Weesen SG (© M. Volken)

Pizzo Leone TI (© M. Volken)

Brüeltobel AI (© M. Volken)

Ennenda GL (© M. Volken)

Val de Zinal VS (© M. Volken)

Zervreila GR (© M. Volken)

Eggishorn VS (© M. Volken)

Lötschenpass VS (© M. Volken)

Chasseral BE (© M. Volken)

Ueschene BE (© M. Volken)

Marmorera GR (© M. Volken)

Grand Muveran VS (© M. Volken)

Robiei TI (© M. Volken)

Val Verzasca TI (© M. Volken)

Val Verzasca TI (© M. Volken)

Valle di Lodano TI (© M. Volken)

Valle di Lodano TI (© M. Volken)

Kunkels GR (© M. Volken)

San Bernardino GR (© M. Volken)

Mornera TI (© M. Volken)

Die Alpen als Biodiversitäts-Refugium? Von der Dringlichkeit literarischer Utopien

Die Biodiversitätskrise spiegelt sich auch in der Literatur und hat in den vergangenen Jahren zu Neudeutungen des Alpenmythos geführt. In ihrem Roman «Endling» beispielsweise verknüpft Schreiber das Réduit mit einem Biodiversitäts-Refugium. Und lässt ahnen: Die Alpenländer verpassen ihre Chance.

In der heissen Phase des Abstimmungskampfes zur Biodiversitätsinitiative wurde Bundesrat Albert Rösti von der NZZ gefragt, ob ihm schon aufgefallen sei, «dass weniger Schmetterlinge, Bienen und Fliegen herumschwirren als in Ihrer Kindheit?» Rösti verneinte und antwortete: «Wenn ich auf die Alp gehe, sehe ich nicht weniger Schmetterlinge als früher. Aber es sind Wissenschafter, die das Insektensterben in Fallstudien belegen. Das nehmen wir sehr ernst.» Auf die nächste Frage, die direkt auf eine Aussage von Markus Ritter, Präsident des Schweizer Bauernverbands, abzielte, wonach «es keine Biodiversitätskrise gebe», antwortete Rösti, dass auch er «nicht von einer Biodiversitätskrise sprechen» würde. Er begründete dies damit, dass zu viele Krisen irgendwann «nicht mehr ernst genommen» würden.

Bundesrat Rösti und die Weinbergschnecke HP14

Angesichts dieser Aussagen, die der Einschätzung der meisten Biodiversitätsexpert:innen in diesem Land widersprechen, könnte man fast vermuten, dass Bundesrat Rösti sich vielleicht gar nicht auf der Alp seines Bruders oberhalb von Kandersteg befand, sondern in jenem wundersamen Dorf in den italienischen Dolomiten aus Jasmin Schreibers Roman «Endling» (2023) gelandet war: Dieses Dorf wird von den Protagonistinnen, der Kurzflügelkäferforscherin Zoe, ihrer Schwester Hanna, der Biodiversitätswissenschaftlerin Tante Auguste, dem gefundenen Hund Toni und der letzten Weinbergschnecke HP14 auf der Suche nach Augustes Freundin Sophie besucht. Schon zu Beginn ihres Aufstiegs ins Dorf entdecken sie Preisel- und Heidelbeersträucher, Alpen-Astern, Primeln und sogar ein Edelweiss – alles Seltenheiten in dieser erzählten dystopischen Welt der nahen Zukunft, in der auch Rösti die Klima- und Biodiversitätskrisen kaum mehr übersehen würde, da alle Buchen gestorben sind und mit ihnen auch viele weitere heute noch sehr häufige Arten.

 

«Überhaupt schien mir», so stellt die Erzählerin Zoe während des Aufstiegs fest, «die Natur hier seltsam intakt zu sein, und ich hatte den Eindruck, dass es immer besser wurde, je höher wir stiegen.» Sie treffen auf eine Landschaft, die keine Spuren von Trockenheit, Borkenkäfer und Klimawandel trägt – und plötzlich erstreckt sich vor ihren Augen ein riesiger Gletscher.

