Konzertplatz Taiswald, Pontresina GR (© M. Volken)

Konzertplatz Taiswald, Pontresina GR (© M. Volken)

Konzertplatz Taiswald, Pontresina GR (© M. Volken)

Konzertplatz Taiswald, Pontresina GR (© M. Volken)

Konzertplatz Taiswald, Pontresina GR (© M. Volken)

Konzertplatz Taiswald, Pontresina GR (© M. Volken)

Alpine Waldkonzerte – zur Klangvielfalt der Kurorchester

Das Kurorchester von Pontresina spielt bis heute Konzerte im Taiswald. Hier vermischen sich Klänge von Mensch, Tier und Wetter auf besondere Weise und lassen die Entstehung der Musikavantgarde ab dem 19. Jahrhundert erahnen.

Hunde als Konzertpublikum

Von den einst zahlreichen Orchestern der Schweizer Kurorte haben nur deren zwei im Hochtal des Oberengadins überlebt: das 1866 gegründete Kurorchester von St. Moritz (heute «Salonorchester St. Moritz» genannt) und das 1910 entstandene Kurorchester von Pontresina («Camerata Pontresina»). Beide Orchester treten von Juni bis September täglich am Vormittag auf. Besonders die bei guter Witterung im Taiswald von Pontresina stattfindenden Konzerte scheinen beliebt zu sein. Oft ziehen sie über hundert Zuhörende jeden Alters an. Einige betreten die Lichtung, um dem Orchester zu lauschen, andere schauen zufällig mit Wanderschuhen oder Fahrrad vorbei. Ausserdem geniessen etliche Hunde die Geigen. So erblickte ich zum Beispiel, als gerade eine Ouvertüre Jacques Offenbachs erklang, einen Windhund, ein «Italienisches Windspiel», das den Ton des Konzertmeisters analysierte.


Was aber fasziniert an den Waldkonzerten? Nicht nur die Salonmusik, sei angenommen. Erstaunlich ist zum einen die gute Akustik, zu welcher vielleicht die gefurchte Borke der Lärche beiträgt. Ferner wird niemand verpflichtet, wie im KKL auf Sitzen zu kleben. Stattdessen können die Musikliebhaber:innen nach Belieben das Weite suchen, zu den Flötentönen ein paar Arvennüsse verzehren oder während des Konzertes promenierend Bäume betrachten. Je nachdem, wo der Spaziergang hinführt, wird die Musik unterschiedlich wahrgenommen. Und diese erklingt nie alleine, sondern immer zusammen mit den Klängen der Umgebung. Hier vermischen sich Orchestertöne mit den Geräuschen des Baches, dort mit den Rufen der Tannenhäher oder dem Klopfen der Spechte. Genau diese Synthese von Kunst- und Naturklängen scheint das Publikum zu schätzen. Wer regelmässig die Konzerte im Taiswald besucht, mag ferner erkennen, wie die natürliche Klanglandschaft selbst gleich einem zweiten Orchester erklingt, wodurch sich zunehmend der Gegensatz von Kunst und Natur relativiert und auflöst.

Das Spiel im Freien

«Doch dürfen wir nicht vergessen […], dass das Orchester eben ein Kurorchester sein und bleiben soll, das – wenn das Wetter es irgendwie gestattet – im Freien spielt», meinte der Kurverein von St. Moritz 1964 und formulierte so ein Merkmal aller Kurorchester, verbunden mit deren ursprünglichen Funktion. Am frühen Morgen hatten Orchester die langweiligen Bade- oder Trinkkuren der Gäste zu begleiten. Mit Musik liess sich der Zwang besser verdrängen, überdies wurde die Konversation zwischen den Gästen angeregt, zumal die Orchesterklänge die Hälfte des Klatschs überdeckten. Da die Ärzte nicht nur das Trinken von mehreren Litern Mineralwasser anordneten, sondern zeitgleich die Bewegung in frischer Luft, spielten eben auch die Kapellen draussen. In St. Moritz wandelten die Gäste mit ihren Bechern durch schattige Parkalleen zu den Quellen, während die Musiker:innen in einem Kiosk, später in einer Konzertmuschel, dienten. In Pontresina indes tranken die Gäste zur Kur etwas Luft. 1910 kam der Kurverein auf die merkwürdige, doch ausgezeichnete Idee, Kurkonzerte nicht wie gewöhnlich im Dorf bei den Hotels anzubieten, sondern auf der anderen Seite der Schlucht, im Taiswald. Bereits ein Jahr später suchten sie laut Protokollen nach anderen Plätzen – in den 1920er Jahren etwa wurde die Promenade bei Giandains auf der Dorfseite genannt – aber stets erklang das Kurorchester zwischen Arven und Lärchen.

