Alpines Bauhandwerk: Altes und neues Wissen vereinen
Holzbauten sind typisch für den Alpenraum. Bis in die 1960er Jahre war es üblich, Materialien wiederzuverwenden und zu reparieren. Ein geschlossener Kreislauf war damit Tradition – davon kann die alpine Architektur heute wieder lernen.
Berg, Tal, überall – Bauen in den Bergen
Eva Gredig ist Schindelmacherin im Safiental. Sie haut aus Lärchenholz Brettchen für Dachdecker und sie macht Fichtenschindeln, die sie auf die Dächer der oft nicht mehr gebrauchten Ställe, Stuppli, Hütten und Härdställe nagelt und damit einen Beitrag zu deren Erhalt leistet. Ein paar Kilometer weiter in Ilanz hat Christian Aubry seine Werkstatt. Er ist Kalkbrenner und weiss, wie stabile, robuste und schöne Verputze hergestellt und aufgebracht werden. Die beiden sind Bauleute, die das Baugedächtnis bewahren und so ihr Geld verdienen. Die Dichte an handwerklichem Können gefällt mir am Bauen in den Alpen. Die Wucht der vereinheitlichten renditeorientierten Immobilien hat die Architektur noch nicht so homogenisiert wie in den Metropolitanzonen und ihren Agglomerationen. Im Bregenzerwald gibt es vielfach, was Eva und Christian und Etliche über die Alpen Verstreute tun. Vor gut dreissig Jahren haben ihre Handwerkerkollegen in dieser Voralberger Region den «WerkRaum» aufgebaut. Ein Netz, eine Lobby, eine Wirtschaftsgemeinschaft, die das A und O jeder Architektur beherrschen: Konstruieren und Bauen. Dazu gehören Zimmerleute, Tischler, Baumeister, Elektriker, aber auch Schneiderinnen, Filzer und sogar eine Schuhmacherin – mittlerweile sind es über hundert Betriebe. Tradition und Neugierde für die technischen, sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungen halten dieses Netz zusammen. Können und Kultur werden ihnen helfen, im Geschäft zu bleiben. Und ihr Bauhandwerk pflegt die Eigenart und Schönheit der Architektur in den Alpen.
Vom Handfesten zum grossen Ganzen
Bauen in den Alpen ist freilich so vielfältig, anspruchsvoll und verwickelt wie draussen in den urbanen Zentren. Es ist aber anregend, jenseits der idyllischen gebirgigen Landschaft mit Wechselwirkungen zwischen Architektur und Topografie, zwischen unterschiedlichen sozialen Lebensformen und Ressourcen zu entwerfen und zu bauen. «Wenn das Spielfeld des Architekten keine Ebene ist, sondern dreidimensional plastisch geformt, müssen auch die Spielregeln anders sein. Was in den Bergen gebaut und verändert wird, strahlt über den Ort hinaus. Jeder Eingriff hat Fernwirkung im Guten wie im weniger Guten. Das Gelungene leuchtet weiter als in der Ebene, das Schlechte schmerzt über das Tal hinweg.» Das sagte mir Helmut Dietrich vom Vorarlberger Büro «Dietrich/Untertrifaller», als ich ihn für mein Buch «Bauen in den Alpen» nach der Besonderheit frug. Er weiss es genau, denn er führt eines der grössten Architekturbüros in den Alpen mit Baustellen in den Grossstädten, im Hügelland und im Hochgebirge.
