Lago Ritom TI (© M. Volken)

Lac des Dix VS (© M. Volken)

Lac d'Emosson VS (© M. Volken)

Lago del Naret TI (© M. Volken)

Erneuerbare Energien im Alpenraum: Partizipative Prozesse neu denken

Das Energiepotenzial im alpinen Raum ist gross – ob die technisch machbaren Lösungen aber umgesetzt werden können, hängt von der öffentlichen Wahrnehmung der Bürger:innen ab. Daher braucht es neben einer planerischen Partizipation auch eine finanzielle und sinnliche Teilhabe der Bevölkerung.

Im August 2019 beschloss der Bundesrat das Netto-Null-Ziel für 2050. Die Schweiz soll bis dann nicht mehr Treibhausgase ausstossen als natürliche und technische Speicher aufnehmen können. Der Einsatz von fossilen Energien soll so weit wie möglich auf Null gebracht werden, durch Energieeffizienz und den Umstieg auf nachhaltige Energieformen. Für die Dekarbonisierung wird Elektrizität eine Schlüsselrolle spielen – die Stromproduktion aus erneuerbaren Energien muss daher rasch ausgebaut werden.

Netto-Null, aber wie?

Die Energieperspektiven 2050+ legen dar, was dies bedeutet: Während die Windenergieerzeugung von heute 0,1 Terawattstunden (TWh) auf 4,3 TWh im Jahr 2050 steigen soll, wird für Photovoltaik (PV) ein Anstieg von 2,2 TWh auf 33,6 TWh prognostiziert. Hier spielt aber nicht nur die Grösse der neuen Anlagen eine Rolle, sondern auch die geografische Verteilung. Viele der neuen Windkraft- und PV-Anlagen werden dort gebaut, wo das Potenzial am grössten ist – für Wind sind das der Jura, die Alpen und die Voralpen. Bei PV-Anlagen muss neben allen bebauten Flächen auch die Saisonalität mitbedacht werden: PV-Anlagen im Mittelland weisen einen Winterstromanteil von rund 25% aus, bei alpinen Freiflächenanlagen wächst dieser auf bis zu 56% an. Daher sind die Alpenregionen unverzichtbare Akteure für das Netto-Null-Ziel. Der Bau solcher Anlagen hat einerseits ökologische Folgen, führt aber auch zu einem tiefgreifenden Wandel der alpinen Landschaften und verschärft den Raumnutzungskonflikt. Dieser Konflikt, der zwischen verschiedenen Nutzungsformen (z.B. durch Energieproduktion und Tourismus) und dem Bewahren der Landschaften besteht, kann nur in einem sozialen und gerechten Aushandlungsprozess unter Einbezug der Gesellschaft gelöst werden.

Wie wird Energieinfrastruktur wahrgenommen?

Um die öffentliche Wahrnehmung von erneuerbaren Energieinfrastrukturen zu messen, verwenden Forschende das Konzept der «sozialen Akzeptanz». Vom Energieinfrastrukturbau in den Alpen sind diverse Gruppen direkt und indirekt betroffen, die wissenschaftliche Literatur spricht jedoch vor allem von zwei Bevölkerungsgruppen: Menschen, die vor Ort wohnen, und Menschen, die ihre Freizeit dort verbringen. Unter den vielfältigen Faktoren, die die Wahrnehmung beider Gruppen beeinflussen, möchte ich einen herausgreifen: Die Vertrautheit. Überraschenderweise steht das Wohnen in der Nähe einer Windturbine oder der Aufenthalt in der Nähe einer solchen im Zusammenhang mit einer höheren «sozialen Akzeptanz». So würden 69% der Einwohner:innen in einer kanadischen Gemeinde mit Windrädern für lokale Windturbinen stimmen, aber nur 25% in einer Vergleichsgemeinde ohne Windräder. Was bedeutet das im Hinblick auf den Faktor Vertrautheit? Nehmen diejenigen Menschen, die nur eine imaginäre Vorstellung von Windrädern haben, aber nie eines von Nahem gesehen haben, eine ablehnendere Haltung ein? Auf jeden Fall greift das altbekannte «Not in my backyard» (NIMBY) definitiv zu kurz. Selbstverständlich müssen nebst der passiven Akzeptanz auch aktive Reaktionen wie Unterstützung und Widerstand untersucht werden. Wie neuere Studien zeigen, ist eine unzureichende öffentliche Teilhabe eine der Ursachen für erfolglose Projekte. Umso wichtiger, dass Energieinfrastrukturplanung als partizipativer Prozess gestaltet wird.


