Vals GR (© M. Volken)

Vals GR (© M. Volken)

Vals GR (© M. Volken)

Vals GR (© M. Volken)

Vals GR (© M. Volken)

Vals GR (© M. Volken)

«Walking Memory» im Valsertal: eine künstlerische Auseinandersetzung mit künftigen Lebensweisen

Die Kulturlandschaft des Valsertals befindet sich im Wandel – und mit ihr auch Lebensweisen vor Ort. Kollaborative und partizipative künstlerische Aktivitäten können die Beziehung des Menschen zu seiner Umgebung verändern und neue Zukunftsvorstellungen schaffen.

Gitzaaaaa...... Gitzaaaaa.... Gitzaaaaa.... Die Stimme des jungen Mädchens klingt wie eine Glocke in der frischen Luft und überträgt sich auf die Geissen, die im Stall stehen. Das Mädchen bringt ihnen Fichtenzweige zum Essen, eine tägliche Aufgabe im Winter, um für das Wohlbefinden der Ziegen zu sorgen. Sie ist die Jüngste auf einem Mehrgenerationenbetrieb im kleinen Weiler Leis oberhalb des Dorfes Vals im Kanton Graubünden. Zahlreiche Ställe für das Heu sind über die malerischen, steil abfallenden, grünen Wiesen verteilt, die von Wäldern durchsetzt und von hohen Gipfeln umgeben sind. Diese einzigartige Landschaft hat viele inspiriert, doch ist sie nicht zufällig hier. Vielmehr ist sie das Ergebnis vieler Generationen, die das Land bearbeitet und gepflegt haben. Diese besondere Landschaft inspirierte uns zu einer Sammlung gemeinsamer künstlerischer Aktionen und Installationen unter dem Namen «Walking Memory», welche von Dezember 2021 bis Juli 2022 stattfanden. In diversen Workshops boten partizipative künstlerische Praktiken eine Plattform für den Dialog und ermöglichten den Teilnehmerinnen, aus ihren gewohnten Wahrnehmungsmustern herauszutreten und ihre Eindrücke und ihre Verbindung zur Kulturlandschaft zu reflektieren.

«Walking Memory» ist Teil von Vals‘ «Stallgeschichten», einem aktuellen Projekt, das mehrere leere Ställe als Ausstellungsräume nutzt und die gemeinschaftliche Zusammenarbeit in der Gemeinde zum Ziel hat. Im Valsertal gibt es über 600 an den Hängen verteilten Ställe. Sie sind ein Zeichen für die heutige Landschaft, die sich im Wandel befindet, da sich die Praktiken und Werte der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung grundlegend verändert haben. Die Melioration, d.h. die Zusammenlegung von landwirtschaftlichen Flächen und ihre verbesserte Erreichbarkeit, macht die dezentrale Heulagerung überflüssig – die meisten Ställe werden verschwinden, da sich nicht nur die Bewirtschaftung, sondern auch das menschliche Verhalten verändern. Eine Wiederbesiedlung oder Umnutzung ist nicht möglich, da viele der Ställe ausserhalb der Bauzone liegen und somit nicht als Wohnraum oder Zweitwohnsitz genutzt werden können. Selbst mit politischen Massnahmen und Umzonungen werden die meisten der Ställe irgendwann verfallen.


Der Verlust der Ställe ist mit dem Verlust der Gletscher vergleichbar. Die Gletscher wie die Ställe haben die Landschaft grundlegend geprägt. Aufgrund des Klimawandels, technologischen und kulturellen Eingriffen und neuen Verhaltensmustern werden sie selbst verschwinden. Es fällt schwer, diesen Wandel zu akzeptieren und zuzulassen, da sie Generationen in ihren Erzählungen visuell prägten. Noch schwieriger ist es, sich eine Welt ohne Gletscher und Ställe, aber auch ohne deren visuellen Prägungen und Erzählungen vorzustellen. Umso mehr sind neue Formen der Erinnerung und der Auseinandersetzung mit dieser einzigartigen Kulturlandschaft entscheidend, um den Übergang in eine neue Welt zu schaffen.

