Alpines Museum, Bern BE (© M. Volken)

Klimaschutz und Alpenschutz: Jon Pult und Django Betschart von der Alpen-Initiative im Gespräch

In den Alpen befindet sich nicht nur das Klima, sondern auch das Landschaftsbild in starkem Wandel. Wie können Lebensräume geschützt und gleichzeitig Klimamassnahmen ergriffen werden? Ein Gespräch mit Jon Pult (Präsident der Alpen-Initiative) und Django Betschart (Geschäftsleiter der Alpen-Initiative) zu neuen Perspektiven im Alpenraum.

Syntopia Alpina: Die Alpen sind besonders stark von der Erderwärmung betroffen. Jon Pult und Django Betschart, die Alpen-Initiative engagiert sich für dieses ökologisch sensible und bedrohte Gebiet seit über 30 Jahren. Wie wird sich das alpine Landschaftsbild angesichts der Klimaerwärmung in den nächsten Jahren verändern?


Jon Pult: Wir Menschen in den Alpen und unsere Tier- und Pflanzenwelt bekommen die Auswirkungen des Klimawandels schon jetzt zu spüren. Das Bergland erwärmt sich schneller als das Flachland, weil in den Bergen immer weniger und kürzer Eis und Schnee liegt. Weil damit der Anteil der weissen Flächen sinkt und die dunklen steigen, heizt sich das Gebirge auf – zusätzlich zum «normalen» Anstieg durch die Treibhausgase. Die immer milderen Winter und trockenen Sommer haben die Waldgrenze ansteigen lassen. Durch das wärmere Bergklima finden die Bäume heute die richtigen Bedingungen zum Teil noch oberhalb von 2'500 Meter über Meer, auf einer Höhe, auf der sie vor ein paar Jahren nicht hätten wachsen können.


Django Betschart: Man könnte meinen, den Bergwäldern geht es dadurch besser. Doch die langen Hitzewellen und Dürren lassen die Bergwälder austrocknen und hinterlassen leicht brennbares Totholz. Die Folgen sind mehr und sich schnell ausbreitende Waldbrände. Zunehmender Starkregen weicht die Böden auf, und die Baumwurzeln verlieren ihren Halt. Die Folge davon sind zunehmende Erosion und ein Schutzwald, der die oft exponierten Siedlungen im Alpenraum nicht mehr vor Steinschlägen, Murgängen und Lawinen schützt.

Zu den sich verändernden Bergwäldern kommen als Folge der Klimaerwärmung schmelzende Gletscher und auftauender Permafrost. Was bedeutet das für die Alpen als Lebensraum?


DB: Im Vergleich zu 1931 haben die Gletscher heute mehr als die Hälfte ihrer Eismasse verloren. Damit droht die Schweiz in naher Zukunft eines seiner Identifikationsmerkmale und seinen wichtigsten Wasserspeicher zu verlieren. Wir stehen vor neuen «Naturereignissen» wie Gletscherabbrüchen oder Gletscherseeausbrüchen.


JP: Und dadurch können künftig Wasserknappheiten nicht mehr durch die Gletscherschmelze ausgeglichen werden.


DB: Nicht nur die Gletscher schmelzen, auch der Permafrost taut auf. Dieser hält als «Leim der Alpen» die Gebirge zusammen. Mit seinem Verlust drohen ganze Flanken zu Tal zu stürzen, und Steinschläge und Murgänge bedrohen die Dörfer und Infrastruktur.


JP: Auch die Landwirtschaft spürt den Klimawandel und muss auf die immer häufiger auftretenden Extremereignisse reagieren. Viele Bäuer:innen sind sehr besorgt. Trotzdem agiert der Bauernverband sehr konservativ und gehört leider noch immer zu den klimapolitischen Bremsern. Die Landwirtschaft hat nicht einmal eigene Klimaziele! Das ist völlig unverständlich.

Zentrales Thema für die Alpen-Initiative ist unter anderem der alpenquerende Güterverkehr auf der Schiene. Derzeit hat dieser einen Anteil von 75 Prozent. Was sind wichtige künftige verkehrspolitische Schritte für den Alpen- und Klimaschutz? Kann überhaupt noch mehr Verkehr auf die Schiene?


