Schatzalp, Davos GR (© M. Volken)

Corona, Klischees und Kulturkampf um die Alpen

Schönes, gesundes Leben in den Alpen? Massentouristische Orte stehen diesem Bild diametral entgegen – insbesondere seit Covid-19, als sie zu Superspreader mutierten. Die Kommerzialisierung der Alpen wird in der Literatur seit dem frühen 20. Jahrhundert kritisiert. Ein alter Streit erfährt Aufwind.

«Hey DJ, leg des Liadl auf!
A jeda hot es eh, husti-husti-heh!
41 Grad, Schatzi, mir wird worm,
Und jetzt steck ma olle an.

Mia hom wieder Ischgl-Fieber,
Uns ist alles scheißegal,
Immer wieder Ischgl-Fieber,
Schwarze Piste ins Spital»,

sang Jan Böhmermann unter dem Namen «Tommy Tellerlift und die Fangzauner Schneebrunzer» in seiner erfolgreichen Show «ZDF Magazine Royale» als Anklage gegen die Umgangsweise mit der Pandemie im Tourismusort Ischgl. Die mittlerweile allein auf Youtube über 3 Millionen Mal aufgerufene Parodie auf die Musik des «Volks-Rock’n’Rollers» Andreas Gabalier illustriert ein ungewohntes Alpenbild – eines, das mit Krankheit und Infektion assoziiert wird. Im Video werden Ischgl und die Berge von Anfang an in den Mittelpunkt gestellt: als Zentrum, in dem sich bei ausgelassenen Après-Ski-Feiern immerhin laut Recherche von «Spiegel» mehr als 11000 Tourist:innen aus ganz Europa früh mit Corona infiziert haben. Bald darauf wurde bei einer Untersuchung der Medizinischen Universität Innsbruck bei der Ischgler Bevölkerung mit über 42 % die damals höchste Antikörperquote weltweit festgestellt.


Die Infektionslage im Februar und März 2020 wurde insbesondere durch das lokale und nationale Krisenmanagement verschlimmert, denn selbst nach Warnungen aus Island war man tagelang nicht zu Konsequenzen bereit. Zu spät wurden dann Bars und Lifte geschlossen. An eine geordnete Heimfahrt der Tourist:innen war nicht mehr zu denken; diese strömten panikartig in alle Richtungen. Legendär wurde ein Interview in der österreichischen Hauptnachrichtensendung, in welchem der Tiroler Landesgesundheitsrat Bernhard Tilg das katastrophale Krisenmanagement wenig wortgewandt, ja mantraartig – nämlich zwölfmal mit der Bezeichnung «richtig» – verteidigt hatte.

Die Beschreibung der Alpen als Infektionsort

Als auch noch das in Operetten besungene St. Wolfgang im Salzkammergut als weiterer Krankheitscluster im Juli 2020 folgte, schien die Idee der Berge als gesundheitsfördernde Landschaft in Österreich endgültig angekratzt. In Zeiten des Alpenraums als Schauplatz des Massentourismus wurde dieser eben zum Virenumschlagplatz von europaweiter Bedeutung, was sofort auch literarisch Niederschlag gefunden hat. Nicht nur die Populärkultur à la Jan Böhmermann kritisierte die Handhabung der Pandemie durch die Tiroler Politik und Tourismuswirtschaft, auch in der renommierten Literatur gab es Reaktionen. Marlene Streeruwitz erhob diesbezüglich in ihrem Covid-19-Roman «So ist die Welt geworden» (2020) starke Vorwürfe. Die Literaturnobelpreisträgerin von 2004 Elfriede Jelinek verstand es einmal mehr, mit ihrem im Hamburger Schauspielhaus uraufgeführten Theaterstück «Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!» (2021) wütende Anklage zu erheben. Ischgl wird durch die Linse des Fotografen Lois Hechenblaikners mit verstörenden Fotos vom dortigen Après-Ski vernichtend betrachtet. Daneben stellt das Drama in den Schlachthöfen ideale Bedingungen für das Virus dar. Verbunden werden diese Orte über den zehnten Gesang der Odyssee Homers, in dem die Hexe Kirke die Gefährten Odysseus‘ – in feministischer Lesart als Strafe für ihre Gier und Fleischeslust – in Schweine verwandelt. Bei Jelinek wird das den Männern der Ischgler Bar «Kitzloch» wie den von Hechenblaikner abgelichteten «Muschifreunden Karlsruhe» zuteil.

