Berghütten: Irrlichter der Einfachheit – von der Vererbung einer Hüttenkultur
Die Berghütten werden zunehmend Sehnsuchtsorte des Massentourismus’, was das Hüttenpersonal und die Kultur der Berghütten vor Herausforderungen stellt. Und diese haben nur begrenzt mit Hafermilch und Sojajoghurt zu tun.
Der Aufstieg zur Schreckhornhütte ist erfahrenen und schwindelfreien Wander:innen vorbehalten und bildet eine Sackgasse: Weiter nach oben geht es nur mit Pickel, Steigeisen und Seil. Verblüfft war ich damals als Hüttenhilfe umso mehr, als mich eines Mittags ein junges sportliches Paar in weissen Adidas-Sneakern und Jutebeuteln als Rucksäcke freundlich fragte, wie es denn von der Hütte aus am schnellsten aufs Schreckhorn ginge und, ob sie es von da aus noch zurück auf den 17-Uhr-Zug ab Grindelwald schaffen würden. Die Schreckhornhütte liegt der touristischen Jungfrauregion nahe – ihre Ausrichtung ist klar alpinistisch, die Tour auf das Schreckhorn gilt als eine der anspruchsvollsten und längsten Touren der Berner Alpen.
Zwischen dem Paar und mir entstand ein angeregtes Gespräch über Alpinismus. Die beiden zeigten sich sichtlich interessiert und stellten rege Fragen. Während des Gesprächs konnte ich mich davon überzeugen, dass die beiden fit genug für einen problemlosen Abstieg waren, weshalb ich sie mit einem guten Gefühl gehen lassen konnte. Zudem versicherten sie mir, dass sie sich in Zukunft bewusster auf Wanderungen begeben. Anekdoten wie diese wurden in der Sommersaison 2023 häufiger, nicht immer war jedoch das Ergebnis positiv. Immer wieder brachten mich solche Erlebnisse ins Stutzen und regten zu einer näheren Auseinandersetzung mit aktuellen Herausforderungen an, mit welchen Berghütten heute konfrontiert sind.
Hüttenkultur – eine Frage der Vererbung
Das Jahr 2023 wurde zur übernachtungsstärksten Sommersaison in der Geschichte des SAC. Bergsportkurse wurden überrannt und die Hütten waren an den Wochenenden bereits Monate im Voraus ausgebucht. Mit diesem Anstieg diversifiziert sich die Klientel – die Berghütten sind schon lange keine alpinistischen Heterotopien mehr, womit sich Ansprüche und auch Personal veränderten. Medien der gesamten Bandbreite, vom einschlägigen Bergmagazin bis hin zum grossen Leitmedium, berichten über diese Entwicklungen. In der NZZ konnte man im vergangenen Sommer lesen, der gesteigerte Anspruch liege darin, dass Jeder und Jede nur noch an sich selbst denke.
Die Berghütten und der Alpinismus beschäftigen die Menschen, schliesslich sind Berghütten seit jeher integraler Bestandteil des kulturellen Erbes. Dass dieses Erbe an jüngere, demografisch unterschiedliche Schichten vererbt wird, ist selbstverständlich und erklärt teilweise die Zunahme der Mitglieder- und Übernachtungszahlen. Mit der jüngeren Generation ist die «Neue Mittelschicht» (Andreas Reckwitz), wie sie in der zeitgenössischen Soziologie genannt wird, gemeint. Zu ihren Zielmarken gehören «… der besondere Mensch als Individuum, (…) der besondere Ort, das besondere Ereignis». Man möchte sich von der Masse abheben, wobei als Massstab für dieses Abheben ironischerweise immer die Masse selbst fungiert. Das Potential der Berghütten ist der ‘Neuen Mittelschicht’ aufgefallen und wird rege genutzt. Die Schwierigkeit liegt nun aus meiner Sicht in der Vererbung der Hüttenkultur: Die Vermittlung der kulturellen und allgemeinen Verantwortung kommt dabei zu kurz.