DB: Seit der gewonnen Abstimmung 1994 arbeiten wir unermüdlich an der Umsetzung des Alpenschutzartikels. Die Verlagerung des alpenquerenden Güterverkehrs auf die Schiene in der Schweiz ist eine Erfolgsgeschichte, es hat sich viel getan: Die Lastwagenfahrten über die Alpen sind von über 1'400'000 auf etwa 850'000 Fahrten gesunken. Doch das gesetzliche Ziel von 650'000 alpenquerenden Lastwagenfahrten wurde bisher noch nicht erreicht. Auch darum ist unsere Arbeit noch lange nicht getan. Denn: Ja, es hat Platz für einen höheren Anteil an Güterverkehr auf der Schiene und diese Verlagerung braucht es. Wir setzen uns weiterhin für eine aktive Verlagerungspolitik ein – zum Wohle der Bevölkerung in den Alpen und in der ganzen Schweiz.

Django Betschart. Foto: Marco Volken.

JP: Unsere Bemühungen werden belohnt. Von der Politik, der Verwaltung und den Branchenakteuren werden wir als eine wichtige Mitspielerin in der Verlagerungspolitik wahrgenommen. Wir setzen uns dafür ein, die Rahmenbedingungen für den Schienengüterverkehr durch die Alpen und in der Fläche zu verbessern und die Dekarbonisierung des gesamten Güterverkehrs, insbesondere des Strassengüterverkehrs, voranzutreiben.


Hierfür hat die Alpen-Initiative den Plan «Klimaneutraler Güterverkehr bis ins Jahr 2035» erstellt, mit welchem der gesamte Güterverkehr in drei Phasen klimaneutral gemacht werden soll. Was bedeutet das konkret?


DB: Die Menge der transportierten Güter muss markant zurückgehen. Deutlich mehr Güter sollen mit der Bahn statt mit Last- und Lieferwagen transportiert werden. Und die Städte und Agglomerationen brauchen effiziente Logistik-Konzepte. Es sind möglichst wenig Last- und Lieferwagen einzusetzen. Die wirklich notwendigen Fahrten auf der Strasse müssen klimaneutral und möglichst emissionsarm abgewickelt werden.


JP: Viele meinen, es gäbe ein allgemein gültiges Verlagerungsziel. Dem ist leider nicht so. Weil für den Güterverkehr in der Fläche verbindliche Regeln fehlen und die Schiene zu wenig gefördert wird, wandert immer mehr auf die Strasse. Das wollen und müssen wir ändern. Als ersten Umsetzungsschritt fordern wir ein verbindliches Verlagerungsziel für den gesamtschweizerischen Güterverkehr; ein ambitionierter Anteil des Güterverkehrs soll auf der Schiene abgewickelt werden. Wir wollen das Erfolgsrezept der Alpen-Initiative auf die ganze Schweiz anwenden und damit noch mehr Güter auf die Schiene bringen. Damit schützen wir unsere Gesundheit, das Klima und nicht zuletzt auch die besonders sensiblen Alpen.

Sei es der langsame Tourismus oder das nachhaltige Bauen: Wie gelingt ein nachhaltiger, auf die jeweilige Region angepasster Kulturwandel im Alpenraum?


JP: Wir müssen in einem Vierteljahrhundert faktisch eine industrielle Revolution hinkriegen, um rechtzeitig bei Netto Null zu sein. Der Alpenraum kann dies nicht allein stemmen, sondern braucht Unterstützung durch den Bund in Form grosser Investitionen. Wir brauchen eine mutige Politik, die dem Klimawandel entschlossen entgegentritt und auch vor unbeliebten Entscheidungen nicht zurückschreckt. Ebenso vonnöten ist die Beteiligung der Bürger:innen und das Know-how von Fachexpert:innen. Die Klimaneutralität ist eine kollektive Aufgabe unserer Generation.