Bedeutungswandel der Alpen oder traditionelle Kritik?

Diese Kritik baut auf eine bereits längere Tradition in Österreich, in der kritische Intellektuelle in ihren Arbeiten mit Wut auf die Alpen, deren Bevölkerung und Kommerzialisierung blicken. Im Mainstream werden seit Albrecht von Haller die Alpen als erhabener und schöner Lebensort moralisch integrer, fleißiger, freier und freiheitsliebender, glücklicher – sowie gesunder – Menschen gezeichnet.


Früh wurde explizit auch die Gesundheit als Thema hervorgehoben: So findet sich der Spruch «Eßt Enzian und Pimpernell, dann sterbt ihr nicht so schnell» als bekannter Ratschlag in lokalen Sagen. Berge und Alpen fungierten in der Literatur als Refugium in gefährlichen oder gar apokalyptischen Situationen. Die abgelegenen, unzugänglichen, manchmal sogar weltentrückt dargestellten Berge wurden dabei vor allem im Gegensatz zu den «ungesunden Städten» beschrieben, aber auch im Kontrast zu den leicht zugänglichen, ebenen Landschaften oder zu Verkehrsknotenpunkten wie Hafenstädte gezeichnet. Schon vom 18. Jahrhundert an wurde diese Opposition zu den Städten aufgebaut, wo Neid, Eitelkeit, Sorgen und sinnloser Überfluss herrschen sollen. Die spätere männliche Heroisierung der Alpinisten, welche insbesondere während der Weltkriege ihre traurige Hochkonjunktur hatte – mit ihrer Jugendkultur, ihrem Opferwillen und ihrer Kameradschaft, Führer- und Bündnistreue –, stand weiter in nahem Bezug zur Gesundheit.

Gegenperspektiven in der Literatur

Während literarische Trivialisierungen diese Motivstränge weiterführten, entstand insbesondere in Österreich eine Gegenperspektive, die dann im frühen 20. Jahrhundert mit wütenden Anklagen gegen den Tourismus und die Kulisse Berg die Oberhand in der seriösen Literatur gewann. Als Beispiele genannt seien nur «Das weite Land» (1911) des bekannten Vertreters der Wiener Moderne und begeisterten Bergwanderers Arthur Schnitzler sowie verschiedene Werke des ebenso enthusiastischen Tourengehers Ödön von Horvath, in dessen Roman «Der ewige Spießer» (1931) eine Bergtour gar zum Abort genutzt und die Alpen zur Totenlandschaft werden – das betroffene Mädchen nimmt Folgendes wahr: «Der Nebel schaut aus, als würden da drinnen die ungeborenen Seelen herumfliegen.» Ebenso in «Die Bergbahn» (1929) zeigt Horvath die Alpen als Ort des brutalen Klassenkampfes und der tödlichen Ausbeutung; von Gesundheit weit und breit keine Spur.


Nach der Nazizeit, in der diese skeptische Sicht auf Boden und Berge verboten waren, kam die Kritik umso lauter zurück. Ja, in den Alpen blieb in der österreichischen Literatur der Nationalsozialismus eingeschrieben, um mit Martin Pollack zu sprechen: eine kontaminierte Landschaft, ein Ort der Verdrängung und Täterschaft, wie beispielsweise bei Hans Lebert, Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek, die in ihren «Kinder der Toten»(1995) den Alpenboden als «Teppich aus Humanmus» und «Körperwiese» wahrnimmt. Die ökokritische Literatur ging diese Richtung oftmals weiter.


Vom gesunden Rückzug vor den Massen ist keine Rede mehr. 2020 zeigte die Alpen als Ort des Massentourismus und damit als effizienten Superspreader. Medial wurde sogar immer wieder vor einem «Zweiten Ischgl» gewarnt; die Bedeutung des Corona-Clusters wurde also im Wort verfestigt. Der alte Streit zwischen Nutznießern des Bergtourismus, vertreten insbesondere durch die Seilbahnbetreiber, und Intellektuellen wurde wieder sichtbar. Sicher spielte dabei die erwähnte literarische Tradition eine wichtige Rolle, doch auch politische Entscheidungen wie unter anderem, dass im gleichen Jahr, als in Wien im Lockdown die städtischen Parkanlagen als Maßnahme gegen die Pandemie geschlossen wurden, die Skipisten hingegen öffnen durften.

