Verrufen, überhöht, entmystifiziert: Alpine Staudämme in der Literatur
Staudämme werden in der Literatur mit vielfältigen Bedeutungen aufgeladen. Ihnen wird Schönheit zugeschrieben, ihr Bau als Krieg gegen den Berg oder gar als kolonialer Akt aufgefasst. Literarische Werke machen deutlich: Alpine Energieinfrastrukturen erzeugen einiges mehr als bloss Strom.
1966 berichtete die Schweizer Filmwochenschau über die Fertigstellung der Curnera-Staumauer in Graubünden. Der Bau wird einleitend als kalte technische Errungenschaft beschrieben: «Für Poesie ist wenig Raum mehr in unsern Bergen. Eine neue Staumauer, jene von Curnera in der Nähe des Oberalppasses, ist fertiggestellt worden.» Kultur und Infrastruktur erscheinen hier als zwei unvereinbare Kategorien. Im Gegensatz hierzu hat der Anthropologe Brian Larkin in den letzten Jahren mehrfach betont, dass Infrastrukturen nicht nur als materielle Gebilde betrachtet werden sollen, sondern auch eine politisch-ästhetische Dimension besitzen.
Anders gesagt, Bauwerke wie Staudämme generieren – ähnlich wie die Poesie – kulturelle Bedeutungen, die unsere Erwartungen und Wahrnehmungen prägen. Ein Medium, das diese Bedeutung und deren Wandel über die Zeit reflektiert oder selbst produziert, ist die Literatur, die immer wieder von Staudämmen erzählt. Einige Beispiele aus den letzten fünfzig Jahre zeigen exemplarisch auf, welche Auseinandersetzungen dabei entstehen.
Horizontale und vertikale Linien
In Brigitte Kronauers Roman «Teufelsbrück» (2000) begegnet man der Kraftwerksgruppe Kaprun im österreichischen Bundesland Salzburg. Hier wird die Landschaft in Strom umgewandelt – ein Prozess, den sich die Leser:innen als Transformation von Ressourcen in Energie erst einmal gedanklich vergegenwärtigen müssen: «Hätten Sie den Einfall gehabt, wenn Sie dort früher spazierengegangen [sic!] wären, dass man die Landschaft in Wiener Strassenbeleuchtung umwursten kann?».
Dass man sich die Umwandlung der alpinen Ressourcen in Energie denken muss, macht deutlich: Es handelt sich hier nicht nur um eine physikalische, sondern auch um eine soziale und räumliche Verwandlung. Beispielsweise fördert der Staudamm eine Homogenisierung des Raums. Natürliche Friktionen verschwinden und weichen klaren Linien – alles wird «von der Wasserfläche begradigt, horizontale Ordnung des Wasserspiegels, vertikale der Mauern». Während die horizontale Linie des Wassers den menschlichen Gestaltungsprozess sichtbar widerspiegelt, enthält die vertikale Struktur unsichtbare historische Schichten, die kritisch beleuchtet werden müssen, um die einzelnen Elemente lesbar zu machen.
Reportagen aus Kaprun
Um die Bedeutung dieser Schichtung zu erklären, bleiben wir in Kaprun. Das Staudammprojekt wurde in den 1920er-Jahren erstmals angedacht. Der Spatenstich für den Bau erfolgte dann 1938 unter Hermann Göring. In den folgenden Jahren wurde der Bau auch durch Zwangsarbeiter:innen und Kriegsgefangene vorangetrieben. Das Ende des nationalsozialistischen Regimes sorgte für einen kurzen Unterbruch im weiteren Ausbau. Doch nicht für lange. In Christoph Ransmayrs Reportage «Kaprun oder die Errichtung einer Mauer» (1985) wird ironisch auf die «langen Verhandlungen zwischen den Besatzern und den Vertretern eines mit seiner Unschuld beschäftigten Osterreichs» hingewiesen, die dazu führten, dass das Projekt mit seinen verschiedenen Talsperren bereits 1947 mit Unterstützung des Marshall-Plans fortgesetzt wurde.
