Der Schnee fehlt auch im Sommer: Landwirtschaft in der Surselva
Während magere Skipisten und schmelzende Gletscher den Klimawandel wortwörtlich vor Augen führen, gibt es auch andere, weniger bekannte Auswirkungen in den Bergen. So leidet die Landwirtschaft genauso wie der Wintertourismus unter warmen Wintern und Schneemangel – mit drastischen Folgen im Sommer.
Im Februar 2024 war ich oft auf dem Bauernhof von Sep Candinas in Sumvitg in der Surselva und half, die Kühe zu füttern und den Stall zu reinigen. Als ich Sep nach dem offensichtlichen Schneemangel zu dieser Zeit fragte, antwortete er:
«Letztes Jahr [2023] war miserabel in Sachen Schnee und in Sachen Niederschlag. Es war ein prekärer Sommer: Wir haben Alpweiden, die vom auftauenden Wasser gespiesen werden, mit einer Vegetation normalerweise von Juni bis August. Die hintersten Weiden erreichen die Kühe teilweise erst im August und das Gras ist meistens wunderschön dort, aber wenn dort kein Schnee ist – oder wenn der Schnee schon seit Mai verschwunden ist – haben wir kein Wasser und es wächst nichts. Es ist ganz klar, dass wir den Schnee im Winter brauchen, damit wir im Sommer Reserven haben.»
Im Laufe meiner Feldforschung erzählten mir Sep und andere Bauern von den extrem trockenen Sommern der letzten beiden Jahre 2022 und 2023. Vielen Alpen ging bereits im August das Wasser aus. Der fehlende Schnee im Winter zeigt besonders im Sommer drastische Folgen. Wie Silvan Caduff, der Vorsitzende der Union Purila Sursilvana (Bauernverband Surselva), sagte: «Schnee ist ein Grundbaustein für Vieles, das bei uns wächst.». Die wärmeren Temperaturen und der Schneemangel im Winter führen dazu, dass die alpinen Bewirtschaftungs- und Vegetationszyklen gestört werden.

Orientierung an der Schneelinie
Traditionell bildet die dreistufige Viehhaltung – bestehend aus Talgut, Maiensäss und Alp – das Rückgrat der Alpwirtschaft und prägt bis heute die Berglandschaft. Die drei Begriffe beziehen sich auf die drei verschiedenen jahreszeitlichen Höhenstufen, die in der Viehwirtschaft genutzt werden. Bauern und ihre Tiere orientieren sich an der Schneelinie, die sich langsam in höhere Lagen zurückzieht und neues Gras freisetzt. Während sich die Tiere von den frischen Pflanzen auf der Alp ernähren, mähen die Bäuerinnen das Gras im Tal als Heu für die Wintermonate. Die Viehhaltung in drei Etappen maximiert die Ausnutzung der Futteroptionen in der vertikalen Berglandschaft.
In der alpinen Topografie sind Schnee und Eis eine wichtige Form der Wasserspeicherung. Für Bauern bleibt der Schnee im Idealfall bis zum Ende des Sommers auf dem Berg, sodass das Schmelzwasser die Pflanzen und Tiere auf der Alp kontinuierlich nährt. Die steigenden Temperaturen in den Alpen führen jedoch zu schneearmen Wintern, zu verfrühtem Schmelzwasser und zu einer generell beschleunigten Verdunstung der Feuchtigkeit.
Schnee als Wasserspeicher
Nur in Form von Schnee und Eis bleibt also Wasser auf dem Berg. Von grosser Bedeutung für die Landwirtschaft ist der Schnee nicht zuletzt, weil er die Feuchtigkeit im Boden zurückhält. Entgegen der menschlichen Intuition bietet Schnee Isolierung, Wärme und Schutz für den Boden, für die Vegetation und sogar für Tiere. Bei Schneemangel wird die Vegetation trockener Luft und kälteren Temperaturen ausgesetzt, was das Wachstum aller Pflanzen im späteren Verlauf des Jahres beeinflussen kann. So waren die Bäuerinnen in den letzten Jahren besonders besorgt über das kurz aufeinanderfolgende Wachstum und Austrocknen der Alpwiesen, bedingt durch die frühe Schneeschmelze.
