dieser sollte sich nach einer Umzonung eigentlich freuen, da es ihm nun erlaubt war, sein Skigebiet zu beschneien. Allerdings bemerkte er, dass die Gäste trotz beschneiter Pisten am Berg aufgrund des schönen Wetters im Tal ausblieben: «Der Glaube an den Schnee ist im Unterland nicht vorhanden.» Den Menschen eine neue Antizipationsfähigkeit über die zu erwartende Pistenqualität am Berg anzulernen beziehungsweise, so der ironische Kommentar der Berner Tagwacht, «den UnterländerInnen einfach noch verständlich machen, dass die Skisaison nichts mit dem Schnee zu tun hat», bildete in den folgenden Jahren eine der wichtigsten Aufgabe der Marketingabteilungen der Skigebiete.

Einige Betreiber:innen wählten drastische Mittel hierfür. Der Direktor des Sunday River Resorts in Maine lud beispielsweise 1980 einen Lastwagen voll mit Kunstschnee, den er in das drei Stunden entfernte Boston transportierte und dort medienwirksam in einem Park entlud. Eine etwas subtilere Methode wählte das amerikanische Skigebiet Killington, das seit der Skisaison 1963/64 auf Schneekanonen setzte. So erzählte man sich zumindest später, dass die Betreiber:innen von Killington in den 70er-Jahren Zeitungen dazu drängten, sie sollten doch den Schneebericht in Zukunft bereits im November abdrucken, statt wie bisher erst im Dezember. So würden die Kund:innen früher damit beginnen, den Ausflug ins Skigebiet als Option für ihre Freizeitvergnügen zu berücksichtigen und sie würden endlich verstehen, dass sich Pistenqualität nicht über den visuell sichtbaren Wintereinbruch vor dem eigenen Fenster antizipieren lässt.

Welche Zukunft in schneearmen Zeiten?

In den Skiregionen haben sich Schneekanonen durchgesetzt. Gemäss neueren Studien nutzen weltweit bis zu 95 Prozent aller Skigebiete in unterschiedlichem Umfang Beschneiungstechnologien. Doch in klimatisch erwärmten Zeiten, in denen es unsicher ist, ob der Skisport überhaupt eine Zukunft hat, kam es in den letzten Jahren auch wieder vermehrt zu Diskussionen, ob innovative Kältetechnologien die richtige Antwort auf eine schneefreie Zukunft sind. Geprägt ist diese Diskussion bis heute von unterschiedlichen Zukunftsbildern. Jene, die bisher gute Erfahrungen mit Beschneiungsanlagen gemacht haben oder diese selbst kommerziell vertreiben, präsentieren die Schneekanonen als anpassungsfähige Apparaturen. Neue Geräte arbeiten immer energieeffizienter, und bei genügend Wasserdruck funktioniert das heute in einigen Schneelanzen sogar ganz ohne Strom. In Form von Produktionsanlagen in geschlossenen Containern ist man zukünftig zudem fähig, Schnee unabhängig von kalten Temperaturen zu produzieren. «You’re not waiting for snow anymore, and you’re not waiting for cold», so zitierte 2023 ein Zeitungsartikel das Zukunftsversprechen eines Vertriebsleiters des italienischen Schneekanonenherstellers TechnoAlpin.

Die Zauberworte für viele solcher optimistischen Visionen lauten Automatisierung und Digitalisierung. Wo eine digital vernetzte Beschneiungsanlage automatisch auf den Wintereinbruch reagieren kann und wo man in Echtzeit um die Schneebeschaffenheit aller Pisten weiss, liefert man energieeffizient den Rohstoff für den Wintersport. Wie fast fünfzig Jahre zuvor in Savognin sind solchen technikoptimistischen Versprechen auch ökologische Visionen eingeschrieben. Beispielhaft hierfür liest sich ein Blogbeitrag von Andrea Zwingler, in dem ein fiktiver Blick auf ein Skigebiet im Jahre 2033 geworfen und einige Roboter entdeckt werden, die «nachhaltigen» Schnee herstellen: «At the bottom of the first ski lift some robots are performing maintenance operations, by shooting snow created from recycled sewage water.»

