Studen SZ (© M. Volken)
Schweizer Alpenraum: Innovationsstandort für eine korporative, naturbasierte Wirtschaft
Die Biodiversitätskrise wird auch in der Schweiz immer deutlicher. Das Modell einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung ist offensichtlich gescheitert – eine «naturbasierte Wirtschaft» bietet nun neue Perspektiven. Die Schweiz ist dafür ideal positioniert, wenn sie es schafft, ihre ländlichen und urbanen Wurzeln zusammen zu bringen.
Der Naturschutz hat in der Schweiz lange die Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen Realitäten gescheut, indem er sich auf die Rettung von bedrohten Biotopen und Arten in von anderen Landnutzungen isolierten Schutzgebieten oder in musealen Kulturlandschaften fokussiert hat. Das beginnt sich zu ändern. Inzwischen ist zunehmend das Ziel, Biodiversitätsförderung in unterschiedlichste Wirtschaftssektoren zu integrieren. Wie früher in den traditionellen Kulturlandschaften soll Artenvielfalt wieder ein selbstverständliches Nebenprodukt der ökonomischen Wertschöpfung werden. Viele Arten kommen in der Schweiz nur dank der traditionellen extensiven Landwirtschaft vor. Es entstanden halboffene Landschaften mit hoher Habitatvielfalt, wo sonst der Wald dominieren würde. Kiebitze profitierten von der Nutzung der Flachmoore als Riedwiesen, Feldlerchen vom Ackerbau, und die Gartenrotschwänze von Hochstammobstgärten. Zunehmend reicht es aber nicht mehr, solch hochwertige Kulturlandschaften als statische Erinnerung an vergangene Landnutzung zu erhalten. Es braucht ökonomische und praktische Innovationen, um eine naturbasierte Wirtschaft für unsere Zeit weiterzuentwickeln und neu zu erfinden.
Naturbasierte Lösungen als Zukunftstrend
In der Forschung werden die Nutzen der Natur als «Ökosystemleistungen» bezeichnet. Diese sind inzwischen sehr gut dokumentiert. Zum Beispiel können überhitzte Siedlungsräume durch Regenwasser, welches in gesunden Böden gespeichert und dann von Bäumen verdunstet wird, gekühlt werden. Man spricht von der sogenannten Schwammstadt. Auch in der Landwirtschaft sollen neue Agrarökosysteme, wie zum Beispiel Agroforst oder Mischkulturen, bei der Klimaanpassung helfen. Die Natur fördert die Gesundheit, die kognitive und mentale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und erhöht die Lebenserwartung. Werden solche Ökosystemleistungen gezielt genutzt, dann spricht man von naturbasierten Lösungen. Diese sind die Grundlage einer naturbasierten Wirtschaft, welche nicht neu ist. Der Tourismus verkauft attraktive Schweizer Landschaften seit mehr als einem Jahrhundert. Die traditionelle Landwirtschaft profitierte von Nützlingen wie zum Beispiel von Vögeln und Insekten für die Schädlingsbekämpfung und Bestäubung, von den Mikroorganismen für fruchtbare Böden, und von Hecken als Windschutz. Neu ist, dass diese Leistungen der Natur aus unseren Landschaften verschwinden, und daher der Wirtschaft nicht mehr selbstverständlich und oft gratis zur Verfügung stehen.
International entwickeln sich naturbasierte Innovationen und darauf aufbauend eine naturbasierte Wirtschaft zu einem wichtigen Zukunftstrend. Es werden biologische Materialien als Ersatz für Plastik entwickelt, die ambitionierte Naturküche gewinnt Gault-Millau-Auszeichnungen und in ersten Ländern wird Erholung im Wald statt Medikamente ärztlich verschrieben, als sogenannte «nature prescription». Auch die Schweiz benötigt einen Wandel hin zu einer Siedlungs- und Agrarökologielandschaft, die ihre Attraktivität als Grundlage des Tourismus erhält, uns durch vielfältige Nischenprodukte zum Teil selbstversorgt, aber auch nachwachsende Ressourcen aus Holz und Pilzen für ökologisches Bauen produziert.
«Biodiversitätsfranken» für Berggemeinden?
Die Strategie Biodiversität Schweiz – eine internationale Verpflichtung gegenüber der UNO-Biodiversitätskonvention – liess alle öffentlichen Subventionen auf ihre biodiversitätsschädigende Wirkung hin untersuchen und die Schweizer Kantone eine Planung für eine ökologische Infrastruktur vorlegen. Die technische Infrastruktur wie zum Beispiel Strassen ist grösstenteils gebaut; nun müssen der Erhalt und die Revitalisierung der ökologischen Landschaftsleistungen in den Fokus kommen. Dieser Blickwechsel ist insbesondere für den Alpenraum von zentraler Bedeutung: Viele Tourismusgemeinden erheben eine Kurtaxe, um Infrastrukturen zu finanzieren. Zunehmend versursacht aber der Unterhalt der Natur hohe Kosten: Schutzwälder, Hochwasserschutz dank revitalisierter Gewässer, attraktive Landschaften, Naturschutzgebiete, oder biodiverse Grünanlagen in den Siedlungen bedürfen der Pflege und Aufrechterhaltung. Als Lösung hierfür wird der «Biodiversitätsfranken» diskutiert, mit welchem, analog zur Kurtaxe, pro Übernachtung an Naturleistungen gezahlt wird. Das wäre ein erster innovativer Schritt hin zu einer Weiterentwicklung der öffentlichen Subventionen, die auf diese Weise attraktive und ökologisch funktionierende Alpenlandschaften fördern würden.