Die Berghütte als Sehnsuchtsort des neuen Individualismus’
Die Gründe, weshalb Berghütten zu Sehnsuchtsorten wurden, sind vielfältig. Es ist die bereits erwähnte kulturelle Omnipräsenz der Berghütten, die durch den historisch lange aufgebauten kulturellen Unterbau ihr Dasein selbstverständlich macht (umso grösser war der Aufschrei, als im Sommer 2022 einigen Hütten die Schliessung wegen Wassermangels drohte). Es ist aber auch die multimediale Inszenierung: Viele Tourismusverbände grosser Schweizer Tourismusgebiete inszenieren die Berghütten als ursprüngliche und urige Naherholungsstätten, von denen das massentouristische Gewusel noch weit entfernt sei. In meiner Zeit auf der Schreckhornhütte traf ich einige Influencer:innen und Fotograf:innen an, die vom Tourismusverband Grindelwald auf die Schreckhornhütte geschickt wurden, um über die Umgebung und die Hütte zu berichten. Die Berghütten treffen offenbar einen gesellschaftlichen Nerv: Sie präsentieren und atmen offensiv eine raue und abenteuerliche Vergangenheit. Sie haben noch immer den Geschmack von Entdecker- und Abenteurergeist und wirken als einladender Kontrast zur abweisenden alpinen Umgebung. Diesem alpinen Spirit wird auch die Modeströmung Gorpcore gerecht, bei der teure Outdoorkleidung in städtischem Umfeld getragen wird. Die Sichtbarkeit und die Position des Alpinismus verändern sich auf verschiedenen Ebenen.
Die überformte Selbstverständlichkeit
Das alles ist nicht per se problematisch. Es sind schlicht gesellschaftliche Entwicklungen, die auch in den Bergen ankommen und an die sich auch Hütten anpassen sollen. Daher sei auch dem Ton der erwähnten Artikel widersprochen, die sich über eine angeblich Einzug haltende Dekadenz echauffieren. Das Problem sind nicht Vegetarismus und Veganismus, auch nicht Unverträglichkeiten oder verwirrte Blicke, wenn nachgefragt wird, ob die Gäste einen Hüttenschlafsack dabei hätten. Das Problem liegt vielmehr in einer sich etablierenden Selbstverständlichkeit, dass auf den Hütten diverse Ansprüche problemlos in die logistischen Möglichkeiten passen. Die kulturell wertvolle Selbstverständlichkeit des Daseins der Hütten wucherte aus in eine Selbstverständlichkeit des Anspruchs, die Individuen an Hütten stellen. Man wird als Hüttenmitarbeiter:in immer wieder unfreundlich angegangen, wenn man erklärt, dass das Internet aufgrund der geringen Bandbreite nur dem Personal und den Bergführer:innen zur Verfügung stehe oder, dass man leider keine frische Frottierwäsche zur Verfügung stellen kann und auch die Dusche mit Gletscherwasser nicht beheizt ist.
Viele Menschen vergessen beim Anblick der schönen Berghütten ihre innere Logik. Und die damit einhergehende Verantwortung, die man ebenso als Gast trägt. Die Einfachheit der Hütten wird gerne als Mittel zur (Selbst-)Darstellung genutzt – und nicht mehr gelebt. Im Inneren werden sie mit modernen Hotelanlagen im Tal gleichgesetzt, schliesslich reicht einer Selbstinszenierung die Hülle einer Kultur. Der eigentliche Grund der vorherrschenden Einfachheit wird kaum konsequent hinterfragt oder im Tal bei der Organisation eines Ausfluges miteinberechnet. Indes ist es nicht der Verlust einer Kultur, sondern die Etablierung einer Nicht-Kultur, die die frühere Kultur überformt. Oder, wie es der bereits zitierte Andreas Reckwitz in der SRF Sternstunde Philosophie formuliert: «Wir laden Dinge mit Bedeutungen auf, die über ihren eigentlichen Nutzen hinausgehen.» Die Berghütten dienen als Schutzort, das ist ihre eigentliche Funktion.
Das Irrlicht der Einfachheit
Das kulturelle Unverständnis gewisser Hüttenbesucher:innen ist an sich (noch) nicht gefährlich, doch schlicht mühsam für die Arbeit auf der Hütte. Aber leider setzen sich viele Besuchende auch nicht mit den Gefahren der Hüttenumgebung auseinander. Ein Phänomen, das in der Wintersaison auch in der NZZ im Zusammenhang mit dem Skitourenunfall an der Tête-Blanche im März 2024 angesprochen wurde: «Insbesondere die sozialen Netzwerke verleiten zu Übermut. Fotos von unbefahrenen weissen Hängen und Berichte über alpine Heldentaten verleiten dazu, das selbst erleben zu wollen.» Angespornt durch Fotos von Hüttenausblicken, begeben sich viele Tourist:innen auf alpine Wanderungen – ohne zu wissen, dass sie schwindelfrei sein müssen und, ohne die nötigen Grundkenntnisse über Wetter, Umgebung und Ausrüstung und nicht zuletzt einer strategischen Einteilung der eigenen Energie.
