Geschichten vom Gipfellosen und deren Fragen an die alpine Zukunft
So skurril das Abschneiden von Berggipfeln scheinen mag: Gipfeldiebe sind historisch keine Ausnahmeerscheinung und waren insbesondere im Zeitalter der europäischen Expansion eine häufige Erscheinung. Heute indes mehren sich Geschichten vom Gipfellosen.
Fein säuberlich beschildert liegen Mont Blanc, K2, Grossglockner, Hohe Tatra, Eiger, Mönch und Jungfrau in Glasvitrinen ausgestellt in einem Wiener Wohnzimmer. Sie sehen aus wie Insektenpräparate in kleinen, mit Stroh ausgelegten Holzkisten. Die mit der Spitzhacke abgeschlagenen, sorgfältig archivierten, kleinen Felsbrocken sind das Wichtigste im Leben des «Gipfeldiebs», der namensgebend für den 2015 erschienen Roman des polnisch-österreichischen Autors Radek Knapp ist.
Die Inbesitznahme von Berggipfeln beginnt jedoch lange bevor Ludwik Wiewurka in das Wohnzimmer von Knapps Gipfeldieb stolpert. Bereits 1889 überreichte der Forschungsreisende und Verleger Hans Meyer «den obersten Stein» des Kilimandscharos niemand Geringerem als dem deutschen Kaiser Wilhelm, der den Gipfel des nach ihm benannten Berges noch lange als Briefbeschwerer nutzen sollte. Viel gewichtiger als in der Form eines Schreibtisch-Accessoires war der Gipfel für das imperialistische Machtstreben des Kaiserreiches im kolonialen Wettlauf – dieses «besass» nun den höchsten Berg Afrikas.
Gipfel sammeln: kolonialer Gestus und textuelle Gewalt
Im politischen Gefüge des 19. und 20. Jahrhunderts hatte die Inbesitznahme bemerkenswerter Gipfel eine ähnliche Funktion wie die Eroberung von weissen Flecken auf der Landkarte. Imperiale Expansionsmanöver verlagerten sich vielfach in den vertikalen Raum und alpinistische Interessen rückten ins Zentrum männlich-kolonialer Phantasien zur Herrschaft über das Andere. Allerdings wanderten nicht alle auf diese Weise begehrten Gipfel physisch über kaiserliche Schreibtische. Um für den Zweck des imperialistischen und nationalistischen Machterhalts in europäische Ordnungssysteme eingegliedert zu werden, konnte die Inbesitznahme genauso gut symbolisch vollzogen werden. Einerseits zählen hierzu zeitweilige oder dauerhaft hinterlassene Zeichen des Besitzes – in Form von Flaggen, Kreuzen oder anderen zivilisatorischen Emblemen. Andererseits existierten Einschreibungsverfahren, wie sie in der Vermessung und Namensgebung von Gipfeln auftreten und im postkolonialen Diskurs unter dem von Mary Louise Pratt geprägten Begriff der «textuellen Gewalt» zusammengefasst werden. Zeugen dieses linguistischen Machtgestus sehen ihren Fortbestand auch im zeitgenössischen Sprachgebrauch, wenn Gipfel in der Überlagerung von alpinistischem und militärischem Jargon besiegt, bezwungen, gestürmt und erobert werden – und, an der höchsten Stelle angekommen, in der punktuellen Verdichtung von Macht, Virilität und Individualität nur Platz für einen sich über alle erhebenden Helden lassen.
Höhepunkt: Achtung Absturzgefahr!
Der Gipfel – als Ort und Symbol für das «Ende aller Dinge und des Weges Ziel» – ist seit Francesco Petrarcas «Besteigung des Mont Ventoux» tief in die Bergliteratur eingeschrieben. Der Erzählbogen des singulären Erfolgs spannt sich über zahlreiche klassische Werke der Alpenliteratur, die in ihrer narrativen Struktur dramatische Aufstiegsszenarien imitieren und diese in Höhepunkten gipfeln lassen. Parallel dazu sind das Ersteigen und Erschreiben von Gipfeln seit Beginn des modernen Alpinismus eng miteinander verseilte Praktiken, deren geballte Kraft für die Etablierung des Sports wie die touristische Nutzung alpinen Raums essentiell war. In Bergsteigergeschichten, wie auch im Geschäft mit den Bergen, nimmt die Bergspitze neben ihrer spezifischen Örtlichkeit vor allem auch metaphorisch eine zentrale Rolle ein, um persönliche, sportliche und wirtschaftliche Höhepunkte zu markieren. Diese gipfelzentrierte Ausdrucksform ist Zeuge einer Kultur, die persönliches Heldentum, politische Kontrolle und Herrschaftsansprüche privilegiert betrachtet und dem komplexen ökologischen und sozio-kulturellen Raum des Berges, der unter dem teuer gehandelten Gipfel steht, wenig Wert beimisst.
