Arbeiten, wo andere Urlaub machen
Migration und Tourismus sind zwei Seiten derselben Medaille. Bisher sind sie noch kaum auf ihre Gemeinsamkeiten und Verbindungen hin untersucht worden – doch ihre Erforschung bietet überraschende Erkenntnisse.
Die Geschichte der Alpen ist auch eine Migrationsgeschichte
Migration ist ein Grundpfeiler der Menschheitsgeschichte. Es gibt keinen historischen und geografischen Raum ohne Migration. Entsprechend war auch der Alpenraum seit jeher von Mobilität geprägt. Und während das Narrativ der angeblich sesshaften Bergbevölkerung schon längst als politisch motivierter konservativer Mythos entlarvt ist, hat die Forschung auch die These widerlegt, wonach die Alpen nur Abwanderungsgebiet waren. Zwar sind Söldner, Zuckerbäcker oder Schwabengänger dafür bekannte Beispiele. Doch Bergbau, Reformation oder Baugewerbe führten – oft zeitgleich – zu Zuwanderung. Unbestritten ist, dass die Geschichte der Alpen auch eine Migrationsgeschichte ist.
Ein jüngerer Aspekt dieser Migrationsgeschichte tritt dabei erst jetzt ins Bewusstsein: Migration im Kontext der Tourismuswirtschaft. Letztere wurzelt in den Gaststätten für Reisende einerseits und der Tradition der Heilbäder andererseits. In der Mitte des 19. Jahrhunderts entsteht daraus der moderne Tourismus. Er vermietet Adeligen und reichen Bürger:innen für einen mehrwöchigen Aufenthalt eine eingerichtete Natur, medizinische Pflege und Kur sowie den Luxusstandard von Prunkschlössern. Doch dafür braucht es Arbeitskräfte – eine hohe Mobilität und Migration sind die Folge.
Zwischen Ferienaufenthalt, multilokalem Wohnen und saisonalem Arbeiten
Während die einen für Wochen oder manchmal Jahre in die Feriendestination zogen, sich dort in ein Hotel einquartierten oder einen Zweitwohnsitz erwarben, folgten andere dem Ruf nach Arbeitskräften, die in eben diesem neuen Wirtschaftszweig gebraucht wurden. Unterstützt wurde diese Entwicklung durch das Einsetzen von überregionalen Finanzströmen, die zum Zweck der Profitgenerierung ins neue Geschäftsmodell des Alpentourismus gelenkt wurden. Massgeblich war einerseits die infrastrukturelle Erschliessung der Alpen durch Kutschen und später die Eisenbahn, und andererseits die Erzählung, auf welcher der Tourismus in Bergdestinationen bis heute fusst: das im Kontrast zur Realität stehende Narrativ von der unberührten Natur als Erholungsraum. Die Alpen als Paradies waren erfunden, Modernität wurde zur «Heimat-Inszenierung» (Thomas Barfuss), und die Mobilität erhielt einen wichtigen Impuls, da die Berge nun Sehnsuchtsort und Wirtschaftsraum in einem waren.
Tourismus führt zu Migration: Engadin, Arlberg, Südtirol im Vergleich
Migration ist im Engadin, am Arlberg und in Südtirol schon vor dem Beginn des Tourismus nachweisbar. Aber erst das Aufkommen der Grandhotels der Belle Époque führt zu deutlicher Zuwanderung – in St. Moritz steigt die Bevölkerung von 228 im Jahr 1850 auf 3197 im Jahr 1910, in Meran verdreifacht sie sich in dieser Zeit. In Lech, dessen Bevölkerung von 469 Menschen im Jahr 1810 auf 339 um 1900 schrumpft, setzt die touristische Entwicklung erst nach dem Ersten Weltkrieg ein. Dort verdoppelt sich die Einwohnerzahl allein zwischen 1923 und 1934 auf insgesamt 751 Menschen. Die Rekrutierung von Arbeitskräften wiederum ist in den drei Orten unterschiedlich: Während das weite Einzugsgebiet der Habsburgermonarchie Menschen aus Böhmen, Ungarn oder Slowenien nach Meran oder aus dem Trentino nach Vorarlberg führt, aktiviert das Migrationsregime im Engadin andere Provenienzen (Schweiz, Italien, Frankreich). Zudem ist dort der Anteil saisonal beschäftigter Bündner:innen mit zwischenzeitlicher Rückkehr ins Heimatdorf hoch.
