Torrent du Déchènâ, Hérémence VS (© M. Volken)

FOKUS WASSER: Das Wasserland Schweiz im Wandel – eine Einführung mit...

Der alpine Wasserhaushalt gerät durch die globale Erwärmung unter Druck und befindet sich in einem starken Wandel – deshalb lanciert Syntopia Alpina einen neuen Fokus mit mehreren Beiträgen zum Thema Wasser. Eine Einführung mit dem Hydrologen Rolf Weingartner. Von Aline Stadler.

Rolf Weingartner, der Wasserhaushalt im Alpenraum befindet sich mitten in einer grossen Veränderung. Was passiert da zurzeit?

 

Der Wasserhaushalt im Alpenraum befindet sich seit den 1980er-Jahren in einer ausgeprägten Umbruchphase, die wesentlich durch den Anstieg der Lufttemperatur geprägt ist. Schnee und Gletscher als zentrale Elemente des Wasserhaushalts verändern sich markant: Die Schneedecke wird dünner und bleibt weniger lang bestehen; die Gletscher gehen stark zurück und werden weitgehend verschwinden. 
Allein in den letzten zehn Jahren ist die Gletschermasse um rund einen Viertel zurückgegangen. Mit dem allmählichen Rückgang von Schnee und Gletscher verschwinden zentrale Speicher im alpinen Wasserhaushalt. Gleichzeitig nimmt die Verdunstung zu, und mit der steigenden Nullgradgrenze erhöht sich der Anteil des Regens am Gesamtniederschlag. Aufgrund dieser starken Abhängigkeit des alpinen Wasserhaushalts von der Lufttemperatur ergibt sich ein sehr konsistentes Zukunftsbild.

 

Nämlich welches?

 

Im Winter und Frühling werden die Abflüsse zunehmen, weil Niederschlag nun öfters in Form von Regen fällt und die Schneeschmelze früher einsetzt. Zudem nimmt der Winterniederschlag zu. Im Sommer hingegen gehen die Abflüsse in vielen Gebieten markant zurück – in hochalpinen Einzugsgebieten um bis zu 40 % bis zum Ende des Jahrhunderts. Dazu tragen auch die abnehmenden Sommerniederschläge bei. Wir wissen heute also ziemlich genau, was uns erwartet, und könnten uns eigentlich proaktiv mit dieser Zukunft auseinandersetzen. Das wäre umso wichtiger, weil diese Entwicklungen nicht nur die Alpen als Natur- und Lebensraum betreffen, sondern auch die umliegenden Tiefländer, die im Sommer in hohem Mass auf das alpine Wasser angewiesen sind.

Wird sich das Landschaftsbild der Alpen stark verändern?

 

Ja, das Landschaftsbild der Alpen steht vor einem tiefgreifenden Wandel – geprägt einerseits durch den Klimawandel, andererseits durch die zunehmende Nutzung der Wasserressourcen. Die sogenannten Abflussregimes ermöglichen eine integrative Beurteilung von Landschaft und Hydrologie. Sie zeigen, wie Gletscher und Schnee das saisonale Abflussverhalten charakterisieren; so fliesst im Sommer viel Wasser in glazialen Einzugsgebieten, während in nivalen Einzugsgebieten der Abfluss um einiges kleiner ist.

 

Insgesamt verschiebt sich der Alpenraum hydrologisch in Richtung eines Mittelgebirges. Das bedeutet: weniger Schnee, mehr Regen, höhere Variabilität im Abflussverhalten sowie eine Zunahme extremer Ereignisse sowohl bei Hoch- als auch bei Niedrigwasser. Diese Verschiebung beeinflusst auch die Wahrnehmung der alpinen Landschaften. Im Weiteren hinterlässt die Nutzung der Wasserkraft und anderer Formen der Wasserbewirtschaftung deutliche Spuren im Wasserhaushalt wie auch in der alpinen Landschaft.

Exkursion des Urner Instituts Kulturen der Alpen mit Rolf Weingartner im Maderanertal (© Marco Volken)

Im Moment dreht sich die politische Diskussion um den Ausbau erneuerbarer Energien im Alpenraum, auch der alpinen Wasserkraft. Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Fragen?

 

Im Kern sind es zwei. Erstens: Soll und kann sich die alpine Wasserkraft weiterentwickeln – und wenn ja, wie? Mit den «15 + 1 Projekten» des Runden Tischs unter Bundesrätin Sommaruga wurden die Leitplanken gesetzt, und diese Wasserkraftprojekte sind nun im Stromgesetz verankert. Was mich irritiert, ist die aktuelle Diskussion, dass jetzt noch weitere Projekte hinzukommen sollen, weil einige der damaligen Vorhaben nicht oder nur langsam umgesetzt werden. Dieses rein energiewirtschaftlich motivierte Vorgehen greift aus meiner Sicht zu kurz.

 

Und zweitens?

 

Die Restwasserfrage ist ungelöst. Unterhalb von Stauanlagen und Wasserfassungen führen viele Bäche und Flüsse zu wenig Wasser, um ihre Funktionen zu erfüllen. Dies beeinträchtigt sowohl die Ökologie als auch die Grundwasserneubildung und beeinflusst Landschaftsbild, Tourismus und Lebensqualität in den Tälern. Politisch bewegt sich hier nichts – im Gegenteil: Es wird sogar darüber nachgedacht, die ohnehin kleinen Restwassermengen weiter zu reduzieren. Das wäre ein Rückschritt. Dabei gäbe es durchaus Spielräume: Im Sommer besteht heute ein Stromüberschuss. Man könnte die Produktion der alpinen Wasserkraft zeitweise drosseln und damit mehr Wasser in die Bäche zurückbringen. Es geht darum, Energieproduktion und Gewässerschutz miteinander zu verbinden und nicht gegeneinander zu denken. 