Die Arbeit in Kaprun war hart. Zwischen 1947 und der Fertigstellung im Jahr 1955 starben mindestens 160 Arbeiter. Doch anstatt diesen und den früheren Opfern zu gedenken, konzentrierte sich das öffentliche Interesse bald auf den Damm als nationale Errungenschaft. So transformierte der Staudamm auch die Geschichtsschreibung. Er wurde zum Symbol des österreichischen Wiederaufbaus, während die Erinnerung an die dunklen Episoden verblasste: «An die düstere erste Bauphase während des Krieges erinnert man sich der Genauigkeit halber nicht», so Ransmayr weiter. Stattdessen erhielt man «klare bis strahlende Bilder, die hochgehalten, immer wieder gesäubert und weiter überliefert werden».
Betonästhetik
Solche strahlenden Bilder entstammen auch einer Reihe geschichtsrevisionistischer Romane. In Werken wie Othmar Franz Langs «Die Männer von Kaprun» (1955) wird das Bild eines Landes gezeichnet, das durch den Bau des Staudamms zusammenwächst und die Vergangenheit hinter sich lässt. In der patriotischen Schilderung wird dem Damm ebenfalls eine homogenisierende Wirkung zugeschrieben. Doch hier geht es nicht mehr wie bei Kronauer um den betrauerten Verlust von Friktionen, weil der Staudamm die Topographie einebnet und damit auch die Natur allzu sehr glättet. Vielmehr wird der Staudamm zum positiven Ausdruck einer patriotischen Tat, bei der das grosse Bauwerk eine neue homogene Volksgemeinschaft hervorbringt, indem es «die Menschen, die es braucht, selber formt», so Lang.
In den patriotischen Romanen ist der Bau ein ständiger Krieg gegen den Berg. Mitunter rächt sich dieser durch Steinschlag und Lawinen. Doch das ist ein Opfer, das zum Wohle der Nation erbracht wird und für das man in den neuen Kampf zieht. «Die Männer, die aus dem Krieg kamen, gingen in einen neuen Krieg.», so erklärt es der Bauleiter bei Lang. Entgegen der historischen Erfahrung hofft man hier auch auf einen anderen Ausgang. So träumen die Menschen plötzlich wieder von der «siegreiche[n] Heimkehr» nach der Vollendung des Staudamms.
In diesem Krieg entwickeln die Menschen auch einen ästhetischen Sinn für die Staumauer. Das «durchdachte Kunstwerk in Beton» ist voller «Schönheit», wie mehrfach betont wird: «Diese Mauer, die wie aus einem Guss von einer Riesenhand geformt schien, sie war schön!». Ästhetische Vorstellungen wie diese sind eng mit einem geschichtsvergessenen Blick nach vorne verknüpft. Schön ist all das, was zukunftsträchtig wirkt, denn gebaut wird «für die Lebenden und die Kommenden». Was hingegen zuvor geschehen war, darunter all die historischen Verbrechen, wird nicht weiter erwähnt.
Fehlende Schönheit
In der ästhetischen Frage, ob die Staudämme neue Schönheit produzieren, finden sich in einigen Romanen aus der Schweiz, zum Beispiel in Urs Augstburgers «Graatzug» (2007), in Silvio Blatters «Das blaue Haus» (1990) oder in Meinrad Inglins «Urwang» (1954) eine andere These. Entgegen den Kapruner Romanen erscheint der Staudamm in diesen Texten oft als negative ästhetische Kraft, weil dieser die ursprüngliche Schönheit der Natur zerstört. Beispielhaft hierfür steht «Urwang», der Klassiker der Schweizer Staudammliteratur.
Der Gewinn des Wasserkraftunternehmens, so erklärt darin der Major, «versickert im Massenhaften, in Geschäft, Verkehr, Technik, er rinnt in die riesige Mühle der internationalen Zivilisation». Diese moderne Welt, die mit dem Staudamm Einzug hält, hat «nichts Besonderes mehr, nichts Persönliches, kein Gesicht, keinen inneren Wert». Weil sich diese Entwicklung nicht aufhalten lässt und «Wert und Schönheit» des Tales verloren gehen, bleibt nur die resignative Flucht. «Urwang» endet mit dem Rückzug des Majors, der «langsam bergauf stieg». Es geht in höhere Gefilde, wo die Natur noch im Einklang mit sich selbst ist.