 

Noch während Zoe und ihre Tante darüber rätseln, wieso er nicht geschmolzen sei, stellen sie fest, dass auch die Vegetation mit ihren Farnen und Moosen untypisch für diesen Standort ist – alles wirke so «durchmischt», wie sie feststellen. Überhaupt ist das Klima nicht so, wie man es in den italienischen Dolomiten erwarten würde, sondern «fast tropisch». Im weiteren Verlauf der Wanderung entdecken sie dann sogar 20 Meter hohe, prähistorische Schachtelhalmgewächse, eine Riesenlibelle mit einer Spannweite von 50 Zentimeter und sie treffen auf Admirale und Aurora-Falter und all die Taubenschwänzchen, die Zoe monatelang in ihren Forschungen gesucht hatte, weil sie einfach plötzlich verschwunden waren: «Was geht denn hier ab? Ist das ein Refugium? Ein Reservoir? Haben wir gerade ernsthaft die verschollenen Taubenschwänzchen gefunden?».

Eine Utopie in der dystopischen Welt

Als sie zum Dorf gelangen, erfahren sie Stück für Stück mehr über seine Geheimnisse: Es leben hier ausschliesslich Frauen und auch nur weibliche Exemplare des Tier- und Pflanzenreichs – die Schnecke HP14 braucht als Zwitter eine besondere Behandlung, damit sie nicht stirbt. Die Frauen leben relativ abgeschieden, sind kollektiv und matriarchal organisiert und kulturell von naturmystischen und ökofeministischen spirituellen Erzählungen geprägt. Damit stellt dieses Dorf in den Alpen eine kontrastive Utopie zur dystopischen Welt des Romans, in welcher mit der Zerstörung der Biodiversität auch soziale Krisen – faschistische Regierungen, Einschränkung der Frauen- und Minderheitenrechte sowie des Zugangs zu Wissen(-schaft) – einhergehen. Frauen, Tiere und Pflanzen, die in der Welt des Romans verschollen, vertrieben und gefährdet sind, leben in diesen Dörfern ohne Angst und Einschränkungen.


Damit wird im Roman «Endling» der nach dem zweiten Weltkrieg verblasste Mythos der Alpen als militärischer Rückzugsort in einer (öko)feministischen Umschreibung wiederbelebt und mit einem aktualisierten Potenzial für die Gegenwart versehen. Jasmin Schreiber steht mit ihrer Neudeutung des Alpenmythos jedoch nicht allein da, sondern reiht sich in eine jüngere feministische Tradition ein, die das abgeschiedene Leben in den Alpen erneut als Sinnbild für Freiheit versteht. So leben etwa in Hedi Wyss’ dystopischen Roman «Der Ozean steigt» aus dem Jahr 1987 aktivistische Kollektive in den Bergen, dem einzigen ‚natürlichen‘ Gebiet, das nicht von unterirdischen Tunnels, künstlichen Park- und Freizeitanlagen sowie staatlicher Propaganda geprägt ist. Vor allem aber steht Schreiber in einer direkten intertextuellen Genealogie zu Marlen Haushofers 1963 erschienenem Roman «Die Wand», in dem sich die Protagonistin bekanntlich plötzlich allein in einem Alpental hinter einer durchsichtigen Wand befindet und fortan dort mit Hund, Kuh, Stier und Katzen lebt. Schreibers und Haushofers Romane sind nicht nur durch die Elemente des magischen Realismus miteinander verbunden, sondern auch dadurch, dass in diesen Alpen-Refugien ein anderes Mensch-Natur-Verhältnis möglich wird, in der eine sozio-ökologische Transformation aufscheint: Bei Haushofer steht dabei im Vordergrund, wie die Protagonistin in Auseinandersetzung mit ihren Haustieren, aber auch mit den Wildtieren oder den Bäumen, menschliche – und vor allem patriarchal geprägte – Vorstellungen hinterfragt und sich die Grenzen zwischen dem Menschlichen und Nicht-Menschlichen verschieben. Bei Schreiber stehen die wundersame, bis in historische Tiefenzeiten zurückreichende Biodiversität und das Frauenkollektiv eher unverbunden nebeneinander. Zentral sind jedoch auch hier die Sorgebeziehungen, die sich in der sozialen Organisation ebenso zeigt wie in der Gastfreundlichkeit und der Pflege der kranken Weinbergschnecke HP14.

Von der wehrhaften zur verletzlichen Schweiz

Die militärische Gewaltabwehr, die mit dem Réduit-Gedanken verbunden war, ist in diesen Texten umgewandelt in neue Formen von (mehr als menschlichen) Bündnissen – auch wenn gerade Schreibers ökofeministisches Dorf insofern ebenso militante Züge hat, als Männer hier krank werden und sterben, die fremden Besucherinnen zwar aufgenommen und gepflegt, aber doch mit einer gewissen Skepsis betrachtet werden, vor deren Fragen man die spirituellen Geheimnisse schützen muss. Indem Schreiber die Gegend rund um das Frauendorf mit seiner naturmythischen Spiritualität zum «Refugium» und «Reservoir» der Biodiversität macht, verknüpft sie auf ebenso originelle wie ironische Weise den Diskurs des Alpen-Réduits mit dem aktuellen Biodiversitätsdiskurs. Als sich die Schweiz auf der Expo64 präsentierte, tat sie dies mit Carl Fingerhuths Pavillon «Wehrhafte Schweiz» – einem Koloss mit riesigen Beton-Stacheln, die den Igel als Symbol der (geistigen) Landesverteidigung darstellte.