Ausblick

Während für die einen die wünschenswerte Zukunft aus technologischem und wissenschaftlichem Fortschritt resultiert, entsteht diese für andere aus einem Umdenken, wie der Mensch die Berge im Winter nutzen kann. Ein solches Beispiel findet sich aktuell beim Coordinamento «Salviamo il Monte San Primo», einem Zusammenschluss von verschiedenen Gruppen, die sich gegen den Bau neuer Skilifte und Beschneiungsanlagen auf dem San Primo nahe dem Comer See wehren. Anstatt öffentliche Gelder für die Erneuerung eines Skigebiets aufzuwenden, das angesichts der Klimaerwärmung auf dieser Höhe keine Zukunft hat, würde man das Geld besser für neue Wanderwege und öffentliche Verkehrsanbindungen einsetzen, so die Aktivst:innen. Das oben zitierte «you’re not waiting for snow anymore, and you’re not waiting for cold» gilt hier ebenfalls als neue Antizipationserwartung – mit dem Unterschied, dass man nicht mehr auf Schneekanonen zurückgreift, und die Realität sichtbar macht.

Zukunftsbilder spielen seit einiger Zeit auch für das Institut Kulturen der Alpen eine wichtige Rolle, und dies nicht nur als kulturhistorische Auseinandersetzung mit Zukunftsszenarien aus der Vergangenheit. Im Frühjahr 2024 wurde der interdisziplinäre Arbeitsbereich «Alpine Futures Literacy» geschaffen. Die Zukunftskompetenz zu stärken ist ein wichtiges Mittel, um Limitierungen der eigenen Vorstellungskraft zu entgehen: Wer im Wissen um die Vergangenheit selbstbestimmt mit Zukunftsbildern zu interagieren weiss, findet auch neue Antworten auf die Dringlichkeiten der Gegenwart.

Sozio-technische Imaginationen werden auch kulturell flankiert oder kritisiert, beispielsweise in der Literatur. Ein Beispiel hierfür findet sich bei der indischen Autorin Arundhati Roy. Diese veröffentlichte 2008 die für die «Manifesta 7» in Trentino als theatrale Performance konzipierte Science-Fiction-Kurzgeschichte «The Briefing». Darin inszeniert sie einen Kampf um Schnee, der infolge des Klimakollaps immer knapper wird, als kriegerische Auseinandersetzung: «Most ski resorts use artificial snow now. Almost every resort has a cannon. Every cannon has a brand. Every brand is at war. Every war is an opportunity.»

Indem Roy den Begriff der Schneekanone wörtlich nimmt, verzahnt sie das Verhältnis von Ökonomie, Natur und Kältetechnologie neu. Auch aufgrund solcher prägnanter Re-Arrangements lohnt sich die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Formen der kulturellen Wahrnehmung von Schneekanonen.


Roy, Arundhati (2009): The Briefing. In: Field Notes on Democracy: Listening to Grasshoppers. Chicago, 202–210.

Adams, Vincanne / Murphy, Michelle / Clarke, Adele E. (2009): Anticipation: Technoscience, life, affect, temporality. In: Subjectivity 28 (1), 246–265.

Frick, Jonas / Widmer, Nils / Previšić, Boris (2024): Klimaregime und Sehnsucht Wintersport. In: swissfuture. Magazin für Zukünfte, 6–13.

Höhne, Stefan / Friedrich, Alexander: Frischeregime (2014): Biopolitik im Zeitalter der kryogenen Kultur. In: Glocalism. (17.07.2023).

Jasanoff, Sheila / Kim, Sang-Hyun (Hg. 2015): Dreamscapes of Modernity: Sociotechnical Imaginaries and the Fabrication of Power- Chicago.

Lemke, Thomas (2022): Biopolitik revisited: Ein neues Regime der Kryopolitik? In: Polarisierte Welten. Verhandlungen des 41. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bielefeld. (20.07.2024).

Lorentz, Karen (2009): Killington: a Story of Mountains and Men. Shrewsbury.

Zwingler, Andrea (2018): A Day in a Ski resort in The Future. Online (20.07.2024).