Finanzielle Teilhabe – die Sicht einer Umweltökonomin

Partizipation kann auch als finanzielle Teilhabe gestaltet werden. In Dänemark wird zum Beispiel ein fester Anteil der Investitionen sowie des Eigentums an neuen Stromproduktionsanlagen für die Standortgemeinde und die Anwohner:innen reserviert. Auch können Mitbestimmungsrechte über die Besitz- und Organisationsform verankert werden, indem Bürger:innen-Beteiligungsprojekte als Genossenschaften organisiert werden. Die lokale Politik könnte festlegen, dass möglichst alle Arbeiten – wie zum Beispiel der Bau einer Zugangstrasse – von lokalen Firmen ausgeführt werden müssen, um die lokale Wertschöpfung zu maximieren. Eine weitere Idee wäre, eine Ressourcenrente für Wind- und PV-Anlagen im alpinen Raum einzuführen, analog zum Wasserzins, der Berggemeinden und -kantone für die Wassernutzung entschädigt. Die Stromproduzent:innen würden dann einen Beitrag an die Gemeinden für die Nutzung der Landschaft zahlen. Natürlich spielen bei partizipativen Prozessen nicht nur materielle Faktoren eine Rolle, weshalb auch eine frühe planerische Partizipation z.B. bezüglich der Standortwahl wichtig ist.

Sinnliche Teilhabe – die Sicht einer künstlerischen Forscherin

Weil Wahrnehmung auch immer eine sinnliche, körperliche Wahrnehmung mitmeint, verwende ich in meiner forschenden Praxis bevorzugt den Begriff «Wahrnehmung» statt «soziale Akzeptanz». Hier möchte ich auf die Vertrautheit zurückkommen. Die «Erneuerbarkeit» und damit auch die Qualität von Strom aus der Steckdose können wir nicht beobachten und daher zu Hause auch nicht direkt erfahren. Aber wir sind in unserem Alltag immer «ferngekoppelt» (englisch: telecoupled) mit Orten, wo Strom produziert wird: dem Wasserkraftwerk in Göschenen, der PV-Anlage in Davos und dem Windrad auf dem Gotthard. Versuchen wir doch, eine Verbindung zu schaffen zwischen Steckdose und Kraftwerk, die über reine Imagination hinausgeht, indem sie auf Vertrautheit und eigener Erfahrung baut: Aus meiner Sicht sollten das Erfahrungen sein, die körperlich sind. Wenn ich die 600 Höhenmeter zum Göscheneralp-Staudamm erwandern muss oder die Windturbine auf dem Gütsch höre, bevor sie hinter der Kuppe in Erscheinung tritt, kann Vertrautheit durch persönliche Erfahrung entstehen. Können so erneuerbare Energieanlagen zu touristischen Attraktionen werden, wo die Verbindung von Steckdose und Kraftwerk spürbar und erfahrbar wird? So, wie Staudämme in den 50er Jahren zu Sehenswürdigkeiten wurden? Sinnliche Erfahrungen werden nicht den Schlüssel zur Energietransformation darstellen. Indem sie Menschen eine neue und sichtverändernde Perspektive und gemeinsame Erfahrung bieten, können sie aber massgeblich zu neuen und anderen Diskussions- und Vorstellungsweisen beitragen – zu dringend benötigten Anstössen für den gesellschaftlichen Aushandlungsprozess.