Was müssen wir aus landschaftlicher Sicht tun?

 

Die Alpen brauchen klare landschaftliche Leitbilder – gerade auch im Bereich des Wassers und der Gewässer – die Nutzung, Schutz und Identität miteinander verbinden. Mit einer solchen Profilierung liessen sich Zustände vermeiden, wie wir sie heute im Mittelland kennen, wo profil- und identitätslose Gegenden entstanden sind. Es fehlt aber letztlich an politischem Ehrgeiz, den Alpenraum als Ganze zu erhalten und zu stärken. Partikulare Interessen überwiegen, und der Wille zu einer gesamthaften Sicht ist bislang nicht erkennbar.

 

Und was ist aus hydrologischer Sicht nötig?

 

Die grundlegenden Prozesse der bereits abgelaufenen wie auch der künftigen Veränderungen sind heute sehr gut verstanden. Wir können präzise beobachten und künftige Entwicklungen modellieren, doch gelingt es bisher kaum, dieses Wissen in ein wirksames lokales bis regionales Wassermanagement umzusetzen. Genau darin liegt die eigentliche Schwierigkeit. Wasser wird nämlich erst dann zu einem Problem, wenn wir nichts tun. Eigentlich können wir auf einem stabilen Wert aufbauen: Die jährlich verfügbaren Wassermengen werden auch in Zukunft ähnlich sein wie heute. Herausfordernd sind die Umverteilung der Abflüsse im Jahresverlauf und die Zunahme von nassen und trockenen Extremen. Wir müssen das Mehr im Winter künftig für den Sommer bereithalten. Speicher – grosse wie kleine, zentrale wie dezentrale, bestehende wie neue – sind notwendig, um Wasser im Winter zurückzuhalten und im Sommer verfügbar zu machen. Mit jedem neuen Speicher steigt aber auch der Druck auf die Landschaft. Das zeigt, wie wichtig eine integrale landschafts- und wasserhaushaltliche Sicht ist, um die kommenden Herausforderungen zu meistern. 

Exkursion des Urner Instituts Kulturen der Alpen mit Rolf Weingartner im Maderanertal (© Marco Volken)

Benötigen wir ein nationales Wassermanagement?

 

Ich denke, es braucht einen verbindlichen Impuls von «oben,» damit Kantone und Gemeinden das Thema Wasser wirklich anpacken und Lösungen entwickeln. Vielleicht sollten wir aber aufhören, von «Wassermanagement» zu sprechen. Das klingt nach grossen Organisationen, nach Administration und komplizierten Strukturen. Es geht doch einfach darum, auf lokaler und regionaler Ebene ein resilientes und nachhaltiges Wassersystem zu schaffen. Dafür braucht es eine solide Datengrundlage – über das verfügbare Angebot und den Verbrauch –, um Stärken und Schwächen zu erkennen und gezielt handeln zu können. Hier herrscht ein grosses Defizit. Und es braucht verbindliche Bewirtschaftungsprinzipien, an denen sich alle Akteur:innen orientieren können, wie etwa prioritäre Nutzungen in Trockenzeiten und ein effizienter Umgang mit Wasser.

 

Nur im Zusammenwirken der verschiedenen räumlichen Skalen werden wir zu guten Lösungen kommen. Der vielleicht schon etwas abgegriffene Satz «global denken, lokal handeln» bringt es gut auf den Punkt. Alpenweite Richtpläne und Bewirtschaftungsprinzipien helfen, das Wasser und die Nutzung des Wassers in der Landschaft gezielt zu fördern und zu stärken. Dazu gehört auch der Einbezug der Speicher, die immer wichtiger werden. Für die Wasserbewirtschaftung auf regionaler und lokaler Ebene sind Vorgehensweisen zu entwickeln, die dann jeweils massgeschneidert vor Ort angewendet werden können. Nicht jede Gemeinde muss das Rad neu erfinden. 

Im Rahmen von «Fokus Wasser» widmet sich Syntopia Alpina in Zusammenarbeit mit Ihnen in den kommenden Monaten regelmässig den Veränderungen des alpinen Wasserhaushalts – welche Themen erwarten uns?

 

Das alpine Wasser muss wieder als das begriffen werden, was es ist: ein zentrales Gut, das Natur, Nutzung und Lebensqualität im Alpenraum miteinander verbindet. Genau dazu sollen die geplanten Beiträge anregen. Sie beleuchten die Prozesse und Folgen der klimabedingten «Verflüssigung» des alpinen Wasserhaushalts und der menschlichen Beeinflussung des Wasserhaushaltes aus unterschiedlichen Perspektiven, wissenschaftlich fundiert, aber mit Blick auf die konkreten Herausforderungen vor Ort.

 

Vorgesehen sind einerseits Beiträge, die den aktuellen Forschungsstand und die hydrologischen Mechanismen vertieft darstellen, und andererseits solche, die die Auswirkungen auf Landschaft, Gesellschaft und Wirtschaft im Alpenraum sichtbar machen. Wir möchten die Autor:innen ausdrücklich ermutigen, ihre Erkenntnisse anhand konkreter Fallbeispiele zu illustrieren und praxisnahe Lösungsansätze sowie Massnahmen zu diskutieren, die geeignet sind, proaktiv und regional abgestimmt auf die fortschreitende Verflüssigung des Alpenraums zu reagieren.

Lancierung des «Fokus Wasser» auf Syntopia Alpina, mit Aline Stadler, Boris Previšić und Rolf Weingartner sowie weiteren Forscher:innen des Urner Instituts Kulturen der Alpen (© M. Volken)