Passo del San Gottardo TI (© M. Volken)

Bergende Berge? Das Reduit literarisch imaginiert

Seit dem Zweiten Weltkrieg durchzieht die Schweizer Alpen ein unterirdisches System von Bunkern, Tunneln und Hohlräumen. Mit dem sogenannten Reduit ist eine wirkmächtige Imaginationsgeschichte verbunden. Doch welche Funktionen übernimmt die Alpenfestung heute, wenn sie militärisch schon längst bedeutungslos geworden ist?

Nach dem Zusammenbruch Frankreichs und der vollständigen Einkreisung durch die Achsenmächte wählt der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, General Guisan, im Sommer 1940 eine radikale Notlösung: Die Schweiz würde der Wehrmacht Widerstand leisten, wenn auch nicht an der Grenze, so doch in einem partisanenhaften Gebirgskrieg. Nachdem die Zufahrtswege gesprengt und die potenziellen Aufmarschgelände überflutet worden wären, hätte die Armeeführung ihre Streitkräfte in die alpine Hauptwiderstandszone zurückgezogen. Dort grub man vorsorglich ein dezentrales Bunkernetzwerk: das «réduit national».


Zwei Drittel des Staatsgebietes und fast die gesamte Bevölkerung hätte man quasi schutzlos preisgegeben. So nachteilig diese Strategie vor allem in psychologischer Hinsicht war: Der verzweifelte Rückzug in die Berge wurde im Nachhinein nicht als zynischer Notbehelf, sondern als heroische Wehrbereitschaft ausgelegt und über Jahrzehnte gefeiert. Der bereits vorhandene Identitätsfokus auf die Alpen und auf die Armee wurde im Reduit noch einmal enger gefasst und auf die symbolische Gleichung Schweiz=Reduit=Armee verdichtet. Im Kalten Krieg eignete sich das Reduit zur anschaulichen Selbstbeschreibung als wehrhafte und partout demokratische Nation, die ihre Autonomie in ungebrochener Fortsetzung der alten Befreiungstradition (nunmehr gegen den Kommunismus) verteidigt – eine Lesart, der auch die Geschichtswissenschaft lange folgte. Erst im Zuge der Friedensbewegung in den Achtzigerjahren und mit dem Ende des Kalten Krieges setzte sich die Forschung kritisch mit diesem Meta-Narrativ und der damit verbundenen Ideologiegeschichte auseinander.

Eine dystopische Geschichte der Alpen

Meist geht aber vergessen, dass neben der historischen Aufarbeitung eine ausserordentlich reiche fiktionale Literatur von der Bildmächtigkeit des Reduits, von seinen Ambivalenzen und Irritationseffekten zeugt. Als Erster nimmt Friedrich Dürrenmatt die Alpenfestung ins Visier seines Erzählens. In der späten Erzählung «Der Winterkrieg in Tibet» (1981) hat sich in Zentraleuropa die atomare Apokalypse ereignet. Während sich die Schweizer Regierung unter der Blümlisalp in Deckung gebracht hat, setzen Offiziere der Schweizerarmee ihren schaurigen Gebirgskrieg in einer labyrinthischer Höhlen- und Stollenwelt tief im Himalayagebirge fort. Dagegen erweist sich die Alpenfestung in Hermann Burgers Roman «Die Künstliche Mutter» (1982) als burleske Eros-Klinik zwischen Sanatorium und Bordell. Und Christian Kracht inszeniert in seinem Roman «Ich werde hier sein im Sonnenschein und um Schatten» von 2008 ein giganteskes Reduit als ideelles Zentrum eines schweizerischen Sowjetimperiums (!), das die Verantwortung für einen infernalischen (Ersten) Weltkrieg trägt.


Es fällt auf, dass diese Reduit-Fiktionen eine ausgesprochene Tendenz zu Gewalt, Krieg und Nekrophilie aufweisen. Sie alle stehen den gängigen Klischees des Alpenidylls diametral entgegen, ja, sie verkehren den utopischen Gehalt der Alpen in ihr dystopisches Gegenteil. Das mag primär mit den Zivilschutz-Schreckensszenarien des Kalten Kriegs zu tun haben, der sich in der Schweiz besonders kalt ins kollektive Gedächtnis einbrannte. Doch während das bellizistische Welt- und Zukunftsbild im offiziellen Diskurs noch ganz auf einen atomaren Schlagabtausch zwischen Ost und West ausgerichtet war, kommt aus der fiktionalen Position heraus ebenso die globale ökologische Krise in den Blick.