Was kann die Politik tun, um Partizipationsprozesse zu fördern?

Politiker:innen müssen sich bewusst werden, dass Teilhabe nicht nur Informationsaustausch im Sinne von «was wird wo geplant» oder demokratische Mitbestimmung durch Abstimmung bedeutet. Vielmehr müssen auch andere und neue Formen der Teilhabe integriert werden, sei es durch die Schaffung von rechtlichen Rahmenbedingungen für finanzielle Partizipation oder durch das Aktivieren eines Engagements von Bürger:innen für Energiethemen. Dafür muss Energie jedoch er-lebbar, er-spürbar und er-fahrbar gemacht werden – und zwar nicht in verstaubten Ausstellungen, sondern in den Landschaften selbst.

Die Energieperspektiven 2050+ wurden Ende 2021 vom Bundesamt für Energie (BFE) veröffentlicht. Sie analysieren in verschiedenen Szenarien die Entwicklung des Energiesystems, welche mit dem langfristigen Klimaziel von Netto-Null Treibhausgasemissionen im Jahr 2050 kompatibel sind und gleichzeitig eine sichere Energieversorgung gewährleisten.


Die mittlere Jahresproduktion des Grande-Dixence-Wasserkraftwerkes entspricht rund 2 Terawattstunden (TWh).


Die Schweizerische Energiestiftung (SES) publizierte im Jahr 2021 eine Studie, welche Erfahrungswerte von Projekten mit direkter Beteiligung von Bürger:innen an erneuerbaren Stromproduktionsanlagen aus europäischen Nachbarländern zusammenträgt. Daraus werden Empfehlungen für die Schweiz abgeleitet.

«Soziale Akzeptanz» wird meist mit standardisierten Umfragen gemessen. In der weiterführenden Literatur finden sich einige Beispiele von Akzeptanz-Studien, unter anderem auch aus der Schweiz.


Der relativ junge Begriff «telecoupling» bezeichnet eine Strategie, die sowohl die sozioökonomischen als auch die ökologischen Auswirkungen der Interaktionen zwischen weit entfernten, gekoppelten menschlichen und natürlichen Systemen umfassend analysiert. Ursprünglich stammt er aus der Geografie bzw. den Umweltnaturwissenschaften.

Baxter, Jamie / Morzaria, Rakhee / Hirsch, Rachel (2013): A Case-Control Study of Support/Opposition to Wind Turbines: Perceptions of Health Risk, Economic Benefits, and Community Conflict. In: Energy Policy 61, 931–943.

Batel, Susana / Devine-Wright, Patrick / Tangeland, Torvald (2013): Social Acceptance of Low Carbon Energy and Associated Infrastructures: A Critical Discussion. In: Energy Policy 58, 1–5.

Dällenbach, Nathalie / Wüstenhagen, Rolf (2022): How Far Do Noise Concerns Travel? Exploring How Familiarity and Justice Shape Noise Expectations and Social Acceptance of Planned Wind Energy Projects. In: Energy Research & Social Science 87, 102300.

Firestone, Jeremy / Kirk, Hannah (2019): A Strong Relative Preference for Wind Turbines in the United States Among Those Who Live Near Them. In: Nature Energy 4, 311–320.

Segreto et al. (2020): Trends in Social Acceptance of Renewable Energy Across Europe—A Literature Review. In: International Journal of Environmental Research and Public Health 17, 9161.

Vuichard et al. (2019): Individual or Collective: Community Investment, Local Taxes, and the Social Acceptance of Wind Energy in Switzerland. In: Energy Research & Social Science 58, 101275.

Wüstenhagen, Rolf / Wolsink, Maarten / Bürer, Mary Jean (2007): Social Acceptance of Renewable Energy Innovation: An Introduction to the Concept. In: Energy Policy 35(5), 2683–269.