Die Stärke des Bilds der gesunden Berge

Insgesamt scheint die künstlerische Kritik gegen die mythisierte Schönheit und Gesundheit der Alpen aber nur wenig anzukommen. Ein schönes Beispiel hierfür ist die «Piefke Saga» (1990/1993) von Felix Mitterer, der übrigens im Mai 2020 bekanntgab, nach den Corona-Vorfällen einen fünften Teil seines in Österreich legendären, satirischen Fernsehmehrteiler zu verfassen. Diese ist noch nicht fertiggestellt, stattdessen will der Autor nun 2022 sein Heimatland Tirol verlassen, in das er gerade im vorigen Jahr zurückgekehrt ist. Er weigert sich, die verpflichtende Tourismusabgabe zu bezahlen. Die Medien stehen auf seiner Seite – weniger weil sie vertreten, dass selbständige Künstler:innen diese im Grunde marginale Steuer nicht zahlen sollten, sondern weil Mitterers Fernsehfilme weiteres Interesse an Tirol weckte und Besucher:innen brachten, obwohl diese dieUntiefen der dortigen Tourismusindustrie schonungslos ausgelotet haben. Eigentlich kritische Werke werden tatsächlich letzten Endes medial und gesellschaftlich zur Tourismuswerbung umfunktioniert. Zu Recht meint Felix Mitterer: «Ich habe in meinem Gesamtwerk wohl genug Werbung für Tirol gemacht.»


Vor der Après Ski-Bar «Kitzloch», die mittlerweile aufgrund der Medienberichte zu Corona sicher zur bekanntesten Fassade in Ischgl, vielleicht in Tirol, geworden ist, machen heute zahleiche Besucher:innen Selfies, wohl zumeist, um in den sozialen Medien stolz vom Ausflug zu berichten und damit weitere Gäste anzulocken. Angst vor einer Ansteckung haben sie dabei offensichtlich nicht. Das Bild der Alpen als gesunder Ort der Fitness und des Wohlfühlens scheint mächtiger als alle kritischen Perspektiven zu sein. Es ist gut vorstellbar, dass auch in diesen Clubs zu Jan Böhmermanns Lied vom Ischgl-Fieber in ironischer Erinnerung getanzt wird.

Das Interview mit dem Tiroler Landesgesundheitsrat Dr. Bernhard Tilg vom 16. März 2020 wurde in verschiedenen Videos auf Youtube mehrere tausend Mal abgerufen. Der wichtigste Moderator der bedeutendsten österreichischen Nachrichtensendung «Zeit im Bild 2», Armin Wolf, erwähnt viele detaillierte Fakten zum Verlauf der ersten bestätigten Infektionen und zu den Reaktionen des offiziellen Tirols. Ein Video «Best of» findest sich zum Beispiel hier.


Das deutsche Nachrichtenmagazin «Spiegel» widmete im Juni 2020 dem misslungenen Krisenmanagement im Tiroler Skiort Ischgl und dem Politversagen in Österreich eine eigene Coverstory – mit entsprechendem Après-Ski-Bild als Cover. Das Magazin eröffnet dazu mit dem vielsagenden Titel «Die Toten, die Täter, die Ermittlungen: Die Akte Ischgl», einer der meistgelesenen Artikel des Jahres.

Das «ZDF Magazine Royale» von und mit Jan Böhmermann, das Satire und detaillierte journalistische Recherche verbindet, beschäftigte sich am 12. März 2021 mit dem Thema Corona-Brennpunkt Ischgl, wobei auch das eingangs genannte Lied als Video präsentierte wurde.


Verschiedene Anklagen wurden aufgrund fehlender Beweise für schuldhafte Handlungen von Tiroler Gerichten abgewiesen. Immerhin hob im Juli 2022 das Wiener Oberlandesgericht bereits ein Urteil zur abgewiesenen Schadensersatzforderung auf.

Geist, Kathrin (2018): Berg-Sehn-Sucht: Der Alpenraum in der deutschsprachigen Literatur. Boston

Lughofer, Johann Georg (Hg. 2014): Das Erschreiben der Berge. Die Alpen in der deutschsprachigen Literatur. Innsbruck.

Mayer, Marius / Bichler, Bernhard Fabian / Pikkenaat, Birgit / Peters, Mike (2021): Media Discourses about a Superspreader Destination: How Mismanagement of Covid-19 Triggers Debates about Sustainability and Geopolitics. In: Annals of Tourism Research 91, 1-15.

Reinfeldt, Sebastian (2020): Alles richtig gemacht? Ischgl und die Folgen. Norderstedt.