DB: Dieses kollektive Reflektieren über die Herausforderungen der Zeit finde ich extrem wichtig. Inspirierend war etwa die internationale «AlpenWoche» vom vergangenen Jahr, an der wir mit verschiedenen Alpenschutzorganisationen aus dem ganzen Alpenbogen an der Zukunft der Alpen gearbeitet haben. Gemeinsam wurde die Forderung erarbeitet, dass der Verkehr in und durch die Alpen bereits 2040 klimaneutral sein muss. Wer besonders betroffen ist – die Bevölkerung vor Ort – hat auch das Recht, besondere Hebel in Bewegung zu setzen.


Um Klimaneutralität zu erreichen, braucht es also ein kollektives Umdenken in den Bereichen Energie, Wirtschaft, Tourismus und Raumplanung. Wie kann das erreicht werden?


JP: Wirtschaftlich muss der Alpenraum künftig überleben können, ohne zu stark auf den Wintertourismus angewiesen zu sein. Wir müssen mehr auf einen ressourcenschonenden Sommertourismus in den Alpen setzen, der nicht zuletzt energieeffizienter als die Wintersaison ist. Mit dem Wanderprogramm der Alpen-Initiative beispielsweise zeigen wir interessierten Menschen die Schönheit der Alpen im Sommer abseits des Wintertourismus. Dann braucht es eine vernünftige Raumplanung. Einerseits müssen die öffentlichen Verkehrsverbindungen verbessert und ausgebaut, andererseits die Zersiedelung gestoppt werden, und zugleich braucht es genügend bezahlbaren Wohnraum in den Talschaften. Die Zweitwohnungsgesetzgebung ist darum wohl im Interesse der Einheimischen zu verschärfen.

Jon Pult. Foto: Marco Volken.

DB: Mein Heimat- und Wohnkanton ist mit dem total zersiedelten Talkessel Schwyz ein abschreckendes Negativbeispiel in Sachen Raumplanung. Vergangene Sünden müssen wir nun auf verschiedenen Ebenen wieder wettmachen. Bei Neubauten können wir zum Beispiel stärker auf Holz setzen. Unsere Schweiz hat viel Wald. Der Einsatz von Materialien, die direkt vor unserer Haustüre wachsen, fördert die Kreislaufwirtschaft und verhindert unnötige Transportwege, und ist deutlich klima- und umweltfreundlicher. Das Walliser Unternehmen «Auprès de mon arbre» verfolgt beispielsweise diesen Ansatz.


Und zum Schluss: Wie kann Alpenschutz in naher Zukunft gestärkt werden?


JP: Ausblickend ist für den Alpenraum die Abstimmung über das Klimaschutz-Gesetz am 18. Juni 2023 von grosser Wichtigkeit. Dank dem politischen Einsatz der Alpen-Initiative werden die Alpengebiete mit dieser Vorlage neu auf ihrem Weg zur Klimaneutralität unterstützt. Klimaschutz ist Alpenschutz und Alpenschutz ist Klimaschutz.

Die Alpen-Initiative hat zum Ziel, das einzigartige und ökologisch sensible Alpengebiet zu schützen und als Lebensraum zu erhalten. Als unabhängige Schweizer Umweltorganisation verwirklicht sie eine nachhaltige Verkehrspolitik und engagiert sich für griffige Klimaschutzmassnahmen. Denn nach wie vor fahren mehr Camions durch die Berge als das Gesetz erlaubt, der Freizeit- und Lieferwagenverkehr durch die Alpen nimmt seit Jahrzehnten ungebremst zu und der Güterverkehr erstickt die Schweiz auch in der Fläche. Diese Fehlentwicklungen machen allen zu schaffen, von der lokalen Bevölkerung bis zur Steingeiss, von der Bergföhre bis zu unserem Klima, das dadurch aus dem Gleichgewicht gerät.

Die Alpen-Initiative hat sich zum Ziel gesetzt, dass der gesamte Güterverkehr in der Schweiz bis 2035 klimaneutral wird. Dazu hat sie einen Plan erarbeitet. Zusätzlich macht sie mit einer Kampagne auf die wachsenden Transportdistanzen aufmerksam. Mit Alpen-Erlebnissen sensibilisiert sie die Menschen über den besonderen Wert des Ökosystems Alpen und motivieren sie, dazu Sorge zu tragen.