CH: Engiadin'Ota (© M. Volken)

A: Ötztaler Alpen (© M. Volken)

SLO: Julijske Alpe (© M. Volken)

F: Pelvoux (© M. Volken)

I: Dolomiti di Sesto (© M. Volken)

Ein «ius alpinum»? Das rechtliche Potenzial der Alpenkonvention

Die Alpenkonvention schützt und regelt das Leben im Alpenraum. Doch hapert es an der unmittelbaren Anwendung. Verstösst ein geplantes Projekt gegen die Alpenkonvention, könnte unter Umständen jede(r) Bürger:in Einspruch erheben – auch gegen die Behörde, wenn es sein muss.

Die vorarlbergische Landesregierung schied 2019 mit Verordnung Teilflächen aus dem Naturschutzgebiet «Gipslöcher» in Lech aus. Die Gipslöcher stehen als besonders schützenswerter Lebensraum bereits seit 1988 unter Schutz. Grund für die Verkleinerung war die geplante Errichtung der Liftanlage «Grubenalpbahn»: eine 6er-Sesselbahn, die das Naturschutzgebiet überspannt und damit naturschutzfachlich eine dauerhaft nachteilige Beeinflussung bewirkt hätte. In der Folge legte der Landesvolksanwalt von Vorarlberg diese Landesverordnung dem österreichischen Verfassungsgerichtshof zur Überprüfung vor. Dieser hob mit Urteil vom 15. Dezember 2021 (V 425/2020-9) die Verordnung als gesetzwidrig auf. Dabei berief er sich neben nationalen Normen auch auf Artikel 11, Absatz 1, des Naturschutzprotokolls der Alpenkonvention, wonach sich die Vertragsparteien verpflichtet haben, bestehende Schutzgebiete zu erhalten, zu pflegen und – wo erforderlich – zu erweitern beziehungsweise neue Schutzgebiete auszuweisen. Aus Sicht des Gerichts hätte korrekterweise eine ausreichende Interessenabwägung durchgeführt werden müssen, in deren Rahmen auch Absatz 1 in Artikel 11 zu berücksichtigen gewesen wäre.

Recht in den Alpen

Dieser Fall wirft einige grundlegende Fragen auf. Da ist zunächst jene nach der Rolle des Rechts für die Alpen, insbesondere angesichts der zahlreichen hier auftretenden Nutzungskonflikte. Die einschlägigen Rechtsvorschriften sind von einer unangenehmen Weite; die politisch-gebietskörperschaftliche Diversität der Alpenregionen spiegelt sich eins zu eins im Recht wider. Internationale Vorgaben können sich mit bundesrechtlichen, regionalen und lokalen Regelungen zu einem dichten Normengeflecht verschränken, das Leitplanken für die Vermittlung und Austarierung von Nutzungskonflikten vorgibt. In der grossen Mehrzahl der Fälle kommen jedoch in den Berggebieten dieselben Regelungen zur Anwendung wie in ausseralpinen Gebieten. Man beruft sich selten auf ein eigenes «Alpenrecht». Raumplanungs-, Umwelt-, Landwirtschafts- oder Energierecht weisen meist nur sehr eingeschränkt Sonderregelungen auf, die sich mit alpinen Besonderheiten befassen. Der Alpenbezug liegt in der Regel einzig darin, dass sich der strittige Fall eben im alpinen Raum zuträgt.

«Alpenrecht»?

Von einem eigentlichen «Alpenrecht» kann also kaum gesprochen werden. Es gibt einzelne spezifisch bergbezogene Spezialregelungen – man denke im schweizerischen Recht an die Regelung, welche die erschwerten agrarischen Produktions- und Lebensbedingungen im Berg- und Hügelland betrifft (Art. 4 Landwirtschaftsgesetz LwG, SR 910.1), oder an die Alpkennzeichnung (Berg- und Alp-Verordnung BAlV, SR 910.19) – jedoch lassen diese kein übergreifendes legislatorisches Konzept erkennen. Die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit eines eigenen «ius alpinum» mag unterschiedlich beurteilt werden und drängt sich angesichts der völlig unterschiedlichen Gegebenheiten im Alpenbogen zunächst nicht auf. Schliesslich könnte ein solches Gesetzeswerk nicht mehr als einen allgemeinen Rahmen auf einem hohen Abstraktionsniveau bieten.

Alpenkonvention

Insofern mag es erstaunen, dass es genau das bereits gibt: Eine Rahmengesetzgebung für den gesamten Alpenbogen, räumlich von Monaco bis Niederösterreich und thematisch von Berglandwirtschaft und Verkehr über Tourismus bis Energie und Bodenschutz. Gemeint ist die Alpenkonvention, die aus einem Rahmenabkommen und acht thematischen Durchführungsprotokollen sowie einem Streitbeilegungsprotokoll besteht. Die Schweiz hat allerdings nur die Rahmenkonvention ratifiziert: Die Protokolle wurden zwar unterzeichnet, sind aber mangels Ratifizierung für die Eidgenossenschaft nicht verbindlich.

