Elisabeth Joris, Rotpunktverlag ZH (© M. Volken)

Elisabeth Joris, Rotpunktverlag ZH (© M. Volken)

Elisabeth Joris, Rotpunktverlag ZH (© M. Volken)

Elisabeth Joris & Aline Stadler, Rotpunktverlag ZH (© M. Volken)

Und die Schweiz schaut bis heute weg: Mattmark 1965 – INTERVIEW MIT...

Vor 60 Jahren ereignete sich auf Mattmark im Walliser Saastal der grösste Bauunfall der Schweiz: Eine Eislawine forderte am 30. August 88 Arbeitskräfte, darunter waren 56 italienischer Herkunft. Ein Ereignis, das hierzulande im kollektiven Gedächtnis nicht präsent ist. Historikerin Elisabeth Joris hat Zeitzeuginnen getroffen – und beleuchtet Mattmark in einer neuen Publikation. 

Ein Interview von Aline Stadler

Elisabeth Joris, der Bau des Staudamms Mattmark war ein Grossprojekt mit insgesamt bis zu 1400 Arbeitskräften vor Ort. Sie sind in Visp aufgewachsen und waren im Wallis, als sich die Gletscherzunge vom Allalingletscher loslöste. Wie haben Sie diese Zeit in Erinnerung?

Als sich das Unglück ereignete, war ich 19-jährig, habe gerade die Schule abgeschlossen und stand kurz vor meinem Au-pair-Aufenthalt in London. Die Erinnerung an das Bauprojekt war schon immer eine doppelte: Zum einen identifizierten sich die Menschen vor Ort mit dem Projekt, dem grössten Erddamm Europas, und zum anderen war stets eine Angst da, das etwas passieren könnte.

Im Jahr 1965 befand sich das Bauprojekt bereits in der Endphase, man arbeitete in hohem Tempo und wollte mit einer Teilflutung bereits Geld erwirtschaften. Die im leeren Seebecken aufgebauten Werkstätten und Baracken wurden zugunsten der Teilflutung und ohne Risikoabklärungen transferiert und der bereits bestehende Bauplatz unterhalb des Allalingletschers vergrössert. Am 30. August, um 17.15, donnerte die Eislawine kurz vor Schichtwechsel hinunter und man sagt sich; wäre sie etwas später eingetroffen, hätte sie möglicherweise noch mehr Menschen begraben, schlimmstenfalls doppelt so viele aufgrund des Schichtwechsels. Das Grossereignis erschütterte das gesamte Wallis. Doch heute muss ich feststellen: Ausserhalb des Saastals ist die Katastrophe im kollektiven Gedächtnis nicht präsent.

Welchen Ruf hatte das Staudammprojekt bei den Einheimischen vor dem Unfall? Die Arbeiten wurden im Jahr 1960 aufgenommen – wie kam dieses Projekt bei den Saastaler Bewohner:innen an?

Das Projekt hat Zukunft versprochen, Almagell im hinteren Saastal war ein armes Bergdorf, lag am «Ende der Welt». Das Staudammprojekt stand für Fortschritt, es wurden Strassen gebaut und Arbeitsplätze geschaffen. Doch innerhalb der lokalen Bevölkerung war das Staudammprojekt umstritten. Für die Einheimischen bedeutete es, Land abzugeben. Wollte man dies nicht, wurde mit Expropriation gedroht. Für Familien, die etwa aus der Bau- oder Tourismusbranche ein bedeutenderes Einkommen bezogen, war der Landverkauf eine zusätzliche finanzielle Einnahme. Doch für die Ärmeren bedeutete die Landabgabe vor allem eine Abgabe an ökonomischer Ressource. Einige Bauernfamilien beispielsweise konnten ihr Vieh nicht mehr auf die Distelalp treiben, da diese für den Damm unter Wasser gesetzt wurde. Auch musste der Weiler Zermeiggern mitsamt einer barocken Kirche dem Auffangbecken sowie dem Basislager der Baustelle weichen. Übrigens: Wenn man heute am Mattmark-Stausee entlangläuft und weiss, wo sich das ehemalige Hotel Mattmark befand, kann man die Ruine im Wasser erkennen…

Auf dem Damm selbst arbeiteten einerseits Männer aus dem Saasstal, ein Grossteil jedoch war italienischer Herkunft. Wie sahen ihre Arbeits- und Lebensumstände aus?