Von den Kurkonzerten zur neuen Musik

Nun besuchten nicht bloss Geldbeutel und Windspiele Kurorte, sondern auch Komponist:innen. Teils hatten sie zu viel gebechert oder kamen mit anderen Beschwerden, oft aber, um irgendwelche Geschäfte oder Liebschaften einzufädeln, oder um inmitten allgemeiner Faulheit gut arbeiten zu können. Die Komponist:innen vernahmen täglich die Kurorchester im Freien und somit die reizvolle Mischung von Kunst- und Naturklängen. Besonders in den ab dem 19. Jahrhundert englisch gestalteten Kurgärten mit ihren gewundenen Pfaden und unterschiedlichen Pflanzen, mit Hügeln und teils künstlichen Wasserfällen, verwandelte sich der Klang mit jedem Schritt. Diese durch den Kuraufenthalt bewusst gewordene Komplexität und Musikalität der Klanglandschaft wurde allmählich in Musikwerke zu übertragen versucht. Es ist kein Zufall, dass Ludwig van Beethoven, Hector Berlioz oder Richard Wagner, später dann Gustav Mahler, die sich in ihren Werken strukturell und klangfarblich der Komplexität räumlicher Klanglandschaften annäherten, regelmässig durch die Kurwäldchen von Baden-Baden oder Marienbad (Mariánské Lázně) promenierten. Auch die Vertreter der Folgegeneration waren mit Kurorten vertraut: Claude Debussy zum Beispiel träumte von einer unbekannten Musik, «die sich in der freien Luft entfalten und unbeschwert über den Wipfeln der Bäume schweben» würde. Antonio Russolo, Konzertmeister im Engadin, schrieb Stücke für Salonorchester und Geräuschinstrumente und Charles Ives fand die reizvolle Übereinanderlagerung verschiedener Stile und Melodien vermutlich bei gleichzeitig auftretenden Salonorchestern der Grand Hotels vor. Insofern erscheint hinter jener im Taiswald zu hörenden Salonmusik – die immer zusammen mit Umweltgeräuschen und ab Blatt gespielt auch mal mikrointervallisch erklingt – das Skelett der Musikavantgarde.

Lieber keine Kulissen

Die orchestrale Qualität der natürlichen Klanglandschaft prägte sich ab dem 19. Jahrhundert ins Gedächtnis der Kurgäste ein, weil die Kurorchester täglich und unprätentiös im Freien spielten. Hätten die Orchester nur bei besonderen Anlässen in der Natur musiziert, wäre letztere wohl Kulisse geblieben. So, wie die Natur als Kulisse erscheinen mag, wenn an Festivals Gitarren oder Streichquartette bei Seen und Gletschern spielen. Auf derlei kann gerne verzichtet werden, da die Alpen mit den Kuhglocken und dem ganzen Strassen- und Luftverkehr genügend Lärm aufweisen. Das Kurorchester von Pontresina aber tritt seit mehr als einem Jahrhundert täglich im Taiswald auf, und dessen Bewohner:innen kennen die Salonmusik seit Generationen. Ein Eichhörnchen mit Rippenfraktur, wird erzählt, hätte nachts Melodien von Giacomo Puccini nachgepfiffen.


In St. Moritz indes wurden die Worte des Kurvereins nicht gehalten: Ihr Kurorchester ist seit dem Abriss der Konzertmuschel 2014 beim Kurhaus (heute «Grand Hotel des Bains Kempinski») nur noch in Innenräumen zu hören. Das sich jeweils zufällig gebildete Publikum sowie seine traditionelle, erst draussen entstandene Klangvielfalt gingen dadurch verloren. Vielleicht erklingt in Zukunft auch wieder die Kurmusik von St. Moritz im Freien, etwa beim See. Wäre die Klangumgebung aber zu laut – lauter als die teils in Pontresina beanstandeten Geräusche der Züge, Helikopter und Kirchenglocken – würden die Kurkonzerte lediglich noch an menschenverursachten Lärm erinnern.

Die Geschichte der Kur- und Hotelorchester im Engadin wird auf Grundlage zahlreicher gesammelter Archivdokumente an der Universität Basel und dem Institut für Kulturforschung Graubünden erforscht.

Das Kurorchester von Pontresina (Camerata Pontresina) tritt bei guter Witterung von Juni bis September täglich im Taiswald auf.

Bradley, Ian (2010): Water Music. Music Making in the Spas of Europe and North America. New York.

Debussy, Claude (1982): Monsieur Croche. Sämtliche Schriften und Interviews. Stuttgart.

Eidloth, Volkmar / Martin, Petra / Schulze, Katrin (Hg. 2020): Zwischen Heilung und Zerstreuung. Kurgärten und Kurparks in Europa. Ostfildern.

Gredig, Mathias / Schmidt, Matthias (Hg. 2022): Höhenmusik. Orchester der Hotels und Kurvereine im Engadin. Ein Buch zur Sonderausstellung im Museum Alpin Pontresina. Chur / Basel.

Haberland, Irene / Winzen, Matthias (Hg. 2017): Natur und Kulisse. Die Lichtentaler Allee im 19. Jahrhundert. Oberhausen.

Protokolle Kurverein Pontresina (1910 – 1920). In: Archiv Pontresina Tourismus.

Saisonbericht Kurverein St. Moritz (1964). In: Dokumentationsbibliothek St. Moritz.