Von den aktuellen Unwetterereignissen: Tessin, Wallis und Graubünden – INTERVIEW MIT...
Die aktuellen Unwetter in den Schweizer Südalpen sind verheerend. Erdrutsche und Wasserfluten treffen Dörfer, fordern Tote und Vermisste. Was bedeutet das für den Alpenraum? Sind solche Naturkatastrophen das neue "Normal"? Eine Einordnung von Giorgio Valenti, dem ehemaligen Kantonsgeologen des Kantons Tessin.
Syntopia Alpina: Herr Valenti, die Kantone Tessin, Wallis und
Graubünden wurden jüngst von heftigen Murgängen, Erdrutschen und
Überschwemmungen getroffen. Inwiefern ist das eine ausserordentliche Situation?
Giorgio Valenti: Die jüngsten Unwetter mit den typischen Folgen wie Murgänge, Erdrutsche und Überschwemmungen, welche die Kantone Tessin, Wallis und Graubünden heimgesucht haben, sind sicherlich auf Ausnahmesituationen zurückzuführen. Insbesondere hatten wir mehrere heftige, sich selbst regenerierende Gewitterzellen und gleichzeitig eine starke Schneeschmelze in höheren Lagen. Die Bergbäche sind dadurch beträchtlich angestiegen und haben die Flüsse im Talboden mit ungewohnt viel Wasser gespiesen.
In Fontana wurden drei Personen von einem Murgang, bestehend aus Geröll, Schlamm und Erde, heimgesucht. Viel über längere Zeit angelagertes Geröll ist nun hinuntergekommen – der grosse Murgang hat das Valle di Larecchia quasi entladen. Bedeutet dies, dass das Valle di Larecchia nun für eine Zeit verschont bleibt? Oder kann sich bereits neues Material von den bröckelnden Bergen ansammeln?
Vor 32 Jahren hatte ich Gelegenheit, den Riale di Larecchia zu begehen. Im Bereich seiner Mündung im Ablagerungskegel steckten riesige Felsblöcke mit einem Volumen von mehreren hundert Kubikmetern zwischen den steilen Uferflanken fest. Auf den Bildern nach dem Ereignis von Ende Juni 2024 sieht man, dass diese Brocken – die wie eine Schwelle das dahinter liegende Material zurückhielten – nun ins Tal gestürzt sind. Der Abfluss war also ausreichend gross und die Welle aus Wasser und Gesteinsmaterial genug heftig, um diese Blöcke zu lösen.
Die letzte bekannte Überschwemmung des Larecchias geht wahrscheinlich auf das Jahr 1594 zurück, als die Felder rund um Fontana vollständig zerstört wurden. Seitdem wurden keine besonderen Überschwemmungen mehr registriert. Das Juni-Hochwasser mobilisierte vermutlich einen guten Teil des Materials, das sich im Laufe eines halben Jahrtausends angesammelt hatte, brach durch und überschwemmte den gesamten Kegel. Es ist daher möglich, dass der Riale di Larecchia für die kommenden Jahre und Jahrzehnte keine Murgänge mehr auslösen wird. In dieser Zeit wird sich im Flussbett wieder Material von Lawinen, Felsstürzen und Erdrutschen ablagern… bis zum nächsten Hochwasser. Im Val Bavona, in Faedo, etwas nördlich von Fontana, ereignete sich 1992 ein ähnlicher Murgang: Damals gab es 2 Todesopfer.
Trotz seiner Wucht und Grösse hat der Schuttkegel in Fontana angesichts der Dorfstruktur erstaunlich wenig Häuser getroffen. Inwiefern wurden Naturgefahren wie ein solcher Murgang schon früher berücksichtigt und Häuser weiter entfernt des Bachbetts errichtet?
Die Schuttkegel sind durch Schwankungen der Bäche entstanden, deren Läufe sich mit jeder Ablagerung von Material verschieben. Besonders ausgeprägt geschah dies auch, als sich die Gletscher in hoch gelegene Gletscherbecken zurückzogen und dabei grosse Mengen an losem, leicht mobilisierbarem Material hinterliessen. Die Bewohner:innen dieser Täler fürchteten sich vor den Wasserläufen und bauten im Allgemeinen dort, wo die Bäche – zumindest seit Menschengedenken – nicht hinkommen konnten. Diese Tatsache hat die Schäden in Fontana entscheidend gemildert. In der Mitte des Schuttkegels wurden in der Regel «nur» Ställe oder Scheunen gebaut.
