Bildserie: Am Fründenrennen im Kanton Bern steigt man bis heute zu Fuss den Berg hinauf – wie zu Arnold Lunns Zeiten, als es erst wenige Skilifte gab. Umso ausgelassener sind die Abfahrten danach. (© M. Volken)

Die Inszenierung des Skisports: Eine Spurensuche im Alpenraum

Der Skisport und seine Geschichte prägen die öffentliche Inszenierung des Alpenraums wesentlich. Mürren im Berner Oberland etwa inszeniert sich als «Wiege des alpinen Skisports». Doch um wessen Geschichte(n) handelt es sich? Und: Wie steht es um die Zukunft der Skikultur-Inszenierung?

Auf der Suche nach Spuren der Inszenierung des Skisports und dessen Geschichte im Alpenraum reisen wir nach Mürren im Berner Oberland. Der Ort verspricht neben eindrücklichen Landschaftsbildern, Bergdorfidylle und in die Jahre gekommenen Grand Hotels eine Reise zur «Wiege des alpinen Skisports». Hier, so erfahren wir beim Denkmal gleich hinter der Endstation der Mürrenbahn, wurde im Jahr 1922 das erste Slalomrennen gesetzt, und hier fanden 1931 die ersten alpinen Weltmeisterschaften statt. Gewidmet ist das Denkmal Arnold Lunn, eingeweiht wird es nach seinem Tod 1978. Der britische Alpinist, Reiseunternehmer, Skifahrer und Schriftsteller gilt als einer der Pioniere des alpinen Skirennsports, und nicht selten wird die komplexe Geschichte der Etablierung des Ski(renn)sports in den (Schweizer) Alpen simplifiziert und auf seine Person reduziert, so etwa auch, wenn eine «Story» auf der Webseite der Jungfrau Tourismus AG die «Eindrückliche[n] ‹Skispuren› eines Briten» verfolgt.

Wessen Spuren?

Der schmale Grat zwischen zugänglicher Vermittlung und historischer Adäquanz ist Gegenstand des Forschungsbereichs der Public History und bietet auch für die Skigeschichte und deren Inszenierung wichtige Anknüpfungspunkte. In einer ersten Auslegeordnung zum kollektiven Gedächtnis des Skisports und dessen «lieux de mémoire» hat die Historikerin Annette R. Hofmann verschiedene Gruppen oder Orte identifiziert, die in diesen Erzählungen gerne vergessen gehen, etwa Minderheiten, Frauen oder mittlerweile nicht mehr genutzte Skigebiete oder -regionen. Geprägt würden die Erinnerungen von oft männlichen Pionieren, grossen Rennen oder denkwürdigen Stätten.

Bereits Arnold Lunn und seine Zeitgenoss:innen verstehen es, die frühen Mürrener Kapitel der Skigeschichte insbesondere zu touristischen Zwecken zu inszenieren. Werbeplakate aus den frühen 1930er Jahren für den Wintersportort Mürren nehmen mit roten Slalomflaggen das Element des Skirennens auf oder referieren ganz konkret auf die Weltmeisterschaft (FIS-Rennen) von 1931. Der moderne Wettkampf, so die Botschaft, hebt Mürren von anderen Destinationen ab, denn freilich wird die Idee des alpinen Ski(ab)fahrens auch andernorts und bereits vor Lunns erstem Slalom praktiziert. Skirennen gibt es vor 1922 auch anderswo, und immer wieder wird diskutiert, wer an welchem Ort jetzt eigentlich dieses oder jenes erste Rennen veranstaltete.

Touristisches Ausflaggen

Mürrens Ski-Inszenierung reicht jedoch über wichtige Rennen hinaus: Auch Institutionen mit internationalem Einfluss haben ihren Ursprung im Mürren der 1920er-Jahre, etwa der Kandahar Ski Club, 1924 von Arnold Lunn gegründet, der Schweizerische Akademische Ski Club (gegründet 1924) oder der Schweizerische Damen-Skiclub (SDS, 1929–1983). In einem Werbeinserat für «Berns höchstgelegenen Kurort» in der Jubiläumspublikation des SDS von 1939 lesen wir: «In Mürren traf sich immer und trifft sich noch heute die ‹Avant-Garde› der skisportlichen Entwicklung. Sie begründete hier den modernen Abfahrtssport.» Doch die Touristiker:innen vergessen auch die Anfänger:innen nicht. Wie wir einem Skischulprospekt von 1938 entnehmen, kommen auf «every expert at Mürren […] at least about 10 beginners who come to Mürren because, as a famous French skier expressed it, ‹you learn more ski-ing [sic] at Mürren in a week than elsewhere in a month›». Und auch in der Phase des Ski-Booms, der in der Schweiz bis in die 1990er Jahre anhält und mit der Etablierung des Ski- als Massensport verbunden ist, wird die Inszenierung stets den Gegebenheiten angepasst.