 

Seit dem Jahr 2022 steht der Igel in der Schweiz nun zum ersten Mal auf der Roten Liste als «potenziell gefährdet» – und ist so vom Symbol der Wehrhaftigkeit zum Symbol der Verletzlichkeit geworden. Schreibers sowohl historisch wie auch geographisch höchst ‚durchmischte‘ Biodiversität rund um das ökofeministische Frauendorf zeigt einerseits, wie zentral für die Darstellung von Biodiversität Bilder wie dasjenige der Arche Noah, der Oase in der ökologischen Wüste oder eben des Refugiums – sei es in den Alpen, in Wäldern oder Städten – sind. Gleichzeitig macht sie mit dieser phantastischen, beinah monströsen Durchmischung, zu der auch urzeitliche Riesenwölfe gehören, auch deutlich, dass eben im Unterschied zur (geistigen) Landesverteidigung es nicht um die nostalgische Wiederherstellung eines verlorenen Zustands, sondern um eine utopische Zukunftsperspektive mit historischer Tiefenzeit geht.

«Expo 1964 in Lausanne» (c) Comet Photo / ETH-Bildarchiv  (Com_C12-229-022)

Chance: Schweizer Alpen als Biodiversitäts-Hotspot

Der Abstimmungskampf rund um die Biodiversitätsinitiative war geprägt von der Haltung, die Schweiz mache ja schon viel und habe bereits die geeigneten Instrumente, um die Biodiversität zu schützen. Dabei könnte die Schweiz gerade ihre Bedeutung für die Biodiversität als Alpenland offensiv wahrnehmen und vor allem mit Blick auf eine von der Erderwärmung zunehmend betroffene Zukunft die ihr von der Forschung zugeschriebene Herausforderung annehmen, neue Schutzgebiete auf allen Höhengradienten zu errichten, die als zukünftige Refugien für verschiedene Arten fungieren können. So würde vielleicht Rösti tatsächlich viele schöne Beobachtungen von Schmetterlingen machen können – ganz ohne Beihilfe eines magischen Realismus wie in Jasmin Schreibers Roman. Vor allem aber würde dadurch die Idee des Alpenraums als ein Asyl für gefährdetes Leben aktualisiert – und die Schweiz würde damit symbolisch nicht mehr die rückwärtsgewandte Einigelung verkörpern, sondern zeigen, wie aus dem Refugium heraus in die Welt hineingewirkt werden kann.

Da sich durch den Klimawandel auch die Verbreitung von Arten verändert, können geschützte Gebiete an Bedeutung verlieren und dafür neue Biodiversitätshotspots entstehen, die unter Schutz gestellt werden sollten. Eine von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft sowie der ETH Zürich co-geleitete internationale Studie zeigt, wo in den Alpenländern und insbesondere in der Schweiz in Zukunft Schutzgebiete eingerichtet werden sollten. Die Forscher:innen haben dafür digitale Verbreitungskarten mit Modellierungen für die Jahre 2050 und 2080 erstellt. 

Und es zeigt sich: Die Schweiz hat – unter Berücksichtigung des «30 by 30»-Ziels des Kunming-Montreal Global Biodiversity Frameworks – in all diesen Modellierungen den grössten Handlungsbedarf an zukünftigen zusätzlichen Schutzgebieten.

 

Zur Studie: Yohann Chauvier-Mendes et al. (2024): Transnational Conservation to Anticipate Future Plant Shifts in Europe. In: Nature Ecology & Evolution, 22. Januar.

 

Zur Pressemitteilung der WSL.
 

Jasmin Schreiber: Endling. Köln 2023.

Keller, Claudia (2024): Vielfalt erzählen. Drei Thesen zur Bedeutung von Biodiversitätsnarration. In: GAIA. Ecological Perspectives for Science and Society 33/2, 228-233.

Keller, Claudia (2024): Kulturanalyse für Biodiversität. In: Geschichte der Gegenwart, 17. Juli.