Die italienischen Arbeitskräfte lebten als Saisonniers, nicht selten kamen mehrere aus demselben Dorf, einige aus dem venetischen Belluno. So existierten bereits vor Arbeitsbeginn kleine Gemeinschaften. Vor Ort gab es dann zwei Barackendörfer; das Basislager in Zermeiggern und der Bauplatz direkt unterhalb des Allalingletschers. Im Basislager wohnte man, hier befanden sich die Schlafunterkünfte, Sanitäranlagen, Krankenbetten sowie ein Grossbüro und Werkstätten. Ein Bus fuhr jeweils zu Schichtwechsel 450 Meter talaufwärts zum Bauplatz. Es wurde auch in der Nacht gearbeitet, wovon eindrückliche Fotoaufnahmen der beleuchteten Baustelle in der Nacht zeugen. In einer Kantine auf dem Bauplatz gab es zu essen am Mittag und um Mitternacht und zweimal noch zwischendurch. Es war eigentlich ein 7-Tage-Betrieb. In einzelnen Grundverträgen sind 56 Stunden pro Woche festgehalten, doch es wurden viele zusätzliche Stunden gearbeitet. Für mich ist nicht nachvollziehbar, wie so viele Arbeitsstunden geleistet werden konnten.

Sie befassen sich im Buch im Besonderen mit den – bisher unsichtbaren - Rollen der Frauen in und um Mattmark. Welchen Tätigkeiten gingen die im Staudammprojekt involvierten Frauen nach?

Frauen waren einerseits als Fachkräfte vor Ort im Einsatz – in der Krankenpflege, im Sekretariat, in der Kantine oder Reinigung. Hierzu muss erwähnt werden, dass für das Staudammprojekt viele Ehepaare italienischer Herkunft angeworben wurden. Andererseits waren Frauen indirekt involviert: Die Hälfte der Saisonniers war verheiratet, wobei die Frau grösstenteils in Italien blieb und sich um Haushalt und Familie kümmerte. Das Konstrukt «Saisonnierstatut», das wir in der Schweiz für 70 Jahre hatten, impliziert immer auch die Frau, ohne, dass sie benannt wurde. Doch erst ihr Aufrechterhalten des Heims ermöglichte die auswärtige Arbeit der Männer.

Das Saisonnier-Statut riss Familien auseinander. Hauptbahnhof Zürich, 60er-Jahre.  © Gretlers Panoptikum

An beiden Orten, in Mattmark und zu Hause, sind Frauen als aktiv Handelnde nicht präsent, ausser auf einzelnen Fotoaufnahmen aus der Kantine. Die qualifizierten weiblichen Fachkräfte, die in der Krankenpflege und im Sekretariat tätig waren, waren alles Schweizerinnen mit Herkunft ausserhalb des Saastals. Die Krankenpflegerin Maria Testa beispielsweise kam aus Zürich – sie ist auf keiner einzigen Fotoaufnahme aus dieser Zeit ersichtlich.

Die Krankenpflegerin Maria Testa, heute 95-jährig, bildet in Ihrer Recherche eine wichtige Figur. Sie identifizierte die Toten vor Ort eigenständig mittels eines mobilen Röntgenapparates. Sie haben sie persönlich zum Gespräch getroffen.

Maria Testa spielt für mich eine wichtige Rolle in der Aufarbeitung dieser Geschichte – als Krankenpflegerin war sie nahe an den Arbeitskräften und hat die meisten gekannt. Sie war indirekt auch ausschlaggebend für dieses Buch: Als ich mich auf einer Wanderung im Sommer 2019 in Saas-Almagell befand, sprach ich die Hotelière auf das Staudammprojekt an und fragte, ob Sie eine Zeitzeugin kennt. Sie nannte mir sogleich Maria Testa, die gerade erst abreiste – immer zum Gedenktag am 30. August war sie vor Ort, Jahr für Jahr. Ich kontaktierte sie und wir trafen uns in Hergiswil Anfang 2020 zu einem sehr eindrücklichen Gespräch. Maria Testa übernahm zusammen mit ihrer Kollegin auf Mattmark die Krankenpflege und versorgte bis zu 20 Personen, besuchte mindestens einmal wöchentlich die Baustelle und führte auch das Labor. Sie kannte eigentlich alles und war das ganze Jahr über vor Ort – damit bildete sie eine Kontinuität auf Mattmark.

Und wie hat Maria Testa die Katastrophe erlebt?

Sie war sogleich am überschütteten Bauplatz und es herrschte Totenstille. Die Eislawine war von Menschenhand nicht zu durchbrechen, sie vergrub 88 Personen. Mit einem Verletzten fuhr sie ins Spital in Visp, doch er verstarb sogleich. Mattmark ist ein Ereignis, das tiefgreifende Spuren bei ihr hinterliess. Deshalb besucht sie bis heute jedes Jahr den Ort am Gedenktag. Nie hat man sie zur Kenntnis genommen, nie hat man von ihr gesprochen.

Maria Testa 2024 am Gedenktag auf Mattmark zusammen mit Ilario Bagnariol aus dem Friaul, ehemals Maschinist beim Bau des Staudamms.  © EFASCE - Pordenonesi nel Mondo. 