Rechtsverbindlichkeit

Ein elementares Thema im internationalen Recht im Allgemeinen und bei der Alpenkonvention im Besonderen ist jenes der konkreten Verbindlichkeit solcher Normen. Die allgemeine Dogmatik setzt auf die unmittelbare Anwendbarkeit. In den meisten Fällen liegt diese jedoch nicht vor und damit werden den Bürger:innen auch keine gerichtlich durchsetzbaren Rechtsansprüche vermittelt. Die Rechtswissenschaft spricht dann von «non self executing» und meint damit eine Verbindlichkeit bloss für die nationalen Rechtsetzungsorgane. Komplexer ist die Situation bei den Protokollen der Alpenkonvention. Eine Untersuchung jedes einzelnen Artikels und Absatzes hat dabei durchaus sehr differenzierte Ergebnisse gebracht. Was bedeutet das für die Praxis?

Papiertiger mit Zähnen?

Kehren wir zurück nach Vorarlberg und zum erwähnten Gerichtsurteil. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob ein Projekt wie eine Liftanlage, das im Widerspruch zu den Vorschriften der Alpenkonvention steht, auf eine unmittelbar durchsetzbare Norm derselben hin überprüft werden kann oder nicht. Im zweiten Fall können sich die Projektgegner:innen im nationalen Verfahren nicht auf die internationale Vorschrift berufen, weil diese (noch) nicht ins nationale Recht umgesetzt wurde und damit keine direkte Wirkung entfaltet. Im ersten Fall jedoch mutiert die direkt anwendbare Norm der Alpenkonvention gleichsam zu einer nationalen Norm und ist zwingend anzuwenden, ungeachtet ihrer mangelnden Umsetzung im nationalen Recht. Dieser Befund ist eher ungewöhnlich, die Gerichte müssen den nationalen Behörden vorwerfen, dass sie bei der Projektgenehmigung neben den einschlägigen nationalen Regelungen eben auch die völkerrechtliche Norm anwenden hätten müssen, was im Ergebnis zur Nichtgenehmigung des Projekts führen kann.


In unserem Fall lässt der österreichische Verfassungsgerichtshof keinen Zweifel an der direkten Anwendbarkeit von Artikel 11, Absatz 1, des Naturschutzprotokolls. Diese beinhaltet die Verpflichtung, das Naturschutzgebiet «Gipslöcher» in Lech in seinem Zustand und Umfang zu erhalten. Die Herausnahme einer Fläche von 0,25 Prozent der Gesamtfläche bedürfe einer hinreichenden Begründung und das öffentliche Interesse an der Errichtung der neuen Grubenalpbahn müsste die Interessen an der Erhaltung des Naturschutzgebiets überwiegen. Ein solcher Entscheid ist durchaus revolutionär zu nennen: Das Alpenkonventionsrecht erhält damit unmittelbare Verbindlichkeit, zumindest in diesem einzelnen Fall. Der von vielen kritisierte Papiertiger zeigt plötzlich Zähne.

Das Recht im alpinen Raum präsentiert sich so vielfältig und differenziert wie die unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systeme im Alpenbogen. Ein einheitliches «Alpenrecht» verfolgt einzig das völkerrechtliche Vertragswerk der Alpenkonvention, das den umfassenden Schutz und die nachhaltige Entwicklung der Alpen zum Ziel hat. Die Konvention besteht aus einem 1991 durch die Umweltminister der Alpenländer unterzeichneten Rahmenabkommen und neun Durchführungsprotokollen. Sitz des Ständigen Sekretariats ist in Innsbruck, die Vertragsparteien treten regelmässig als «Alpenkonferenz» zusammen.

Gerade bei den Protokollen stellt sich aus rechtlicher Sicht oftmals die Frage, ob diese Normen des internationalen Rechts insbesondere für nationale und regionale Verwaltungsverfahren direkt verbindlich sind (self executing).


Kürzlich hat der österreichische Verfassungsgerichtshof anlässlich der Verkleinerung eines alpinen Naturschutzgebiets in Vorarlberg eine solche unmittelbare Verbindlichkeit bejaht. Der Landesgesetzgeber hätte im Rahmen der Herausnahme einer Fläche für den Bau einer Liftanlage das Naturschutzprotokoll der Alpenkonvention direkt anwenden und eine entsprechende Interessenabwägung durchführen müssen.

BMLFUW (Hrsg. 2007): Die Alpenkonvention: Handbuch für ihre Umsetzung. Rahmenbedingungen, Leitlinien und Vorschläge für die Praxis zur rechtlichen Umsetzung der Alpenkonvention und ihrer Durchführungsprotokolle. Wien.

CIPRA Österreich (Hrsg. 2016 ff.): Schriftenreihe zur Alpenkonvention (diverse Bände). Wien.

Norer, Roland (2002): Die Alpenkonvention. Völkerrechtliches Vertragswerk für den Alpenraum, Universität für Bodenkultur Wien, Institut für Wirtschaft, Politik und Recht. Diskussionspapier 93-R-02. Wien.