Felsstürze und Überschwemmungen gab es schon früher. Doch die extremen Niederschläge häufen sich…
Die globale Erwärmung hat zu einem wesentlich höheren Energiegehalt in der Atmosphäre geführt, extrem starke Niederschläge oder Dürren sind oft die Folgen. Für unsere Berge und vor allem für unsere Wasserläufe sind solche Abflussmengen – die Schutt mobilisieren können, der bislang stabil war – eine neue Situation. Wir müssen also mit einer Zunahme der Häufigkeit und Heftigkeit solcher Ereignisse rechnen, und zwar bereits in den nächsten Jahrzehnten.
Inwiefern sind die Alpen stärker von solchen Extremereignissen betroffen als das Umland?
Gemäss neuesten Studien leiden die Alpen am meisten unter Hitzewellen. Ihre hohe Reliefenergie macht sie für heftige Ereignisse besonders anfällig. Zudem schaffen das Auftauen von Permafrost und das Abschmelzen der Gletscher die Voraussetzungen für bedeutende Massenbewegungen.
Müssen wir damit rechnen, dass bestimmte Täler und Ortschaften im
Wallis, Tessin oder in Graubünden einmal unbewohnbar sind? Ganz konkret: Ist es
vorstellbar, dass gewisse Ortschaften oder Täler in den nächsten 10
Jahren verlassen werden müssen?
Nein, ich glaube nicht, dass ganze Täler oder Dörfer wegen solchen Ereignissen aufgegeben werden müssen. Denkbar ist eher, dass einzelne Häuser unbewohnbar werden oder, dass Neubauten oder Renovierungen verboten werden. Die Schweiz hat sich seit jeher durch ihre – auch finanzielle – Fähigkeit ausgezeichnet, auf Naturereignisse zu reagieren, etwa mit dem Bau von Schutzmauern, Hochwasserschutzdämmen und anderen Schutzbauten. Es versteht sich von selbst, dass dazu die Gefahrenkarten auf dem neuesten Stand sein und vor allem an die neuen klimatischen Verhältnisse angepasst werden müssen. Dies gilt insbesondere für grosse Flüsse, aber auch für kleinere Bäche in stark besiedelten Schwemmkegeln.
Für den Fall der Fälle: Wie hat man sich in einer Situation akuter Gefahr zu verhalten? Und nicht zuletzt: Was können wir aus Ihrer Sicht von diesen Ereignissen für die Zukunft lernen?
Ganz zentral ist die Eigenverantwortung, und zwar von uns allen. Wenn MeteoSchweiz eine Warnung herausgibt, liegt es an jedem Einzelnen, seine eigene Situation einzuschätzen, seine Pläne zu überdenken und bei einem Alarm das Ferienhaus vielleicht einen Tag früher zu verlassen. Beim letzten Unwetter hatten sich mehrere der vermissten Personen ausserhalb ihrer Häuser aufgehalten. Im Extremfall empfiehlt es sich, in den oberen Stockwerken Zuflucht zu suchen, in der Hoffnung, dass das Gebäude standhält. Gerade aus dieser Perspektive sollte man bei Renovierungen in potenziell gefährdeten Gebieten die vorhandenen technischen Baunormen zur Verstärkung des Gebäudes einhalten und diese Normen eventuell auch anpassen. Und bei bestehenden, alten Wohnhäusern wäre ein Hinweisschild sinnvoll, auf dem das richtige Verhalten bei einem Alarm erläutert wird – so, wie es sie heute schon im Einzugsgebiet von Wasserkraftwerken gibt.
Wir leben in den Alpen und müssen daher ein gewisses Risiko in Kauf nehmen. Doch in den letzten Jahren lässt sich eine Zunahme der freiwilligen Risiken (Extremsportarten) beobachten, während die unfreiwilligen Risiken (Steine auf der Strasse, Überschwemmungen usw.) völlig abgelehnt werden. Dabei sind die letzteren Risiken auf individueller Ebene deutlich geringer.