Kommen wir darauf zu sprechen, was nach dem Unfall passierte: Bundesrat Bonvin wies mit der Argumentation der «Unvorhersehbarkeit» jegliche Schuld der Bauverantwortlichen ab und ETH-Professor für Hydraulik Gerold Schnitter – der vor Baubeginn vor möglichen Gefahren eines Gletscherabbruchs warnte – unterstützte seine Argumentation. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Wallis erhob jedoch Klage gegen 17 Personen wegen fahrlässiger Tötung. Was passierte dann?

Vom Bezirksgericht Visp wurden alle Angeklagten freigesprochen, doch dagegen erhob der Staatsanwalt und ein Teil der Opferangehörigen Rekurs. Laut seinem 80-seitigen Urteilsentwurf wollte der in diesem Fall federführende Walliser Kantonsrichter Paul-Eugen Burgener als einziger der fünfköpfigen Rekursinstanz vier verantwortliche Ingenieure der bauführenden Firma Elektrowatt verurteilen. Doch er wurde von den anderen vier Richter, die (wie die Anwälte der Angeklagten) mit der dominierenden Walliser CVP verbunden waren, überstimmt. Alle Angeklagten wurden freigesprochen.

Und wie war die Reaktion darauf vonseiten Italien? Unter den 88 Opfern befanden sich 56 italienischer Herkunft, darunter 17 aus Belluno…

Pure Empörung. Und es handelt sich um eine doppelte Empörung: Einerseits waren die Betroffenen empört über die Freisprechung aller Angeklagten – man darf nicht vergessen, dass die Mattmark-Geschichte zur selben Zeit wie die Schwarzenbach-Initiative (1970) lief. Für Italien war dies eine Bestätigung für Fremdenfeindlichkeit, es war «typisch Schweiz». Andererseits waren sie empört über die fehlende Empathie gegenüber den Arbeitskräften und Angehörigen. Hinzu kam nämlich die Aufforderung, dass die Angehörigen die Hälfte der Gerichtsprozesskosten übernehmen. Es wurde also nicht lediglich alle Verantwortung abgewiesen und die Angeklagten freigesprochen – man musste auch noch zahlen. Die italienische Botschaft in Bern hat diese Kosten im Auftrag der Regierung für die Angehörigen übernommen.

Am Morgen danach wird das Ausmass des Unfalls erst wirklich deutlich. © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv: Com_L14-0616-0027-0002

Die Erinnerung an Mattmark muss auf italienischer und schweizerischen Alpenseite sehr unterschiedlich ausfallen. Wie unterscheiden sich die jeweiligen Erinnerungskulturen?

In der Schweiz erinnert man sich hauptsächlich an den Staudamm als Ausdruck von Fortschritt und Energieerzeugung, mit Stolz bezeichnet man sie als «Wasserschloss Europas». Mattmark ist eher im Wanderführer zu finden als in der öffentlichen Wahrnehmung. Hierzulande erinnert man sich nicht an die Arbeitskräfte, welche die moderne Schweiz gebaut haben. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte – welche die grössten Infrastrukturbauten in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert realisierten – sind Migranten. Die Baracken, die nur temporär eingerichtet sind, stehen dafür. Sie verschwinden wieder, selbst bei der Grand Dixence wird nicht an sie erinnert.

In Italien ist es umgekehrt: Migration ist ein identifikatorisches Element der Nation. Schweizer Unternehmen gingen regional vor, rekrutierten Frauen für die sogenannte «Leichtindustrie» wie die Stickerei und Männer für die Baustelle. Es entstand eine sogenannte Kettenmigration, wenn über Beziehungsstrukturen immer mehr Leute aus einer Region zur selben Firma arbeiten gingen. Folglich war auch Mattmark unterschiedlich in der öffentlichen Wahrnehmung präsent: In Belluno war die Betroffenheit gross, man gründete die «Associazione Bellunesi nel Mondo», lancierte eine Zeitung und gründete Sektionen für Opferangehörige. In der Schweiz wurde der Unfall durch die Freisprechung der Angeklagten als «unvorhersehbares» Ereignis abgetan. In der Figur des Walliser Bundesrats Bonvin kommt die Verbindung zwischen dem tonangebenden Zürich – der Firma Elektrowatt und der ETH – den politischen Interessen und den alpinen Randregionen zusammen. Ohne ihn, der die lokale Bevölkerung und Behörde von dem Staudammprojekt überzeugte, wäre Mattmark möglicherweise nicht zustande gekommen. Die für die Planung und Finanzierung zuständige Firma Elektrowatt war global tätig und zum Beispiel auch am Bau des Atatürk-Staudammes am oberen Euphrat beteiligt. Sie ist eine Tochterfirma von Credit Suisse, und die Credit Suisse wurde von Alfred Escher gegründet, der wiederum eine prägende Rolle in der ETH und den grossen Ingenieurprojekten spielte. Eine Verurteilung der Involvierten hätte nicht nur Mattmark betroffen, sondern das Renommee der gesamten Schweiz angekratzt.