«Walking Memory»: Rezyklierter Polyester & Baumwolle, Acryl @ Lisa Lee Benjamin / Ásthildur Jónsdóttir

Zwölf Frauen gingen mit Jónsdóttir zu Fuss durch die Valser Landschaft. Die partizipative und kollaborative künstlerische Praxis des gemeinsamen Bewegens und Gestaltens verwandelt Erinnerungen und emotionale, physische sowie mentale Beziehungen in eine Wechselbeziehung mit dem Ort. Durch die physische Handlung des Gehens, dem Einsatz verschiedener Sinne, werden neue Verbindungen geschaffen, die eine Reflexion und Neueinschätzung eines Ortes zulassen. Die partizipative Methodik konzentrierte sich auf die transformative Kraft des gemeinschaftlichen Engagements. Die Teilnehmerinnen teilten mit Jónsdóttir ihre Erinnerungen und Verbindungen zu den Ställen und der Landschaft. Mit der Künstlerin, die selbst nicht einheimisch ist und dadurch ein unbeschriebenes Blatt vor Ort war, wurde über Themen gesprochen, die den Teilnehmerinnen am Herzen liegen. Indem sie mit einer Fremden spazieren gingen, hatten sie die Möglichkeit, der Künstlerin ihre persönlichen Ideen mitzuteilen, ohne dass diese einem Urteil oder einer Bewertung ausgesetzt wurden. Die Teilnehmerinnen waren sowohl einheimisch als auch nicht-einheimisch in Vals und im Alter von 12 bis 79 Jahren. Die Interviews wurden aufgezeichnet und zu einem Klangteppich von simultan stattfindenden Gesprächen zusammengeschnitten.

Zu Fuss unterwegs: Spaziergang und «Flower Pounding Workshop» in Vals @ Lisa Lee Benjamin / Ásthildur Jónsdóttir

Die Aufnahmen wurden mono aufgenommen und abwechslungsweise, einmal von links, einmal von rechts, abgespielt. Der Klangteppich schwebte durch recycelte, transparente sowie mit der lokalen Flora bedruckte Stoffbahnen, welche die Künstlerinnen mit Kohle und Acrylstift aus den Erinnerungen der Teilnehmerinnen gezeichnet hatten. Durch die Brise, die durch die Wände des Brügga-Stalls wehte, bewegten sich die Bahnen wie von Geisterhand. Nach jedem Spaziergang wurden die Teilnehmerinnen zudem darum gebeten, einen Schneeball mit Aquarellfarben zu bemalen, der auf ihren Erinnerungen an die – zu diesem Zeitpunkt schneebedeckte – Flora basiert. Der Schneeball wurde auf schweres Papier gelegt und schmolz. Das Ergebnis in trockenem Zustand zeigte abstrakte Strudel von Sommerlandschaften. Jede Teilnehmerin hat ihren Lieblingsstall beschrieben und eine Karte gezeichnet, auf welcher das Dorfzentrum und dieser Stall zu sehen sind. Jónsdóttir stickte anschliessend diese Karten mit schwarzem Garn auf weissen recycelten Baumwollservietten. Diese partizipative Kunst ergänzte die öffentliche Ausstellung und war im Ausstellunggsraum «Amöbe» zu sehen. Sie stand in starkem Kontrast zum schneebedeckten Dorf und der farblosen Installation im angrenzenden Brügga-Stall.

Jede Teilnehmerin bemalte einen Schneeball – in Farben, die an Sommerwiesen erinnern. @ Lisa Lee Benjamin / Ásthildur Jónsdóttir

In diesem Projekt wurden Bedenken hinsichtlich der sich verändernden Landschaft, des Klimawandels, der Erhaltung der Umwelt und der wirtschaftlichen Entwicklung geäussert. Es kristallisierte sich ein Ruf nach neuen Zukunftvorstellungen heraus. So lautete eine gemeinsame Schlussfolgerung, dass hierarchische Strukturen in dem sich verändernden alpinen Leben nicht mehr funktionieren werden. Dazu gehören etwa Erwartungen an die jüngeren Generationen, der Karriere zuliebe das eigene Dorf zu verlassen. Der Wunsch nach mehr Harmonie und die Bereitschaft, Veränderungen zu akzeptieren und zuzulassen, kam deutlich zum Ausdruck. Was passiert, wenn die Ställe in der Landschaft verschwinden und von der Natur zurückerobert werden? Die Flora wird mit Sicherheit zurückbleiben, denn sie spiegelt die Veränderungen des Bodens, des Wassers aus der Vergangenheit sowie der heutigen kulturellen Aktivitäten wider – ähnlich wie die tiefen Täler, die Geröllfelder, Bäche und Seen, die im Kielwasser der verschwindenden Gletscher liegen.