In seinem Buch «Retroland» schreibt der Historiker Valentin Groebner: «Historisches Material ist für die Praktiker aus den Marketing-Abteilungen des Fremdenverkehrs eine willkommene Ressource, um Destinationen auszuflaggen und aufzuwerten.» Dieses «Ausflaggen» zieht sich in Mürren gewissermassen von den ersten Slalomflaggen 1922 bis in die Gegenwart. Trotz des Zusammenschlusses mit Grindelwald und Wengen zur «Jungfrau Region» inszeniert sich Mürren mittlerweile als «kleine, aber feine Destination». Und doch flammt die vergangene ski- und tourismushistorische «Grandezza» immer wieder auf. Im Geschäftsbericht von Mürren Tourismus aus dem Jahr 2022 lesen wir, dass das 100-Jahr-Jubiläum des ersten Slaloms «gebührend gefeiert» wird. Insbesondere das grosse mediale Interesse aus Grossbritannien freut die Tourismusdirektorin. Mehr als zwanzig britische Medien berichten – bei einem Werbewert von rund 900’000 Franken und der unbezahlbaren Erwähnung Mürrens bei Eurosport als «Wiege des alpinen Skisports». Neben dem Werbewert generiert das Etikett des Ursprungs vor allem auch das vielleicht wichtigste Gut der Inszenierung: Authentizität. Im Fall Mürrens oder anderer touristischer Destinationen werden «Natur, Geschichte und Kultur […] zu unverzichtbaren Ressourcen für eine Produktion von Authentizität», wie es der Kulturwissenschaftler Thomas Barfuss in seinem Buch über die Inszenierung der Alpen in Graubünden beschreibt.

Von der Inszenierung einer Skikultur

Was hier inszeniert wird, sind einzelne Elemente einer «Skikultur», die sich im Alpenraum seit dem 19. Jahrhundert entfaltet und weitaus mehr umfasst als Sport- oder Tourismusgeschichte. Das Konzept der Sozialwissenschaftlerin Sabine Dettling und des Kulturwissenschaftlers Bernhard Tschofen ist der «Versuch, all jene Dimensionen zu berücksichtigen, die durch die ‹Faszination Ski› berührt wurden und wiederum selbst das Gesamtphänomen ausmachen.» Die beiden haben diesen Versuch erfolgreich für die Region am Arlberg in Österreich unternommen. Eine Region, die sich als – wir ahnen es – «Wiege des alpinen Skilaufs» versteht. Auch sie stellen fest, «dass die Tourismusgeschichte heute als wichtige Ressource für die Destination und ihre Repräsentation gehandelt wird». Ihr Buch «Spuren» trägt als wissenschaftliche Arbeit somit zur Erforschung und Inszenierung dieser Skikultur bei, gerade auch dann, wenn die Ergebnisse im lokalen Lechmuseum in einer Ausstellung (2018–2019) vermittelt werden.


Gleichermassen inszenieren in Mürren Akteur:innen abseits der Tourismusbranche Skigeschichte und -kultur. Das Mini Museum Mürren, ein «Schaufenstermuseum», vermittelt Lokalgeschichte in kultur- und sozialhistorischer Perspektive und verfügt über eine umfangreiche Sammlung zur Mürrener Skigeschichte. In Ausstellungen wie «Alles fährt Ski» (2011–2012) oder «Die Erfolgsgeschichten des internationalen Schneesports» (2021–2022) werden einerseits gängige Mythen – die Schweiz als Ski-Nation und Mürren als «Wiege des alpinen Skisports» – transportiert, diese gleichzeitig aber auch breiter aufgefächert, beispielsweise durch die Einbeziehung technikhistorisch interessanter Innovationen im Bereich des Skisports.

Inszenierungs-Erweiterungen

Im Besonderen wird auch die Geschichte des in Mürren gegründeten Schweizerischen Damen-Skiclubs in die Erzählung miteinbezogen oder aber der anfängliche Ausschluss der Snowboarder:innen von Bergbahnen und Pisten beleuchtet. Solche Inszenierungs-Erweiterungen tragen damit zu einem diversen kollektiven Gedächtnis bei und nutzen das Potenzial der Sportgeschichte als Public History. Diese ist, so der Historiker Michael Jucker, «ein ideales Vehikel, um historische und gesellschaftsrelevante Fragen öffentlich zu vermitteln.»


