Gurtnellen UR (© M. Volken)

Auf unwegsamen Wegen – Geburtshilfe in den Schweizer Alpen von 1880 bis 1950

Hebammen in den Alpen waren mit weiten Distanzen, extremen Wetterbedingungen und unwegsamen Geländen konfrontiert – und übernahmen nicht selten die Verantwortung eines Arztes. Doch Geburtshilfe leisteten auch Verwandte, Nachbarinnen und Ehemänner.

«[...] Wir befanden uns in den ersten Tagen vom Monat März. Draussen aber war es anstatt Frühling nicht nur winterlich, sondern stürmisch. Der Mann da vor dem Haus bat mich um einen langen Weg. Seine Frau würde wahrscheinlich diese Nacht noch gebären. [...] Den Koffer übergab ich dem Manne. Dann zogen wir los. Alles zu Fuss. Gleich hinter dem Haus über den schmalen Sittersteg. Dann Richtung Wald, Hügel, Alpen. Es schneite unaufhörlich. Nicht leicht und flockig. Nein, – nass und schwer. Lästig.»

So beschrieb die Appenzellerin Ottilia Grubenmann in den 1940er-Jahren den Weg zum Haus einer Gebärenden. Dass eine solche Anreise nicht nur «lästig», sondern auch gefährlich sein konnte, berichtete die Urnerin Anna Herger den Behörden im Jahr 1917: «Bürglen bietet für mich sehr grosse Schwierigkeiten, oft bei einer Entfernung von 4 Stunden, und zudem noch bei Schnee und Sturm, wie es am 1. und 2. April 1917 der Fall war. Da musste ich in einen hohen Berg hinauf, dadurch habe ich mir eine Lähmung in beiden Beinen zugezogen».

 

Herger erhoffte sich von den Behörden für solche Strapazen eine Lohnerhöhung. Hebammen wie sie waren zwar meist nur für ein oder zwei Gemeinden zuständig, doch die abgelegene und verstreute Lage der einzelnen Höfe zwang sie dazu, oft stundenlang durch Wind und Wetter zu gehen.

Geburtshilfe von Frauen

Lange Anreisen bedeuteten, dass Hebammen nicht sehr schnell reagieren konnten. Wenn die Geburtshelferin zu knapp gerufen wurde oder die Geburt sehr schnell voranging, konnte es leicht geschehen, dass eine Hebamme zu spät am Geschehen ankam. In solchen Fällen mussten sich die Anwohner:innen abgelegener Höfe selber organisieren. Als die Hebamme Grubenmann es nicht rechtzeitig zu einer sehr weit entfernt wohnenden Gebärenden schaffte, leistete die Schwiegermutter stattdessen Geburtshilfe. Sie traute sich dies zu, da sie bei ihren eigenen Geburten wertvolle Erfahrungen gesammelt hatte und wahrscheinlich schon bei anderen Geburten anwesend war oder sogar assistiert hatte.

Dass ganze Frauengruppen bestehend aus Nachbarinnen und weiblichen Verwandten bei den Geburten anwesend waren, kam nicht mehr so oft wie im 18. Jahrhundert vor, aber die Quellen machen deutlich, dass diese sich immer noch hie und da für eine Geburt besammelten. Dies zeigt ein Bericht vom Urner Landarzt Carl Gisler aus dem Jahr 1890: Ihm schlug «eine heisse Luft entgegen, und der unangenehme Duft von feuchten Kleidern machte sich stark bemerkbar. Denn Stube und Stüblein waren angefüllt mit Nachbarinnen». Sie führten den Haushalt der Gebärenden und leisteten mentale und physische Unterstützung während der Geburt. Ausserdem bestimmten sie zusammen mit der Geburtshelferin oder dem Arzt über das beste Vorgehen während der Geburt und übernahmen die Leitung dieser, falls die Hebamme das Haus der Gebärenden nicht mehr rechtzeitig erreichte.

