«Im Land der Verzauberung»: Faschistische Architektur und Massentourismus in Südtirol
Südtirol – im Habsburgerreich bekannt als die «Riviera der Alpen» – hat eine lange Geschichte als Tourismusdestination. Speziell im Sommer erfreut sich die nördlichste Provinz Italiens grosser Beliebtheit. Die Ursprünge des Massen- und Sporttourismus liegen in faschistischem Gedankengut, das sich bis heute architektonisch widerspiegelt.
Wie der Tagesanzeiger im Mai 2024 titelte, kämpft Südtirol – wie sein östlicher Nachbar Venedig – mit dem anscheinend überlaufenden Massentourismus. Wie kam es überhaupt dazu, dass Südtirol zu einer derartigen Tourismusdestination wurde? Als «Luftkurort» entdeckt wurde Bozen, damals eine der südlichsten Städte Österreichs, vor rund 200 Jahren. Hier entstanden ab 1840 eine Reihe an Grand Hotels, wie das Grand Hotel Karersee und das Hotel Pragser Wildsee, sowie neue Infrastrukturen zur Erholung und für Badekuren. Das Südtirol war zu Beginn vor allem als Kur- und Badeort bei den Gästen beliebt, insbesondere Meran und Gries bei Bozen. Hier blieben Kurgäste oft monatelang, wenn nicht jahrelang, zur Genesung und Erholung. Der Tourismus-Aufschwung profitierte dabei vom Strassenbau zur infrastrukturellen Erschliessung der Region; der Fremdenverkehr und die Fremdenindustrie erreichten das Südtirol ab den 1870er-Jahren. Und auch der Ausbau der Bahnlinien und Aufstiegsanlagen (Seilschwebebahnen) war ein wichtiger Tourismus-Treiber, wobei das Südtirol speziell beim Bau von Seilschwebebahnen eine europäische Vorreiterrolle einnahm: 1908 entstand in Bozen die Kohlerer Bahn als erste alpine Luftseilbahn für Personentransport.
Zäsur und Neuausrichtung
Das Südtirol wurde damit im ausgehenden 19. Jahrhundert das Nonplusultra für Ruhe und Erholungs-Suchende – und wuchs zum Tourismus-Juwel heran. Eine jähe Zäsur erfuhr die Region mit dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 und der Annexion Südtirols mit dem Vertrag von St. Germain 1919. Nun fiel Südtirol an Italien und erlebte als neue italienische Nordprovinz in den Zwischenkriegsjahren von 1919 bis 1943 einen Einschnitt in der Entwicklung der Fremdenindustrie.
Dieser Wandel fand – von einigen Ausnahmen abgesehen – nicht durch neue
Hotelbauten statt. Was sich in dieser Zeit veränderte, war das Zielpublikum.
Statt der bisherigen Ausrichtung auf Gesundung und Regeneration durch den
Aufenthalt im Gebirge, rückten nun Sport und sportliche Aktivitäten in den
Vordergrund. Das Gestalten eines solchen aktiven Urlaubs ist eng mit der
damaligen faschistischen Ideologie nationaler körperlicher Ertüchtigung und
technischer Beschleunigung verknüpft. Das faschistische Italien wollte zur
hochmotorisierten Industrienation aufsteigen: Die Produktion von Flugzeugen und
Automobilien galt – trotz geringer realer Inlandsnachfrage nach dem damaligen
Luxusgut Kraftwagen – als Ausweis und Katalysator der Modernisierung. Zudem
legte das Regime ab den 1920er-Jahren den Fokus des Südtiroler Tourismus immer
stärker auf den «inländischen Gast», weg vom internationalen Publikum der
Kurhotels.
Bauliche Veränderungen der örtlichen Architektur sollten die Ideologien der Partito Nazionale Fascista nachhaltig visuell in der Landschaft verankern, wie Ivan Bocchio in seinen Forschungen demonstriert. Architektur in Südtirol war in der Umbruchszeit von 1919 bis 1943 stark politisch getrieben. Zwar entstanden in den Zwischenkriegsjahren nur wenige neue Hotelbauten – doch wurde umso mehr Energie in die Weiterentwicklung des lokalen Tourismus und in den Umbau der Infrastruktur gesteckt: Während Gries bis 1914 ein bekannter Winterkurort mit Grand Hotels war, wurde der Ort ab den 1920er Jahren nach faschistischem Baustil modernisiert, sodass heute kaum mehr etwas von Gries’ Monarchie-Vergangenheit sichtbar ist. Erkennbar ist der faschistische Baustil etwa an der neuen Stadtplanung von Gries, wo nun eine Wohnsiedlung für die soziale und politische faschistische Elite entstand, oder an dem 1928 erbauten Bozener Siegesdenkmal.