In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, wie die Skigeschichte in Zukunft inszeniert wird, befindet sich der Skisport doch aktuell in einer starken Transformationsphase. In der «Skination Schweiz» nimmt die Identifikation mit Skikultur und -sport im 21. Jahrhundert ab. Die steigenden Kosten erhöhen die finanzielle Hürde des Zugangs, die touristische Konkurrenz – etwa das Resort am Badestrand – ist bereits seit einiger Zeit während der Skisaison gut erreichbar. Und schliesslich zieht die Klimaerwärmung dem Sport den Schnee unter den Skiern weg. Insgesamt wird es teurer und je nach Höhenlage irgendwann unmöglich, die Welt des «weissen Goldes» aufrecht zu erhalten. Entkoppelt sich der (alpine) Skisport gar von seiner vermeintlich idealen Topographie? Welche Destinationen inszenieren sich vielleicht einmal als «Wiege des alpinen Hallen-Skisports»? Gerade im Alpenraum dürfte der Inszenierung der Skigeschichte in Zukunft eine umso grössere Rolle zukommen. Der Gedenkstein zu Ehren Arnold Lunns jedenfalls transportiert bereits heute auch bei sommerlicher Wärme das Etikett der «Wiege des alpinen Skisports».

Diggelmann, Alex Walter (1931): Die Renntage der Kanonen, Mürren, Plakat. Zürich. Online.


Lecomte, André (1930): Mürren, Schweiz, Plakat. Lausanne. Online.


Lechmuseum: SPUREN. Die Ausstellung zur Skikultur, 24.6.2018–28.4.2019. Online [Abruf am 4.1.2023].


Mini Museum Mürren: Sammlung. Online [Abruf am 4.1.2023].

Mini Museum Mürren: Die Erfolgsgeschichten des internationalen Schneesports, Ausstellung, 29.12.2021–30.11.2022. Online [Abruf am 4.1.2023].


Mini Museum Mürren: Alles fährt Ski, Ausstellung, 29.12.2011–30.11.2012. Online [Abruf am 4.1.2023].


Mürren Tourismus (Hg. 2022): Geschäftsbericht. Online [Abruf am 3.1.2024].


Mürren … take it easy uphill, Prospekt (1938). Zürich. Standort: Archiv Mürren Tourismus.


Wellig, André: Eindrückliche «Skispuren» eines Briten. Sir Arnold Lunn und das grosse Geschenk aus Norwegen. In: Jungfrau Region Stories, Winter 2018. Online [Abruf am 22.12.2023].

Amstutz, Max D. (2010): Die Anfänge des alpinen Skirennsports = The Golden Age of Alpine Ski-ing. Zürich.

Barfuss, Thomas (2018): Authentische Kulissen. Graubünden und die Inszenierung der Alpen. Baden.

Dettling, Sabine / Tschofen, Bernhard (2014): Spuren. Skikultur am Arlberg. Bregenz.

Engel, Simon: Das ganze Volk fährt Ski! Das ganze Volk…? In: Blog. Schweizerisches Nationalmuseum, 13.1.2021. Online [Abruf am 4.1.2024].

Feuz, Patrick (Hg. 2014): Kronleuchter vor der Jungfrau. Mürren – eine Tourismusgeschichte. Baden.

Groebner, Valentin (2018): Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen. Frankfurt am Main.

Hofmann, Annette R. (2019): The Collective Memory of Skiing and its Lieux de Mémoire. International Traces of a Skikultur. In: Busset, Thomas; Engel, Peter (Hg.): Surmonter les frontières à ski = Grenzen überwinden mit Ski. Neuchâtel, S. 133–152.

Hofmann, Annette R. (2012): Bringing the Alps to the City. Early Indoor Winter Sports Events in the Modern City of the Twentieth Century. In: The International Journal of the History of Sport 29/14, 2050–2066.

Holt, Richard (1992): An Englishman in the Alps. Arnold Lunn, Amateurism and the Invention of Alpine Ski Racing. In: The International Journal of the History of Sport 9/3, S. 421–432.

Jucker, Michael (2019): Sportgeschichte als bedrohte Public History. In: Public History Weekly 7/4. Online.

Lütscher, Michael (2014): Schnee, Sonne und Stars. Wie der Wintertourismus von St. Moritz aus die Alpen erobert hat. Zürich.

Quin, Grégory / Tissot, Laurent; Leresche, Jean-Philippe (Hg. 2023): Le ski en Suisse. Une histoire. Orbe.

Widmer, Nils / Jucker, Michael (2023): Public Sport History in der Schweiz. Radsportgeschichte in Museen und Medien zwischen Nostalgie und Tiefgang. In: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 2023/3, S. 100–115.

Schweizerischer Damen-Skiklub (1939 Hg.): Frohe Stunden im Schnee. Bern.