«Walking Memory» wurde als Möglichkeit konzipiert, mit dem Unvorstellbaren umzugehen, da es eine neue Art von Wissen schafft, nämlich ein Wissen aus der Erinnerung. Dadurch können neue und unerwartete Verbindungen geschaffen werden. Die gemeinschaftliche, künstlerische Tätigkeit in Verbindung mit körperlicher Bewegung regt kreatives Denken an und schafft Bewusstsein für unseren Lebensraum, für die Akzeptanz dessen, was ist, und für die Pflege der Kulturlandschaften für die Zukunft. Es ist eine Chance, Schönheit zu kreieren, die eigene Kreativität zu sehen, die eigene Stimme zu hören, die Ausdrucksformen der eigenen Erinnerungen wahrzunehmen, die Vergangenheit mit neuen Augen zu betrachten und die Verbundenheit mit dem Tal zu stärken. Die Rolle der Kunst in der Gemeinschaft und die sozial konstruierten Aspekte unserer Umwelt treten in den Vordergrund. Unsere Erkenntnisse unterstreichen die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen Künstler:innen und Gemeinschaften, wodurch andere Perspektiven eingenommen werden – und Sensibilität entstehen kann, die vorher so nicht vorhanden war.

Wanderkarte einer Teilnehmerin, die zu einem Stall führt – handgestickt von Künstlerin Jónsdóttir auf einer rezyklierten Serviette. @ Lisa Lee Benjamin / Ásthildur Jónsdóttir

Die Bibliothek Vals, das Forum Vals und die Gandahus-Vereinigung haben drei Ställe zu Orten gemacht, an denen Geschichten erzählt und erlebt werden können. Mehr Informationen zu den Stallgeschichten des «Brügga-Stalls», «Mittner-Stall» und des «Schaff-Stalls Valè» finden sich hier.


Das «Forum Vals» fördert den Meinungsaustausch und ist offen sowohl für Einheimische als auch für interessierte Gäste. Hier wird über die Entwicklung von Vals als Lebens-, Kultur- und Wirtschaftsraum diskutiert, die Gegenwart kritisch hinterfragt und die Zukunft aktiv gestaltet. Das Projekt «Walking Memory» ist Teil dieser Plattform.

In Vals befindet sich ein Kunstraum namens «Amöbe Artspace», welcher sich dem Thema der Vergänglichkeit widmet – von Menschen über Pflanzen bis zu lokalen Materialien. Ziel ist es, die Schönheit sichtbar zu machen und die Akzeptanz für das zu schaffen, was ist.

Bangstad, Torgeir Rinke (2020): Heritage and the Temporality of Things. In: Ethnologia Europaea 49 (2), 115-132.

DeSilvey, Caitlin / Edensor, Tim (2012): Reckoning with Ruins. In: Progress in Human Geography, 27. November.

Hodder, Ian (2014): The Entanglements of Humans and Things: A Long-Term View. In: New Literary History 45 (1), 19-36.

Ingold, Timothy (2014): Is There Life Amidst the Ruins? Aberdeen.

Ingold, Timothy (2017): Correspondences. Aberdeen.

Jónsdóttir, Ásthildur (2019): Critical Thinking and Community Engagement through Artistic Actions. In: International Journal of Art & Design Education 38 (3), 700-709.

Jónsdóttir, Ásthildur (2021): Artistic Actions for Sustainability in a University Setting. In: Research in Arts and Education (3).

Jónsdóttir, Ásthildur / Gunnarsdóttir, Ellen / Jónsdóttir, Guobjörg Lind (2021): Stories from the Sea: Working with the SDGs in a Community-Based Art Workshop. In: Arts, Sustainability and Education, 131-155.

Wagner, Ernst / Veloso, Luísa / Pachova, Nevelina et al. (eds. 2021): Arts, Sustainability and Education. Yearbook 2.

Witmore, Christopher L. (2014): Archaeology and the New Materialisms. In: Journal of Contemporary Archaeology 1 (2), 203-246.


Sowie Landschaftsprägende Kulturelemente ausserhalb der Bauzone in der Gemeinde Vals, Kultur Stiftung Vals, 2008.