Alpensüdseite: Für die Tieflagen-Wälder ist die Zukunft schon eingetroffen
Die Alpensüdseite bekommt klimatische Veränderungen schon heute zu spüren und ist besonders anfällig für Sommerdürren, Verbuschung und damit verbundene grosse Waldbrände. Laubwälder auf der Alpensüdseite werden durch ihre klimatischen und forstgeschichtlichen Besonderheiten zum Freilandlabor und zur Frühwarnregion für die Tieflandwälder der gesamten Schweiz.
In den milden seenahen Zonen entwickeln sich infolge des klimawandelbedingten Temperaturanstiegs die sommergrünen Laubwälder bereits zu immergrünen Laubwäldern. Die nicht mehr bewirtschafteten Kastanienwälder leiden stark unter extremen Sommerdürren und biotischen Stressfaktoren und gehen zum Teil grossflächig zugrunde. Die Bemühungen des Forstdienstes, die Wälder zu verjüngen und naturnaher zu gestalten, werden durch den hohen Wilddruck stark eingeschränkt. Dies alles stellt die lokalen Förster:innen vor neue, schwer lösbare Herausforderungen.
Erhöhte Mortalität der Bäume
Die Alpensüdseite ist durch steile Talhänge und einen sehr grossen Höhengradienten charakterisiert. Etwa die Hälfte der Region liegt über 1500 Höhenmeter, wo die Waldvegetation und deren Dynamik nicht wesentlich anders ist als in den entsprechenden nördlichen Hängen der Alpen. Ganz anders sieht die Situation in den seenahen Gebieten im Laubgürtel der tieferen Lagen aus (bis 800 respektive 1000 Höhenmeter), wo das Klima besonders warm ist. Die allgemeine Klimaerwärmung seit 1990 und die immer häufiger werdenden Dürreperioden, die im Sommer 2003 (vor allem im Zentral-Tessin) und im Sommer 2022 (Südtessin) einen erhöhten Schweregrad aufwiesen, haben eindeutige Spuren hinterlassen. Die Edelkastanie zeigt sich besonders empfindlich gegenüber diesen Sommerdürren. Einerseits sind die nicht mehr bewirtschafteten Kastanienbestände überaltert, andererseits leidet die Edelkastanie auch unter spezifischen Krankheiten wie dem Kastanienrindenkrebs und der Tintenkrankheit und wird von Schädlingen wie von der Kastaniengallwespe befallen. Dieser kumulativ erzeugte Stress hat zu einer erhöhten Mortalitätsrate in vielen Kastanienbeständen geführt (Abbildung 1). Unter extremen Hitzedürren leiden aber auch andere Laubbäume, insbesondere solche auf kalkhaltigem und flachgründigem Untergrund wie zum Beispiel die sommergrüne Eiche und die Hopfenbuche.
Invasive gebietsfremde Gehölzarten
Klimatisch betrachtet liegen die seenahen Gebiete der Alpensüdseite an der Grenze zwischen den sommergrünen und den immergrünen Laubwäldern. Dank den immer günstiger werdenden klimatischen Bedingungen und dem vorhandenen Samendruck aus den naheliegenden Gärten und Pärken siedeln sich immer mehr gebietsfremde schattenertragende immergrüne Arten wie der Kirschlorbeer, die chinesische Hanfpalme und das japanische Geissblatt im Unterholz ungestörter Waldbestände an.
Wo der Wald durch forstliche Eingriffe, Windwurf oder Waldbrand gestört wird, dringen hingegen sommergrüne und lichtbedürftige gebietsfremde Gehölzarten ein wie der Götterbaum, die Robinie, der Blauglockenbaum und der Sommerflieder (Abbildung 2). Diese Invasionsprozesse bedeuten eine Veränderung der Baumartenzusammensetzung, die a priori nicht problematisch ist. Zum jetzigen Zeitpunkt ist aber weitgehend unklar, welchen Einfluss diese invasiven Arten auf die Walddynamik, den Schutz vor Naturgefahren und auf andere Ökosystemleistungen haben.