Faschistische Zukunft für das «Land der Verzauberung»
Mit der forcierten Italianisierung der nördlichen Provinz ab 1923 wurde Architektur damit zum Herrschaftsmittel, und war Ausdruck von Macht und Kraft der italienischen Nation. Die unterschiedlichen architektonischen Vorhaben in der Region zeigen eine Instrumentalisierung und deutliche Allianz zwischen Politik und Architektur. Im Zuge dessen wurde das öffentliche Bauen zum Motor gesellschaftlicher Veränderungen mit dem Ziel, die «zurückgebliebene Infrastruktur des Landes» zu modernisieren. Faschistische Bautätigkeiten wurden zentral für den Einzug der Moderne in Italien und speziell in Südtirol. Das Bauen von Monumentalbauten zur Erinnerung an den grossen Krieg, die Heroisierung des Faschismus sowie Bauprojekte von privaten italienischen Unternehmen sollten das Ziel vorantreiben. Der Mailänder Architekt Giovanni Ponti realisierte mit dem Prestigeprojekt des Luxushotels «Albergo Sportivo Valmartello al Paradiso del Cevedale» ein Vorzeigeprodukt für die neue Moderne im Tourismussektor, das mit Blick auf die Gletscher des Ortlermassivs am hintersten Ende des abgelegenen Martelltals liegt und durch eine neu gebaute Strasse erschlossen wurde.
Mussolini erkannte das Potential Südtirols als einzigartige Alpenlandschaft – bezeichnete es als «Land der Verzauberung» – und benutzte den Tourismus ebenso als Medium der Propaganda. Damit wurde der Stein für die Entwicklung touristischer Infrastrukturen gelegt. Der «Duce» setzte hier den Fokus auf den Auto- und Sporttourismus. In den Jahren nach seiner Machtübernahme kam es insbesondere in Südtirol zu einer engen Kopplung von Strassen-, Seilbahn- und Hotelbau im Faschismus zu neuen Zwecken. Während noch vor dem Ersten Weltkrieg das österreichisch-ungarische Grossbürgertum in die Kur ging, sollen nun italienische Autofahrer:innen und Sportler:innen massenhaft in die Berge strömen. So soll das «Land der Verzauberung» in den 1940er-Jahren noch stärker touristisch ausgebaut werden. Interessant wird hier ein nicht-realisiertes technisches Grossprojekt einer Seilschwebebahn: Der «Schwebeflug» durch die atemberaubend schöne Dolomitenregion sollte internationale Gäste anlocken und die Region neben Venedig zu einer der grössten Tourismusdestinationen der Welt machen.

«Attraktion von Weltrang»
Das gewaltige Seilbahnprojekt Funivie Alte Dolomiti (F.A.D.) ist ein bislang kaum erforschtes, «utopisch» technisches Grossprojekt für touristische Infrastrukturen in der Dolomitenregion. Kernstück des Projekts: Eine gigantische Seilschwebebahn soll Bozen direkt mit Cortina d’Ampezzo verbinden. Mit einer Länge von 130-180 km (Quellenstand noch unklar) sollte die Seilbahn neben der direkten Verbindung von Bozen nach Cortina d’Ampezzo auch Zweigstellen erreichen: vom Pordoijoch aus auf die Punta Rocca auf der Marmolata (3330 m. ü. M.) sowie von der Seiser Alm nordwärts nach St. Ulrich und südwärts zum Karersee. Geplant war, eine Verkehrskapazität von über 2'000 Personen pro Stunde in beide Richtungen anzubieten und mit insgesamt fünfzehn Zwischenstationen den Gästen eine Erkundung von Gipfel und Gletscher der umliegenden hochalpinen Landschaft zu ermöglichen. Mit dem Erschliessungsprojekt der identitätsstiftenden Bergregion wären auch neue Berghotels, genügend Parkplätze an den Talstationen und weitere touristische Infrastrukturen entstanden.
