Urseren UR (© M. Volken)

Urseren UR (© M. Volken)

Urseren UR (© M. Volken)

Die Verbuschung der Alpen und eine tierisch einfache Lösung

Weiden und Wiesen in den Bergen weisen oft eine höhere Artenvielfalt als im meliorierten Tiefland auf. Sie wurden über Jahrhunderte durch den Menschen gepflegt. Heute droht bei Nutzungsaufgabe vielerorts die Verbuschung. Eine alte Tierrasse schafft Abhilfe und besticht als hervorragende Landschaftspflegerin.

Innerhalb der letzten drei Jahrzehnte nahm in der Schweiz die Waldfläche um 115’140 ha zu, vor allem in den Gebirgskantonen zu Lasten offener Flächen – eine Waldzunahme von 11 ha pro Tag oder 1.30 m2 pro Sekunde! Bei solchen Zahlen wird offensichtlich, dass hier der Gebüschwald mitberücksichtigt wurde: Buscharten, die sich nie zu Bäumen entwickeln werden, aber – wie im Falle der Grünerle – schneller wachsen als die Bäume des Gebirgswaldes. Der Gebüschwald setzt sich aus verschiedenen Arten zusammen. Vielerorts über silikatischem Untergrund dominiert fast in Reinkultur die Grünerle, auch Alpenerle (lat. «Alnus viridis») genannt. Die Grünerle ist eine einheimische Pflanze, unterscheidet sich aber von vielen Holzgewächsen dadurch, dass sie mit Hilfe von Frankia-Symbionten in ihren Wurzeln den Luftstickstoff aufschliessen kann. Dadurch ist die Grünerle, in Kombination mit anderen Eigenschaften wie der enorm grossen Samenproduktion oder der raschen Bewurzelung der biegsamen Äste, ein Alleskönner und kann sich rapide in offenes Grasland ausbreiten, sobald dieses weniger oder nicht mehr genutzt wird.

Ökologische Auswirkungen der Verbuschung durch die Grünerle

Wenn Grünerlen überhandnehmen, sinkt die Anzahl anderer Pflanzenarten dramatisch, da die Grünerlen durch ihre Fähigkeit zur N2-Fixierung ihren Düngersack mit sich tragen. So wird die Pflanzendiversität durch ein Überangebot an Stickstoff nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch an verbuschten Berghängen reduziert. Unter Grünerlen werden beachtliche Mengen an Nitrat mit dem Bodenwasser ausgewaschen und es wird Lachgas aus dem Boden an die Luft abgegeben. Lachgas (N2O) ist ein starkes Treibhausgas: Es ist rund 300-mal klimaaktiver als Kohlendioxid (CO2) und trägt zur Zerstörung des Ozons in der Stratosphäre bei. Nitratanreicherungen sind wegen ihrer eutrophierenden Wirkung unerwünscht, zudem versauert der Boden durch die Nitratauswaschung zusätzlich. Grünerlengebüsch verdunstet über die Blätter mehr Wasser als ein offenes Grasland. Wasser, an die Luft abgegeben, kann nicht mehr als Abfluss im Wasserkraftwerk turbiniert und zur Stromerzeugung genutzt werden. Die biegsamen Äste des Grünerlengebüschs werden im Winter durch die Schneelast nach unten gedrückt und richten sich im Frühling wieder auf. Nachvollziehbar, dass so Lawinen nicht aufgehalten werden können. Noch schlimmer: Grünerlen verhindern wegen ihres üppigen Unterwuchses die Rückkehr der Waldbäume und dadurch auch den effizienten Lawinenschutz eines Gebirgswaldes. Gefrorene Schneepakete mit dem Wirrwarr an runtergedrückten Ästen und Scherkräften an den Grünerlenwurzeln verursachen ausserdem tiefe Bodenrisse. Ganze «Schiffchen» an Grünerlen mitsamt wertvollem Oberboden gleiten zu Tal (Abbildung 1.). Überziehen die Grünerlengebüsche die Talflanken (ehemaliges offenes Grasland), wirkt das Landschaftsbild nicht attraktiv und das Dickicht ist nahezu unpassierbar, Stürze auf den gebogenen, rutschigen Ästen sind die Regel. Das Grünerlendickicht weist also zahlreiche negative ökologische Auswirkungen auf, weshalb auch mit Blick auf zukünftige Generationen nicht einfach zugeschaut werden sollte, wie jahrhundertealtes Kulturland verbuscht. Nur wiedergeöffnetes Grasland kann erneut genutzt oder in einen artenreichen Wald überführt werden.

Abbildung 1: Rutschungen mit «Grünerlenschiffchen». Dabei wird der wertvolle Oberboden mitgerissen. Foto: Erika Hiltbrunner.

Das Schaf mit dem Tick: das Engadinerschaf

Das Engadinerschaf oder Paterschaf gehört zu den alten Robustrassen (Abbildung 2). Im Unterschied zu den Fleischrassen frisst das Engadinerschaf nicht nur Gras, sondern schält die Rinde von Holzpflanzen bis in den Holzkörper hinein ab. Wieso diese Schafrasse sich so verhält, ist unbekannt. Auch bei Grünerlen schält das Engadinerschaf die Rinde ab, weil die Grünerlenrinde im Frühjahr saftig und reich an einfachen Zuckern ist und für das Engadinerschaf süss schmeckt (Abbildung 3, 4).

Abbildung 2: Engadinerschafe gibt es in zwei Farbschlägen. Foto: Christian Gazzarin.