Zur Aktualität: André Ouredniks «Le naufrage»

In seiner kurzen Novelle perspektiviert André Ourednik das Reduit vor einem aktuellen Hintergrund neu. «Le naufrage» (2013) handelt von einem gigantischen Infrastrukturprojekt namens Aquasub, mit dem die Schweizer Seen von Genf bis Konstanz unterirdisch verbunden worden sind. Die touristische Erschliessung des Alpen- und Seenlands ermöglicht eine dermassen beschleunigte Raumerfahrung, dass kompensatorisch dazu eine geschichtliche Gegenbewegung einsetzt: Auf der Fahrt durch das Tunnel- und Schleusensystem werden per Lichtinstallationen populäre Sequenzen aus der Schweizer Geschichte auf die Felswände projiziert. Zudem sind in eigens dafür ausgehobenen Nischen Schauspieler zu sehen, die in Endlosschleife bekannte mythologische Szenen darstellen. Doch die materielle Projektionsfläche des virtuellen Nationalnarrativs bricht plötzlich ein.


Ein Felsblock löst sich, das Schnellboot wird von den zurücklaufenden Wellen an der Kanalwand zerrieben und durch einen Spalt nach hinten weggespült. Der Erzähler überlebt als Einziger und strandet schliesslich im Fantasy-Territorium eines weitverzweigten unterirdischen Reduitsystems. Von einigen Kanonieren in den historischen Uniformen von 1940 wird er zum Generalstabsposten geführt, einer riesigen Kaverne mit fünf Terrassen, die ihrerseits in Dutzende von Tunnel münden. Hier trifft der Erzähler auf eine Soldateska quer durch die Jahrhunderte. Einige tragen Schwerter, Hellebarden und glänzende Rüstungen, andere haben Tierhäute um die Hüften gebunden und ihre Speere zur Hand. Die groteske Kriegerschar nimmt den Überlebenden in ihre Gemeinschaft auf und führt ihn an ein grosses Bankett, wo der Erzähler nationaler Prominenz begegnet: General Henri Guisan und Arnold Winkelried sind überraschenderweise beide noch am Leben, wenn auch geistig und körperlich degeneriert. Geifernd und zitternd führen sie eine griesgrämige Existenz, gefangen und versteckt im Schweizer Reduit.

Der skurrile Höhepunkt der Novelle besteht in einer ordentlichen Generalversammlung, an der ein Zwerg offenbar zum wiederholten Mal vor Krieg warnt. Bereits in der Vergangenheit sei immer wieder versucht worden, die Schweiz ihrer Freiheiten und ihres Wohlstands zu berauben – wobei man sich hier, im Herzen der Berge, stets tapfer verteidigt habe. Doch die nächste Bedrohung von aussen (genauer: aus dem Süden und dem Osten) stehe unmittelbar bevor. Im allgemeinen Tumult, der daraufhin losbricht, gelingt dem Erzähler die Flucht.

Das Verdrängte angesichts des Klimakollapses

Diese heiter-groteske Geschichte ist als Erzählung in der Erzählung angelegt. Die Rahmenhandlung spielt im viel zu warmen Lausanne der Zukunft, das von einer gigantischen invasiven Pflanze überwuchert und grösstenteils zum Einsturz gebracht worden ist. Nach den gröbsten Aufräumarbeiten unterhalten sich drei Männer auf Liegestühlen über die zahlreichen Flüsse, welche die Stadt im Untergrund durchziehen und damit symbolisch das kollektive Unterbewusstsein abbilden: Auch die Geschichte über die Aquasub-Tragödie und das versteckte Reduit wird so als «histoire des courants souterrains» ausgewiesen. Die Liegeposition des Erzählers unterstreicht deren tiefenpsychologische Relevanz. So führt die Erzählung in der Erzählung wie ein Strom des Unbewussten durch einen Assoziationsraum, in dem die emotionalen Kräfte unserer Gegenwart entgegentreten: die verdrängten Ängste und Schuldgefühle einer Gesellschaft, die sich der totalen Beschleunigung genauso wie der kompensatorisch dazu angelegten Nationalgeschichte verpflichtet hat. Die sublimierte Beschleunigungserfahrung führt jedoch in die Katastrophe: dem Einbrechen jenes geologischen Hintergrunds, der eben noch Projektionsfläche der nationalen Mythen und Legenden war.