… und von Ehemännern

Es waren nicht nur Frauen, die bei der Geburt aushalfen. Mit der steigenden Wichtigkeit der Kernfamilie im 19. und 20. Jahrhundert geschah es auch häufiger, dass der Ehemann anpackte. Die Walliser Hebamme Adeline Favre, welche in den 1930er-Jahren zu praktizieren begann, zeigte den Ehemännern beispielsweise, wie sie ihre Frau im Wochenbett zu pflegen und reinigen hatten. So musste sie nicht mehrmals täglich weite Strecken für die Wochenbettbesuche auf sich nehmen. Grubenmann berichtete von einem Fall, bei dem der Ehemann seine Frau gleich selbst entband: Die Appenzellerin sei vom Blasensprung überrascht worden. Schnell habe sie sich auf den Küchenboden gelegt und ihrer kleinen Tochter befohlen, den Vater zu holen. Als dieser in die Küche getreten sei, habe sich ihm folgendes Bild geboten: «Die Hosen waren heruntergeschoben und der Kopf seines ankommenden Kindes bereits geboren. Bekanntlich greifen sehr viele Bauern beim Kalbern in ihren Ställen allzu schnell zum Strick, um damit an den Beinen der werdenden Rinder unvernünftig zu ziehen, auch wenn es dazu noch viel zu früh ist. Hier aber kam der Bauer gerade rechtzeitig, um einzugreifen, denn um den Hals des Kindes war straff und hemmend die Nabelschnur geschlungen.»

 

Der Mann war laut Grubenmann Bauer und half seinen Kühen beim Kalbern. So fühlte er sich in der Lage, seiner Frau zu helfen. Grubenmann gab zu bedenken, dass Bauern zwar gewisse Kenntnisse eines Geburtsablaufs hatten, ihnen jedoch das Gespür einer erfahrenen Hebamme fehlte.

Die Verantwortung der Hebammen

Schwiegermütter, weibliche Verwandte und Ehemänner konnten zwar eine einfache Geburt übernehmen, doch bei Komplikationen wurde es ohne Hebamme oder Arzt gefährlich. Eigentlich wären auch Hebammen bei vielen Arten von Komplikationen beziehungsweise beim Grad derselben gemäss kantonaler Hebammeninstruktionen verpflichtet gewesen, sofort einen Arzt beizuziehen. Oft kamen Ärzte aufgrund der weiten Anreise jedoch zu spät oder gar nicht. Ausserdem waren Geburten zeitintensiv und nicht besonders rentabel, was sie für viele Ärzte unattraktiv machte. Dies lässt sich auch an Grubenmanns Bericht ersehen: Der Arzt, den sie aufgrund einer Steissgeburt per Telefon aufbot, wollte die weite Reise zur Gebärenden nicht antreten und stellte entgegen der Instruktion seine eigene Anwesenheit in Frage mit den Worten: «So so – ein Steiss, – ja, damit werden Sie allein bestimmt auch fertig. Gute Nacht.» Eigentlich lernten Hebammen nicht mehr, mit irregulären Geburtsabläufen umzugehen, so dass sie ihren Kompetenzbereich nicht übertreten würden. Aufgrund der Entfernungen und der geringen Ärztedichte alpiner Regionen erhielten Hebammen aus solchen Gegenden in Zürich Privatlektionen, um im Notfall auch für schwierige Eingriffe gerüstet zu sein.

Die Alpen gestalteten die Arbeit für Hebammen viel anspruchsvoller als für ihre Kolleginnen im Flachland: Bereits die Anreise zur Geburt und die Wochenbettbesuche waren äusserst zeitaufwendig und kräftezehrend. Hebammen waren hier oft auf sich alleine gestellt und konnten nicht auf die Hilfe eines Arztes zählen, wodurch gleichzeitig ihr Kompetenzbereich ausgeweitet wurde. Gerade im Falle einer Komplikation schwebten Gebärende in alpinen Regionen jedoch in grösserer Gefahr, nicht rechtzeitig von einer ausgebildeten Geburtshelferin oder einem Arzt gerettet zu werden. Die erschwerten Bedingungen in den Alpen erforderten Kreativität, Mut zum Selberanpacken und ein gewisses geburtshilfliches Wissen von den alpinen Gemeinschaften, um eine Geburt auch ohne Geburtshelferin oder Arzt durchführen zu können.

Bohner, Brigit Yvonne (1989): Zur Ausbildung und Tätigkeit der Zürcher Hebammen im 19. Jahrhundert. Zürich.

Favre, Adeline (2009): Ich, Adeline, Hebamme aus dem Val d'Anniviers: Erinnerungen. Zürich.

Gisler, Carl (1993): Heiteres und Ernstes aus dem alten Kanton Uri. Altdorf.

Grehan, Madonna (2013): Safely delivered? Insight into late nineteenth-century Australian maternity care from coronial investigations into maternal deaths. In: Western maternity and medicine, 1880-1990, 13-30.

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Grubenmann, Ottilia (1993): 200 Praxisfälle (1). Weissbad.

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