Wird eine Grünerle entrindet, besiedeln auch andere Schadorganismen wie Pilze und Bakterien den Busch, er vertrocknet und stirbt ab. Im Gegensatz zu anderen Holzgewächsen ist die Grünerle, ausnahmsweise dank (!) der N2-Fixierung, für die Engadinerschafe qualitativ ein gutes Futter. Auch Ziegen und andere Schafrassen (Walliser Landschaf) entrinden Holzpflanzen. Engadinerschafe sind allerdings zutraulicher und ruhiger. Entsprechend einfacher und mit weniger Personal können sie im verbuschten, unübersichtlichen Gelände geführt und gehalten werden. Der Bestand an Walliser Landschafen ist in der Schweiz zu klein, um Herden für diese besondere Landpflege aufzubauen.

Abbildung 3: Geschälte Grünerle. Foto: Erika Hiltbrunner.

Die Krux mit «lokalen» und «regionalen» Produkten

Im Urserntal wird seit 2017 eine Herde von Engadinerschafen (aktuell rund 350) in stark verbuschtem Gelände über die Sommermonate gehalten. Ziel des Projekts ist es, einerseits aufzuzeigen, wie eine Herde Engadinerschafe geführt werden muss, um möglichst effizient die Grünerlen zurückzudrängen. Anderseits will das Projekt auch darlegen, wie eine lokale Wertschöpfungskette etabliert werden kann. Das Projekt an diesem Standort zu starten schien besonders günstig, weil in Andermatt ein neues Tourismusresort entstanden ist. Der Plan war, Lämmer nach der Sömmerung zu schlachten und in den Hotels und Restaurants als spezielles Nischenprodukt kurzfristig anzubieten. Das Fleisch der Engadinerschafe (Lamm und Schaf) ist weniger fettig, reicher an ungesättigten Fettsäuren und hat keinen Bockgeruch. Vonseiten Landpflege kann das Projekt als sehr erfolgreich beurteilt werden. Mit vertretbarem Aufwand konnte sogar stark verbuschtes, schwieriges Gelände wieder geöffnet werden. Hingegen scheiterte bisher der Ausbau der Wertschöpfungskette vor Ort aufgrund verschiedener Hindernisse. «Lokal» und «regional» sind oft benutzte Beschreibungen auf der Angebotsseite – ein verbindliches, kontrolliertes Label fehlt jedoch. Es ist nicht erstaunlich, dass die Angebote für die Gäste im Tourismusresort auf Gewinnmaxime und nicht auf nachhaltige Landpflege oder ein attraktives Landschaftsbild in der unmittelbaren Umgebung zielen.


Lange Zeit wurde bei der Schafzucht auf schnelles Wachstum und maximalen Fleischzuwachs gesetzt. Dabei gingen zahlreiche Eigenschaften wie Robust- und Gesundheit, Fruchtbarkeit (asaisonal) und guter Geschmack des Fleisches verloren, die bei alten Rassen bewahrt werden konnten. Dennoch gilt ein leichteres Engadinerschaf immer noch als minderwertig, auch wenn im Schlachthof das Fett des Weissen Alpenschafes grosszügig im Bottich neben dem Schlachtkörper landet. Hier braucht es noch viel Fürsprache für die Engadinerschafe: Sie gehen nicht nur sehr effektiv gegen die Verbuschung im Alpenraum vor, sondern liefern zudem geschmackvolles Fleisch. Und in Anbetracht der fortschreitenden Verbuschung durch die Grünerlen im Alpenraum haben sie noch für eine Weile zu fressen.

Abbildung 4: Engadinerschafe schälen die Rinde der Grünerle ab. Foto Tobias Zender.

Die Verbuschung im Alpenraum durch die Grünerle stellt die schnellste Veränderung der Landbedeckung dar. Das Überhandnehmen der Grünerlen hat verschiedene negative ökologische Auswirkungen: Biodiversitätsverlust, Stickstoffverluste, blockierte Rückkehr des Gebirgswaldes, kein Lawinenschutz und Verarmung des Landschaftsbildes.

Immer weniger Leute sind in der Landwirtschaft auf grösseren Betrieben tätig, aktuell noch ca. 1.7 % der Schweizerischen Bevölkerung. Eine effektive Landpflege gegen die Verbuschung sollte deshalb nicht personalintensiv sein. Werden Grünerlen von Hand geschnitten, treiben ausserdem alle schlafenden Knospen aus und die Gebüsche erstarken sogar.

Die Engadinerschafe gehen den Grünerlen an den Kragen beziehungsweise an die Rinde und bringen sie ohne Stockausschläge zum Absterben. Auch sonst hat die alte Rasse bemerkenswerte Eigenschaften: Robustheit, Fruchtbarkeit und eine besondere Fleischqualität. Die Beweidung verbuschter Flächen mit Engadinerschafen im topographisch anspruchsvollen Gelände ist die einfachste und effizienteste Lösung.

Hiltbrunner, Erika (2019): Mit Engadinerschafen gegen die Verbuschung des Alpenraumes. In: Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin SZE 17, 12-14.

Bühlmann, Tobias / Körner, Christian / Hiltbrunner, Erika (2016): Shrub Expansion of Alnus viridis Drives Former Montane Grassland into Nitrogen Saturation. In: Ecosystems 19, 968-985.

Bühlmann, Tobias / Caprez, Riccarda / Hiltbrunner, Erika / Körner, Christian / Niklaus, A. Pascal. (2017): Nitrogen Fixation by Alnus species Boosts Soil Nitrous Oxide Emissions. In: European Journal of Soil Science 68, 740-748.

Van den Bergh, Thijs / Körner, Christian / Hiltbrunner, Erika (2017): Alnus Shrub Expansion Increases Evapotranspiration in the Swiss Alps. In: Regional Environmental Change 18 (5), 1375-1385.