Neue finanzielle Anreize wären ein Anfang auf dem Weg zu einer Wirtschaft und Gesellschaft, die ökonomisch nicht mehr von Naturzerstörung abhängig ist. Eine solche Transformation wird aber nicht einfach sein, weil sich durch einen sorgfältigen Umgang mit der Natur nicht gleich viel Gewinn erwirtschaften lässt wie mit deren Übernutzung und Raubbau. Und, die Pflege und ökologische Nutzung von Naturleistungen ist arbeitsintensiv. Eine Neuausrichtung von Subventionen und Abgaben wird deshalb nicht reichen. Es werden neue Wirtschaftsmodelle nötig sein, welche sich an einer Regeneration der Natur und an fairen Arbeitsbedingungen in und mit der Natur orientieren.
Die genossenschaftlich-korporative Tradition als Chance
In den fachlichen Diskussionen werden für eine solche zukunftsfähige Wirtschaft oft genossenschaftliche Wirtschaftsformen als Lösungsansatz hervorgehoben. Das sind Firmen, Projekte und Landnutzungen, bei welchen der Besitz gemeinsam verwaltet und der Nutzen fair aufgeteilt wird. Die Schweiz hat eine lange Tradition von gemeinschaftlichen Organisationsformen – zum Beispiel Allmenden, Ortsbürgergemeinden und Alpkooperationen. Der Historiker Daniel Schläppi hat sogar argumentiert, dass die genossenschaftliche Tradition den Kern der Schweizer Identität ausmache: «Vor lauter Verwerfungen und Gegensätzen fällt es schwer, in der Schweizer Geschichte irgendetwas Gemeinschaftliches zu erkennen.» Mit einer Ausnahme: «Wie ein roter Faden zieht sich die genossenschaftlich-korporative Tradition von den Anfängen bis in die Gegenwart durch die Schweizer Geschichte.»
Viele Innovationen in der Schweizer Geschichte sind im Austausch zwischen Stadt und Land entstanden. In den Tälern der Voralpen und des Juras wurden abends und im Winter durch Heimarbeit Textilien und Uhren angefertigt. Auch erste Fabriken, angetrieben durch Wasserkraft, wurden oft in ländlichen Regionen errichtet. Bis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts innert weniger Jahrzehnte Industriestädte entstanden sind. Diese Industrialisierung wiederum brachte ein dichtes Eisenbahnnetz quer durch die Alpen, welches das Mittelland und die Bergtäler verband und das Wachstum des Tourismus ermöglichte. Der weltoffene Innovationsgeist – zuerst der Handelsorte und dann der Stadt- und Wissenschaftsstandorte – kombiniert mit der kooperativen Tradition und der sorgfältigen Arbeitsethik einer durch die Landnutzung von Berggebieten geformten Kultur hat das Erfolgsmodell Schweiz ermöglicht. Diese Mischung führte zu einer Aufbruchstimmung im 19. Jahrhundert, welche die Schweiz bis heute prägt.
Kann sich die Schweiz neu erfinden?
Aktuell leben wir wieder an einem historischen Wendepunkt von mindestens den Dimensionen der Industrialisierung. Die Frage lautet nun: Wie schafft es die globale Gemeinschaft, einen ökologischen Kollaps abzuwenden? Die Schweiz ist für eine solche ökologische Wende hin zu einer naturbasierten Wirtschaft ideal positioniert. Kann sich die Schweiz einmal mehr neu erfinden, indem sie in einer Wendezeit ihre ländlichen und urbanen Wurzeln zusammenbringt und so eine gesellschaftliche Transformation schafft? Wird die Schweiz zu einem Land, in welchem die Landwirtschaft als Berufsfeld wieder attraktiver wird, aber auch neue Berufe wie Schwammstadtverantwortliche oder Naturerholungspflegende entstehen? Was nach idealistischer Utopie tönt, könnte möglich werden, wenn sich die Spitzenforschung der Schweizer Hochschulen verstärkt auf naturbasierte Lösungen fokussiert und die öffentlichen Subventionen in zukunftsweisende ökologische Branchen investiert werden. Und, wenn sich die Schweizer:innen an ihre genossenschaftlich-korporative Tradition und bescheidene Lebensweise in einer nur zum Teil kontrollierbaren Bergwelt erinnern. Die helvetische Zauberformel des 19. Jahrhunderts wartet auf eine Renaissance: Eine zukunftsorientierte Forschung und mutige Finanzpolitik, kombiniert mit historisch gewachsenen Traditionen verankert in den lokalen Landschaften. So könnte sich im 21. Jahrhundert die Schweizer Erfolgsgeschichte des 19. Jahrhunderts wiederholen.