Im Holzbauland
Und wie viele seiner Voralberger Kollegen ist Dietrich ein Hölziger. Er absolvierte eine Lehre im Holz, bevor er sich der Architektur widmete. Denn die Alpen sind ein Holzbauland. Gewiss, die Zentren der Erfindung im Holzbau sind die technischen Hochschulen in München oder in Lausanne. Die Weiterentwicklung aber ist eine Domäne der Holzbaubetriebe im Hügelland, und die Konstruktion ist eine wirtschaftlich ergiebige Arbeit in den Alpen von der Arbeit im Wald bis in die Abbundhalle der Zimmerei. Zeitgenössischer Holzbau ist hoch entwickelte Technologie; die Zimmerleute, auch jene weit weg von den Zentren, verfügen über Fähigkeiten und Maschinen, um aus dem Holz Teile und ganze Häuser nicht nur für ihre Umgebung, sondern bis weit ins Flachland hinunter zu bauen. Holz aber ist nicht nur gut für die Konstruktion. Immer mehr Dörfer in den Alpen sind an Heizzentralen angeschlossen, in der Holz für Wärme sorgt. Und so bleibt der Holzbau der Nukleus der Kreislaufwirtschaft: gewachsen im Gemeindewald, verarbeitet in der Zimmerei, genutzt für drei Generationen und verbrannt im Ofen. Und ein Muster der Zuversicht, wenn das Holz nicht aus den ewigen Wäldern Skandinaviens herbeigekarrt und mit Leim so verändert wird, dass es schliesslich auf dem Sondermüll zu landen hat. Gutes Holz aber ist eine Kreislaufwirtschaft und Architektur, die sich ohne grosses Tamtam und ohne Beschwörungen seit Generationen technisch, kulturell und wirtschaftlich bewährt haben. Solche Zuversicht ist ein nötiger Beitrag, um die Klimaziele des Pariser Übereinkommens zu erreichen. Er genügt aber nicht. Sein Gewinn wird von der landläufigen Bauerei inner- und ausserhalb der Alpen verdorben. Andersherum: Vor dem Holzhaus mit zehn Wohnungen und effizienter Energiekennzahl stehen zehn Autos. Sie trüben den hölzernen Glanz allzusehr.
Der Mensch muss wohnen
Vorbildlich für gutes, zukunftsfähiges Wohnen ist das alpine Bauernhaus: Grundrisse, Materialien, Konstruktionen sind über viele Jahrzehnte in der Auseinandersetzung mit den rauen klimatischen Bedingungen entstanden. Sie sind der Inbegriff von «Suffizenz», für die heute so notwendige Genügsamkeit und Selbstbegrenzung. Es ist ein für die Klimapolitik zentraler Begriff. Denn ich bin mir sicher, dass wir nicht allein mit technischen Erfindungen und Entwicklungen den Klimawandel bremsen werden. Das Bauernhaus ist ein Labor für zukunftsfähiges Wohnen, auch wenn seine ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner der Schlag ob solcher Zumutung träfe. Wie genossen sie es doch, nach tausendjähriger Suffizienz die Wohltaten von Zentralheizung und Warmwassers anzunehmen. Und freilich will ich keineswegs den Schindluder verkennen, den gut gefüllte Geldsäckel in alten Bauernhäuser anrichten, ihr Angebot und ihre Erfahrung für suffizientes Wohnen ins Groteske verziehend. Das Wohnexperiment aber heisst «verzichten, um zu gewinnen». Schmunzelnd sehe ich denn auch zu, wie Architektur- und Wohnexperimente ausserhalb der Alpen von der Suffizienz des alpinen Bauernhauses lernen, von seinem Grundriss aus Heiss-, Warm- und Kalträumen, den Veranden, Gängen und Luft- und Schattenflügeln statt aufwändigen Haustechnik-Maschinen. Auch gilt es, das Vergnügen schätzen zu lernen, dass am kühlen Abend der dicke Pullover zwar keine Energiekennzahl aufweist, aber mit wenig grauer Energie Körper und Seele wärmt.
Kreislauf in Tradition
Schliesslich: Zur «Suffizienz» schlagen ihre Architekten vor, man möge doch Material und Konstruktion so konzipieren, dass sie endlos wiederverwendet werden können. Im alpinen Raum sehen wir noch gut, wie diese Idee das Bauen bis in die 1960er-Jahre bestimmt hat. Wiederverwenden und reparieren waren der Baukultur des Mangels geschuldet. Die Fantasie der Kreislauf-Baumeister war gross, Wegwerfen ein Fremdwort. Mit Wucht haben Moderne, Fortschritt und die mit ihnen verbundenen Revolutionen im Planen und Bauen innert weniger Jahre mit diesem Gedächtnis aufgeräumt. Seit ein paar Jahren nun ist der Kreislauf wieder hoch im Kurs. Seine Architekt:innen und Ingenieur:innen sind gut beraten, die noch bestehenden Bauten der Kreislaufzeit in den Alpen zu studieren und in Bezug auf sie Ideen zu entwickeln, wie die Not der Mangelwirtschaft mit den Vorzügen der zeitgenössischen Techniken verbunden werden kann.