Neuartiges Waldbrandgeschehen
Der allgemeine Rückgang der Waldbewirtschaftung – in Verbindung mit immer extremeren Dürreperioden – macht die Alpensüdseite besonders anfällig für Waldbrände. Dank gezieltem Feuermanagement und einer guten Prävention konnte die Anzahl der Waldbrände und deren durchschnittliche Grösse in den letzten Jahrzehnten reduziert werden. Die wenigen Brände, die im Ersteinsatz nicht gelöscht werden konnten, weisen eine höhere Intensität und ein höheres Gefährdungspotenzial als früher auf (Abbildung 3) und der Mangel an Schnee im Winter führt zusätzlich zu aussergewöhnlichen Brandereignissen. Dies nicht nur, weil die Brände ausserhalb der normalen Brandsaison liegen, sondern auch, weil sich diese bis zu den Nadelwäldern in höheren Lagen ausbreiten können, die früher oft von einer Schneedecke geschützt waren. Auch die Häufigkeit der Blitzschlagbrände (vor allem in höheren Lagen) nimmt tendenziell zu. Die Entflammbarkeit durch Blitze wird durch die Trockenheit des Brandguts (aufgrund längerer Dürren) und den Wegfall von Bewirtschaftung (aufgrund erhöhtem Brandgut) begünstigt.
Instabilität der nicht mehr bewirtschafteten Wälder
Eine der grössten forstlichen Herausforderungen im Laubwaldgürtel der Alpensüdseite sind die künstlichen Waldstrukturen als waldbauliches Erbe der Vergangenheit. In den allermeisten Fällen sind die Wälder aus früherem Niederwald-Betrieb entstanden. Zeugen dieser Vergangenheit sind einige dominierende Arten wie die Edelkastanie in den unteren Höhenlagen (bis ca. 800-1000 Höhenmeter) sowie die Buche im Mittelgebirge (bis ca. 1500 Höhenmeter).
Aufgrund ihrer künstlichen Struktur und Zusammensetzung unterliegen diese seit einigen Jahrzehnten nicht mehr bewirtschafteten Kastanien- und Buchenwälder einer spontanen Entwicklungsdynamik, die zur Überalterung und Instabilität der Stöcke führt. Überalterte Kastanien- und Buchen-Niederwaldstöcke sowie grossgewachsene Eichen neigen mit der Zeit zur Entwicklung einer unverhältnismässig grossen oberirdischen Stamm- und Kronenmasse ohne entsprechenden Ausbau und Erneuerung des Wurzelsystems. Das ergibt eine unausgewogene Entwicklung, die zu Baum- und Stockwürfen führen kann, welche teilweise Steine und Erde mobilisieren. Nach Angaben des Forstdienstes des Kantons Tessin sind Steinschläge, die durch Stockwürfe aus Felswänden ausgelöst werden, derzeit eine der häufigsten Naturgefahren für Siedlungen (Abbildung 4).
Die grösste Herausforderung: Der Wilddruck
Die dringend nötige Erneuerung und Überführung der bestehenden Waldstrukturen in naturnahe Wälder sind bereits aufgrund der nachteiligen Eigenschaften des Geländes (steile und unerschlossene Hänge) problematisch und kostspielig. Eine zusätzliche und immer akuter werdende Herausforderung stellt aber der Verbissdruck auf die Verjüngung der einheimischen Baumarten dar. In einigen Gebieten ist der Einfluss der Huftiere auf die Waldverjüngung so gross, dass junge Bäume kaum das Stangenholzstadium erreichen. Trotz eines beträchtlichen Verjüngungspotenzials schaffen es für das Wild sehr attraktive Baumarten wie die Weisstanne nicht einmal über das Keimlingsstadium hinaus. Dieser Druck auf die einheimischen Arten führt zu einer verstärkten Begünstigung der invasiven gebietsfremden Arten, die in der Regel vom Wildverbiss verschont bleiben (Abbildung 5).
Ausblick
Die Laubwälder auf der Alpensüdseite sind kulturgeschichtlich und klimatisch bedingt sehr anfällig für Waldstörungen. Die grössten Herausforderungen sind die künstlichen und nicht mehr aktuellen Waldstrukturen und Baumartenmischungen, der steigende Druck durch nicht-einheimische invasive Arten sowie der Wildverbiss von einheimischen Baumarten, die sich natürlich verjüngen könnten. Durch das Zusammenwirken dieser drei Herausforderungen wird eine Überführung der Wälder in naturnahe und zukunftsfähige Bestände nahezu verunmöglicht. Die mit klimatischen Extremen und neuen invasiven Arten und Schädlingen sowie Wildverbiss verbundenen Problemen kommen vermehrt auch in den tiefen Lagen nördlich der Alpen vor. Im Rahmen der Diskussion zum globalen Wandel bieten die Erfahrungen aus dem Freilandlabor Alpensüdseite auch eine Chance für die Zukunft unserer Wälder – und können als Weckglocke für die ganze Schweiz dienen.