Literarische Erosion
Während Berge ihre Gipfel infolge von Gletscherschwund und Steinschlag vermehrt menschlicher Anmassung entziehen, weigern sich auch Autorinnen und Autoren, die Bergspitze weiterhin der Expansion und Kommerzialisierung zugänglich zu machen. Thomas Glavinic präsentierte beispielsweise 2013 mit «Das grössere Wunder» eine im besten Sinne antiklimaktische Bergerzählung, in der die Idee des individuellen Alpinisten wegfällt und ein Abbruch der literarischen Gipfelweihe stattfindet. Der Weg des Protagonisten Jonas auf den Gipfel des Mount Everest gestaltet sich nämlich nicht als Heldengeschichte, sondern als Odyssee des Wartens, die nur dank Unterstützung durch Träger:innen, Bergführer:innen, Köch:innen, Ärzt:innen und Freund:innen möglich wird. So schreibt Glavinic das Netzwerk derer, die den Erfolg des alpinistischen Helden mittragen, aktiv in die Geschichte ein, während er den Gipfel aus ihr verbannt. Dies geschieht, indem Jonas den höchsten Punkt des Berges zwar erreicht, seine Errungenschaft am Ende jedoch verneint. Der narrative Höhepunkt dient damit nicht der Verfestigung des Gipfelmoments, sondern seiner Entmachtung.
Durch das «NEIN» auf die sonst vielfach besungene Gipfelfrage finden eine Entkoppelung der literarischen Gipfeltaufe und ein symbolischer Bruch mit der textuellen Gewalt in alpinistischen Erzählungen statt, wodurch der Gipfel zu einem Ort wird, an dem Wahr- und Hoheitsansprüche ausgehebelt werden. So liegt Glavinics literarische Antwort auf die Markierung des Gipfels im Verschweigen der Erklimmung sowie im Eröffnen einer Versuchsanordnung. An deren Ende stehen implizit eine Reihe einfacher Fragen, die dazu anleiten, unser Verständnis von Bergerfahrung zu überprüfen und dabei zentrale Aspekte wie ökologisches Handeln, globale Dekolonisierung und sozialen Wandel mitzudenken: Welche Geschichten erzählen wir über den Berg? Was legen sie offen und wem dienen sie?
Alternative Wege
Wer diese Fragen ernst nimmt, erkennt, dass Bergliteratur, neben der Dokumentation des Erreichten und dem Bezeugen des Verschwundenen, in erster Linie Gestalter des Kommenden ist. Die alpine Zukunft verlangt – wie das Schreiben und Bergsteigen – die Bereitschaft, sich dem Unbekannten zu stellen und neue Wege zu finden. Wer in den Geschichten des Gipfellosen vorgefertigte Lösungen sucht, wird nicht fündig. Wer aber, wie Salman Rushdie, die Aufgabe der Literatur nicht in der Problemlösung, sondern im Befeuern der menschlichen Schöpferkraft sieht, entdeckt einen wertvollen Motor für den Weg in eine lebenswerte alpine Zukunft. Ob Ausgangspunkt dafür das Basislager des Mount Everest oder doch ein Wiener Wohnzimmer ist, ist dabei einerlei.
Wenn Ludwik Wiewurka am Ende von Radek Knapps Roman «seinen» Gipfel verschenkt und ihn gemeinsam mit der Beschenkten dem Berg zurückgibt, bleibt die Hoffnung, dass der Dieb begnadigt wird. Das Gefühl, für einen flüchtigen Moment einen Berg in Händen zu halten, lässt schliesslich auch ein Gefühl der Verantwortung entstehen.