In Zeiten der katastrophalen Erderwärmung taucht das Reduit als kollektiver Erinnerungsort noch einmal auf, jedoch nicht als sicherer Rückzugsort, sondern als Rumpelkammer und Gruselkabinett einer längst albern gewordenen Nationalgeschichte, in der das mythologische Personal seine selbstbezüglichen Rituale zelebriert. Die weltfremde Soldateska in «Le naufrage» sieht die Zeichen der Zeit nicht, sondern kultiviert noch immer die alten Bedrohungsszenarien aus dem Kalten Krieg (der Feind kommt aus dem Osten). Doch die neurotische Rede von der totalen Bedrohung, von Widerstand und Freiheitskampf kommt aus dem Mund eines Zwergs.

Ganz am Ende der Rahmenerzählung gelangt die fantastische Geschichte an ihren verdrängten Kern, zur Frage nach der Unfallursache: Was war eigentlich der Grund für den Riss im Wassertunnel, möchte einer der Männer wissen. Wer ist verantwortlich für den Unfalltod der Erlebnis- und Spassgesellschaft? Der Erzähler – seines Zeichens Ingenieur – vermutet ein unseriöses Gutachten im Vorfeld der Bauarbeiten. Mit diesem Verdacht wird nahegelegt, die geologische Studie sei vom arabischen Investor, der die Aquasub finanziert, gekauft gewesen, um das Megaprojekt so schnell wie möglich zu verwirklichen – ohne Rücksicht auf die unbestechlichen Grundbedingungen der Geophysik. Doch wenn es um die Sicherheit und Nachhaltigkeit geht, so macht diese Parabel deutlich, ist die Ökonomie die falsche Leitwissenschaft.

Fazit

Wie steht es heute um den helvetischen Mythos des «réduit national»? Die vom Bundesamt für Rüstung armasuisse abgestossenen Bunkerbrachen im ehemaligen Reduit mögen sich wohl als Wein-, Käse- und Datenlager, als Erlebnismuseum, Felsenhotel oder als Laboratorium eignen – als nationaler Bildspender und regressive Wunschfantasie hat die Alpenfestung aber ausgedient. Nur ein paar Prepper, die überall der Welt ihre Bunker ausbauen (wie der Kulturgeograf Bradley L. Garrett in seinem Buch «Bunker. Building for the End Times» jüngst dokumentiert hat), begreifen die Klimakatastrophe in Kontinuität mit dem Kalten Krieg. Angesichts des Klimakollapses gibt es keine Rückzugsmöglichkeiten. Im hereinbrechenden Anthropozän sind selbst die höchsten Gebirge und die tiefsten Bunker zu prekären Räumen geworden.

Kleine Auswahlbibliographie:

Garrett, Bradley (2020): Bunker. Building for the End Times. New York.

Previšić, Boris (Hg. 2016): Gotthardfantasien. Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur. Baden.

Marchal, Guy P. (2006): Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität. Basel.

Utz, Peter (2013): Kultivierung der Katastrophe. Literarische Untergangsszenarien aus der Schweiz. München.

Völker, Oliver (2021): Langsame Katastrophen. Eine Poetik der Erdgeschichte. Göttingen.

Kurze Leseliste:

Burger, Hermann (1982): Die Künstliche Mutter. Frankfurt am Main.

Dürrenmatt, Friedrich (1981): Der Winterkrieg in Tibet. Zürich.

Kracht, Christian (2008): Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Köln.

Ourednik, André (2013): Contes Suisses. Genève.

Walter, Otto F. (1988): Zeit des Fasans. Reinbek.