In der Kantine nach der Katastrophe kommen Arbeiter und Angestellte zur gegenseitigen Anteilnahme, zum Informationsaustausch und zur Trauerfeier für die Opfer zusammen. © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv: Com_L14-0616-0033-0005

Das Argument der «Unvorhersehbarkeit» war bis vor 10 Jahren unumstösslich – eine Wende bewirkt erst Journalist Kurt Marti durch seine Analysen der Gerichtsprozesse. Was hat er vorgefunden?

Kurt Marti veröffentlichte bereits 2005 seine Recherchen in der Walliser Zeitung «Rote Anneliese», für welche ein internationaler Expertenbericht 1967 die Grundlage bildete. Er zeigte auf, dass es vor dem Unfall sehr wohl Anzeichen für Gefahren durch den Allalingletscher gab, welche die Elektrowatt-Ingenieure jedoch nicht ernst nahmen und daraufhin keine Massnahmen ergriffen. Die Dokumentation «Das Unglück von Mattmark» von 2015, in dem Cristina Karrer mit Kurt Marti über seine Recherchen spricht, brachte das «Unvorhersehbarkeits»-Dogma ins Wanken.

Verblüffend ist, dass der erwähnte Urteilsentwurf von Kantonsrichter Burgener – er setzte sich für die Verurteilung vier Angeklagter ein – nirgends in den archivierten Justizakten auffindbar war. Das wirft die Frage auf: Hat dies Jemand aktiv verschwinden lassen? Hat es einer der vier Richter quasi verbrannt? Wir wissen es nicht. Kurt Marti hat Burgeners Argumentation für eine Verurteilung erst bei seiner Verwandtschaft, in seinem persönlichen Nachlass, ausfindig machen können.

Ihr Buch geht gegen das Vergessen vor – in diesen Tagen jährte sich der Gedenktag zum 60. Mal. Waren Sie auf Mattmark am 30. August?

Ja, und auch einige wichtige italienische Persönlichkeiten waren vor Ort. Italien war vonseiten Generalkonsularin, Botschafter, Minister und Oppositionsvertreterin gut vertreten. Aus dem Wallis erschien Staatsrat Mathias Reynard. Und dieser entschuldigte sich im Namen der Kantonsregierung offiziell – in einer höchst ergreifenden und immer wieder von Applaus unterbrochenen Rede – für die Haltung der Walliser Regierung zwischen 1965 und 1972. Von der offiziellen Schweiz dagegen war niemand da. Es ist hierzulande bis heute kein Schweizer Ereignis.

Möge Ihre Publikation in der Sichtbarmachung dieses Ereignisses etwas bewirken. Wenn Sie auf Ihre Interviews mit den involvierten Zeitzeuginnen zurückblicken: Was nehmen Sie persönlich mit von diesen Begegnungen?

Mich berührten besonders die Begegnungen mit den Schwestern Vreni Zengaffinen-Anthamattan und Ida Zurbriggen-Anthamatten sowie mit Maria Testa. Mich beeindruckt, mit welcher Klarheit sie über diese Zeit sprechen. Beide Treffen waren bereichernd und eindrucksvoll – insbesondere auch, weil diese Frauen direkt involviert und gleichzeitig über Jahrzehnte nicht als handelnde Figuren sichtbar waren. Maria Testa identifizierte sich mit dieser Baustelle. Es herrscht(e) eine absurde Unsichtbarkeit dieser Frauen vor – und wenn man mit ihnen spricht, ist es wie Tag und Nacht: ein ungeheuerer Kontrast zu diesem Nicht-Wahrnehmen. 

Maria Testa und Elisabeth Joris am 30. August 2025 zum 60-jährigen Gedenktag auf Mattmark. © Elisabeth Joris

Elisabeth Joris, herzlichen Dank für dieses aufschlussreiche, bewegende Gespräch!

In der Neuerscheinung «Mattmark 1965. Erinnerungen, Gerichtsurteile, italienisch-schweizerische Verflechtungen» wird das grosse Unglück im Walliser Saastal vom 30. August 1965, welches 88 Menschen begrub, beleuchtet. 

Mit Beiträgen von Thomas Burgener, Kurt Marti, Vasco Pedrina, Kurt Regotz, Andreas Weissen und Andrea Delvescovo, Elisabeth Joris. Erschienen beim Rotpunktverlag am 04.08.2025.