Die Verdammten dieser Erde
Eine andere Perspektive auf das Thema wählt Plinio Martini in seinem Tessiner Roman «Nicht Anfang und nicht Ende» (Originaltitel: «Il fondo del sacco», 1970). Die Geschichte handelt von Gori, der in den 1920er-Jahren im Bavonatal, einem Seitental des Maggiatals, aufwächst. Trotz seiner Zweifel verlässt er die arme Gegend in Richtung Amerika, um Jahrzehnte später mit neuen Zweifeln zurückzukehren. Der Roman reflektiert Themen wie Heimweh, Armut, Migration und die Modernisierung der Region. Dazu gehören etwa die ersten Steinbrüche oder die Maggia-Kraftwerke, die in den 1950er-Jahren entstanden.
In seinen Reflexionen tauscht sich Gori mit dem marxistischen Richter Venanzio aus. Gemeinsam diskutieren die beiden über vergangene und aktuelle Zeiten. Beispielweise geht es um die sozialen Folgen dessen, «dass die Wasserkräfte im Val Maggia einen Wert darstellen». Die Nutzung der alpinen Ressourcen erscheint für beide als Diebstahl des natürlichen Reichtums der Landbevölkerung. Das wird gar als kolonialer Akt gelesen, bei dem der «Reichtum» des Tessins «wie eine Kolonie» ausgebeutet wird.
Trotz solcher anklagenden Beobachtungen bietet Martinis Roman komplexere Antworten auf die Veränderungen als die konservative Flucht von Urwang. Als Gori auf den «Betrug» am Tal durch die Regierung und die Rolle des alten Ortspfarrers zu sprechen kommt, erwidert der Richter: «Schau, im Allgemeinen sind die Menschen eher mittelmässig als schlecht [...].» Der Richter verweist darauf, dass es nicht um moralische oder anachronistischste Vorwürfe geht, sondern darum, die historische Situation als Ursache des menschlichen Handelns zu begreifen.
«Was uns seit jeher gefehlt hat, ist eine richtige Arbeiterklasse, eine Erneuerung von unten her», erklärt der Richter weiter. Erst durch die Modernisierung wird der Betrug am Tal für die Figuren sichtbar. Gleichzeitig entsteht nun der latente Wunsch nach Abkehr, um sich diesem Erkenntnisgewinn, aber auch dem Druck der Weltgeschichte, wieder zu entziehen: «Vielleicht sind wir nur ein Volk ausserhalb der Geschichte, dachte ich. Unser Land sollte man den Leuten überlassen, die im Sommer darin spazieren gehen.» Goris Gedanken sind nicht nur resignativ oder ironisch zu lesen. Die Figur des alpinen Spaziergängers gewinnt hier an Bedeutung, nicht als romantische Gestalt, sondern als Ergänzung zum geschichtsphilosophischen Richter. Der Dialog der beiden Figuren macht die Landschaft und ihre Infrastruktur als historische Erfahrung auf der Suche nach sozialer Veränderung lesbar. Und die Literatur wird zum Medium dieser Reflexionsbemühung.
Künftige Transformationen
Die systematische Aufarbeitung alpiner Staudammerzählungen bleibt bisher ein Desiderat, doch gerade im Hinblick auf anstehende Veränderungen der Energieinfrastruktur ist eine literaturwissenschaftliche Analyse lohnenswert. Denn Infrastrukturen und Landschaften können im Verlauf der Zeit immer wieder neue Bedeutungen annehmen. Die Frage ist, wann solche Veränderungen eintreten und, wie neue ästhetische Perspektiven Infrastrukturen oder Energielandschaften mitgestalten und wiederum aus ihnen politische Strukturen ersichtlich werden. Die Literatur bietet hier einen reichen Fundus an Quellen, der es erlaubt, einen Bedeutungswandel rückblickend nachzuvollziehen und, der zugleich die Relevanz ästhetischer Fragestellungen deutlich macht: Unsere Welterschliessung in den Alpen entsteht auch daraus, wie wir Infrastrukturen lesen und welche Bedeutungen um sie entstehen.