Primäre, sekundäre und tertiäre touristische Arbeitsmigration
Die primäre touristisch bedingte Arbeitsmigration der Hotelangestellten wurde um eine sekundäre ergänzt, denn Tourismusorte zogen auch Freiberufler aus dem Gesundheitswesen (Kurärzt:innen, Masseur:innen, Therapeuti:nnen), der Unterhaltungsbranche (Salonmusiker:innen, Sportler:innen, Theaterkünstler:innen), dem Dienstleistungssektor (Fotograf:innen, Friseur:innen, Florist:innen) oder der Modebranche (Verkäufer:innen von Kleidung, Hüten, Accessoires) an. Dazu kommt die tertiäre touristisch bedingte Arbeitsmigration von Beschäftigten im Infrastrukturbereich.
Meistens waren alle drei Formen dieser Migration, deren gemeinsames Merkmal ihre Saisonalität darstellt, gleichzeitig vorhanden. Während die einen im Hotel angestellt waren und Selbständige ihre Dienste für die Gäste anboten, bauten Arbeiter neue Strassen, Bahntrassen und Beherbergungsbetriebe. So wirkten die «transformative Kraft des Tourismus» (Martin Knoll) und die «konstitutive Kraft der Migration» (Walter Leimgruber) auf die Entwicklung der Kurorte und Regionen und führten zu einem Bevölkerungsschub, zu technologischer Erneuerung, wirtschaftlichem Wachstum und gesellschaftlichem Wandel. Damit entstehen neue Beherbergungsbetriebe – nicht selten im Besitz von Migrant:innen –, die wiederum zu mehr Tourismus führen. Migration und Tourismus bedingen sich gegenseitig und setzen eine Entwicklungsspirale in Gang, die erst durch den Ersten Weltkrieg und, nach einer kurzen Phase der Erholung in den 20er-Jahren, durch die Weltwirtschaftskrise abflacht.
Kettenmigration und Netzwerkarbeit
Kettenmigration spielte für den Kurtourismus eine wichtige Rolle – viele Migrant:innen brachten in der Folgesaison Verwandte oder Bekannte mit. Zwischen dem Engadin und Meran gab es zudem regen Austausch, weil Angestellte nicht selten die Sommersaison im Engadin und die Wintersaison in Meran verbrachten. In erster Linie war Tourismus «eine Netzwerkarbeit» (Karin Maringgele), bei der vor allem die Hoteldirektoren eine Schlüsselrolle spielten – ihre Empfehlungsschreiben öffneten Türen. Die saisonalen Verträge erhöhten den Druck und führten zu hoher Fluktuation unter den Angestellten. Aus dem Personalbuch der Pension Waldhaus in Vulpera von 1889 – wenige Jahre vor dem Bau des legendären Grandhotels – geht hervor, dass etwas mehr als die Hälfte der Mitarbeitenden aus der Schweiz stammte, manche aus dem Unterengadin oder dem Val Müstair, andere aus dem Kanton Zürich. 20 der 41 Angestellten waren Ausländer:innen, wenige aus dem nahegelegenen italienischen Livigno, die meisten aus der Habsburgermonarchie. Neben einzelnen aus Meran stammten die meisten aus den grenznahen Gemeinden des historischen Tirols.
Migration als Konstante
Es sind dieselben Orte, aus denen auch heute noch die meisten migrantischen Arbeitskräfte des Unterengadins herkommen. Hier zeigt sich eine historische Konstante, auch wenn viele heute nicht mehr in Hotellerie und Gastgewerbe, sondern eher im Gesundheitswesen oder im Handwerk tätig sind. Es ist dieselbe Konstante, die hinsichtlich der italienischen Bauarbeiter im Oberengadin oder der Meraner Hotelangestellten aus Tschechien, der Slowakei oder Ungarn festzustellen ist. Es zeigt, dass Migration nicht nur eine historische, sondern auch eine zeitgenössische Konstante ist.