Unerfahrene Hüttenbesucher:innen gehen davon aus, dass der Zugang zu Berghütten infrastrukturell geebnet ist; viele grosse Tourismusgebiete bieten direkt an die touristische Infrastruktur angebundene Unterkünfte, Restaurants und Bars, die urtümlich inszeniert sind. Bei alpin gelegenen Hütten wird die natürliche Einfachheit dann zum Irrlicht. Ein glimpfliches, aber dennoch ärgerliches Resultat ist, wenn kurz vor dem Abendessen der Anruf eintrifft, dass die erwarteten Gäste umkehren mussten. Weniger glimpflich ist es, wenn Menschen in den Steilstufen stecken bleiben oder im Gästeraum Schwächeanfälle erleiden. Rund ein Drittel der Einsätze 2023 der Alpinen Rettung Schweiz mussten zugunsten von Wander:innen geleistet werden. Dabei ist gemäss SAC die Blockierung die zweithäufigste Notfallursache beim Bergwandern, die durch Überforderung oder auch durch das Verirren häufig entsteht. In der Statistik zu den Bergnotfällen 2022 hob der SAC explizit hervor, dass die Anzahl an Bergnotfällen (in allen Kategorien) aufgrund Blockierung im Vergleich zum 10-Jahres-Mittel doppelt so hoch war. Viele versuchen, die Verantwortung für die heiklen Aspekte eines Hüttenbesuchs abzugeben und erkundigen sich telefonisch, ob der Hüttenaufstieg gefährlich sei oder ob denn das Wetter in den kommenden Tagen gut genug werde. Sie sind dann überrascht oder enttäuscht, dass wir nicht über mehr Informationen bezüglich des Wetters verfügen als sie selbst und ihnen stattdessen von «Steilstufen», «Schwindelfreiheit» und «Murgängen» berichten.
#NotForTheGram
Unbedingt ist an der Stelle zu erwähnen, dass es sich bei diesen Beispielen nicht um die Mehrheit der Besuchenden handelt. Die meisten Besuchenden kennen und verstehen die notwendigen Vorgänge auf einer Hütte oder sind sensibel genug, sie ad hoc festzustellen. Ich habe mich immer gefreut, wenn Personen zum ersten Mal auf einer Hütte waren und ich vielleicht beim Ursprung einer neuen Leidenschaft habe mitwirken dürfen. Solange ich mich davon überzeugen konnte, dass der Aufstieg sicher gemeistert wurde und der Abstieg ebenfalls problemlos verlaufen wird.
Wir müssen die materiellen Bedingungen für die Einfachheit
der Berghütten und ihre sich daraus ergebenden Konsequenzen systematisch aufzeigen. Der Wunsch nach Romantik ist hier fehl am Platz. Die neue Aufgabe besteht schliesslich darin, über das Leben und die Spielregeln auf den Hütten und um die Hütten herum aufzuklären. Der SAC bietet bereits Kurse wie «Gebirgsmeteorologie» oder «Alpine Umwelt» an, die sicherheitsrelevante Aspekte abdecken. Warum nicht einen neuen Kurs in «Hütten-Know-How» anbieten, der vor Ort über die Kultur und die Arbeit auf den Hütten vermittelt? Quasi ein Kontrastprogramm zu #DoItForTheGram lancieren, mit dem neuen Hashtag #NotForTheGram? Der SAC lancierte 2021 den #nogeotag, womit sie Tourist:innen auffordern, ihre Posts des Ausflugs eben nicht mit Geotags auszustatten. Als Pendant dazu könnte sich #NotForTheGram vollumfänglich dem Hüttenleben widmen. Mit einer Hüttenkultur, die weiterhin gegenseitiges Verständnis und Geduld pflegt – und in ihrer Einfachheit geschätzt wird.