Federführend bei der Entwicklung dieses gigantischen Projekts war Graf Gaetano Marzotto junior. Der Textilindustrielle (und Inhaber der Weberei «Lanificio Luigi Marzotto & Figli») aus Valdagno sah in der Umsetzung des Grossprojekts eine einmalige Investitionsmöglichkeit. Er verfügte über gute Verbindungen zur faschistischen Partei und erfuhr in der Projektplanung tatkräftige Unterstützung von seinem Generaldirektor, dem Ingenieur Filippo Masci. Mit dem Bau der Riesenseilbahn sollte den Reisenden ein bequemes und schnelles Transportsystem angeboten und der Genuss der berühmten Panoramablicke auf das Dolomitengebiet ermöglicht werden. Dadurch wäre der lokale Ski- und Bergsport begünstigt und der internationale Tourismus nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gefördert worden. Selbstverständlich wollte man mit der erfolgreichen Umsetzung des Grossprojekts auch international eine Vorrangstellung im alpinen Tourismus einnehmen.

Marzotto bewarb das Projekt als ideales Instrument, Italiens Stärke und Wagemut («di forza e di ardimento», 1942) nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs international unter Beweis stellen zu können. Die Umsetzung des Grossprojekts hätte Italien eine «unbestrittene Vorrangstellung» eingeräumt, so sein Versprechen. Doch ohne ausländische Finanzierungshilfe wäre ein solches Projekt nicht umsetzbar – diese Herausforderung war den Initiatoren bereits in der frühen Projektplanungsphase bekannt. Grossen Wert legte man hingegen auf einen italienischen Charakter: auf den Geist, von welchem es erdacht wurde, den ausführenden Technikern, dem Boden, auf welchem es gebaut werden sollte und den Arbeitermassen, die es umsetzen würden. Als Stolz des wiederauferstandenen Italiens sollte es die Nation einen und die nördliche Provinz zu einer «Attraktion von Weltrang» machen. So hätte das Seilbahnprojekt das Potential der alpinen Dolomitenregion touristisch vorantreiben, Horizonte erweitern, neue Aufstiege ermöglichen und Tourist:innen nie zuvor gesehene Blicke auf das Bergmassiv anbieten sollen.
Graf Marzotto unterrichtete Benito Mussolini und dessen Parteisekretäre 1942 in Briefen von diesem Grossprojekt – und erhielt im Anschluss daran tatsächlich die Genehmigung zum Erbau dieses komplexen Seilbahnsystems im alpinen Hochgebirge. Pläne und Skizzen stammen nach ersten Recherchen höchstwahrscheinlich aus den Federn der beiden Architekten Giovanni Ponti und Francesco Bonfanti. Interessanterweise sind die Skizzen von Giovanni Ponti bereits aus den 1930er-Jahren datiert, wie die Historiker Joachim Moroder und Benno Peter herausfanden.

Auswirkungen bis heute
Realisiert wurde das gigantische Projekt nie – angesichts der militärischen Verstrickung Italiens im Zweiten Weltkrieg fehlten dafür die finanziellen und technischen Ressourcen. Als grosstechnische Utopie von damals wirft es aus heutiger Sicht allerdings einen etwas unheimlichen Schatten in die Zukunft: Marzottos Seilbahn-Projekt entwirft eine Art grosstechnische Alpenerschliessung, die ab den 1970er Jahren – wenn auch an anderen Orten und in anderem Massstab – in riesigen touristischen Projekten im Alpenraum tatsächlich realisiert wurde. Südtirol wird heute aggressiv und sehr erfolgreich als Destination für Sport- und Aktivurlaub vermarktet, optimiert für beschleunigten Individualverkehr – gar nicht viel anders als unter Mussolini.
Das «utopische» Grossprojekt zeigt aber vor allem eines: In Südtirol wurde Tourismus während der Zwischenkriegsjahre zur strategischen Investition und gebauten Politik. Die Initiatoren trugen mit ihren utopischen Bildern zur Neucodierung der Berge bei. Es waren diese alpinen Traumbilder und ihre Folgen, die heute Massen an Tourist:innen in die Dolomitenregion locken und die Provinz vor neue Herausforderungen stellen.