Mit der Wasserknappheit im Sommer werden die Alp-Sommer kürzer und teurer. Wenn die Tiere früher von der Weide geholt werden müssen, brauchen sie zusätzliches Futter oder bereits das Heu, das für den Winter hätte eingelagert werden sollen. In beiden Szenarien entstehen für die Bäuerinnen hohe Ausgaben. Der Klimawandel trifft alpine Bergbauern stark, wie ich in der Surselva feststelle: Kein Schnee im Winter, später Schneefall im Frühjahr, starke Regenfälle, wärmere Temperaturen und dann überraschend früher Schnee. Es scheint ausserhalb ihrer Reichweite und ihrer Verantwortung zu liegen, etwas dagegen zu tun. Mir wurde mehrmals gesagt: Alles, was die Bäuerinnen tun können, ist, damit umzugehen.

Landwirtschaftliche Möglichkeiten im Klimawandel
Als Reaktion auf die sich verändernden Bedingungen in der alpinen Landwirtschaft und in dem Versuch, den Lebensunterhalt gegen weitere Gefahren des Klimawandels zu sichern, plädieren einige Bauern für eine Rückkehr zum Ackerbau. Bis fast Mitte des 20. Jahrhunderts lebte ein Grossteil der Bevölkerung in der Surselva autark. Man lebte vom eigenen Ackerbau und von der Viehwirtschaft. Unter anderem durch den Bau von Elektrizitätswerken und das Aufkommen des Wintertourismus verlagerte sich zunehmend die Wertschöpfung weg von der Landwirtschaft.
Heute versuchen die Bäuerinnen, sich genau dieses Problem zunutze zu machen, über welches sie mit dem Klimawandel und der Veränderung ihrer Existenzgrundlage erst konfrontiert wurden: die Erwärmung der Temperaturen. Viele sind sich den topographisch bedingten Herausforderungen bewusst – Gelände, Winkel, Schatten- und Sonnelage, Wind- und Wetterverhältnisse, die Unberechenbarkeit der Temperaturen sowie früher Frost und später Schnee führen zu erschwerten Wachstumsbedingungen der Vegetation. Trotzdem: Die wärmeren Temperaturen bieten neue Möglichkeiten, wie beispielsweise das Anpflanzen neuer Kulturen. So erzählt Ramona Caduff, Bio-Bäuerin in Degen im Val Lumnezia:
«Wir haben immer weniger Niederschlag und immer weniger Schnee. […] Doch die wärmeren Temperaturen ermöglichen uns, andere Kulturen anzupflanzen. Aber die Vegetationszeit bleibt trotzdem kurz. Die Berge bewegen sich schliesslich nicht und die Sonne kommt nicht eher an ihnen vorbei. Und was wir hier auch haben sind die brutalen Temperaturunterschiede. Wir hatten vor kurzem -20 Grad und eine Woche später 10 Grad. Das sind 30 Grad Unterschied.»
Mandelbaum in der Surselva
Viele Bauern, mit denen ich während der Feldforschung sprach, haben ähnliche Gedanken und Ideen. Sie alle beobachten, wie sich das Klima verändert, und spielen mit den Möglichkeiten, in höheren Lagen neue und andere Kulturen anzubauen. Ramona Caduff weihte mich ebenfalls in die Maisdebatte ein, die offenbar schon seit ein paar Jahren unter den lokalen Bauern geführt wird. Während Mais im Linthal gut wachse, sei er in höheren Lagen, wie in der Surselva, durch seine relativ lange Reifezeit ein zu grosses Risiko, da möglicher Schnee und Frost das Wachstum und den Reifeprozess hemmen. Sie fügte hinzu, dass sie kürzlich einen Mandelbaum gepflanzt habe und, dass für ihn ja vielleicht das richtige Wetter herrsche, wenn er gross ist.
Silvan Caduff erzählte mir ausserdem von einem Ort in Morissen namens «Vegnas», was auf Rätoromanisch «Weinberg» bedeutet. Irgendwann müssen dort einmal Rebstöcke gewachsen sein. Wenn sie dort einmal wuchsen, warum sollten sie dann nicht wieder wachsen? Es gäbe tatsächlich Jemanden, der dabei sei, die Reben in diesem Gebiet wieder anzusiedeln.
Alles Mais
Als ich Sep fragte, ob auch er neue Arten über die Vegetationsgrenzen hinweg anbauen wolle, platzte es aus ihm heraus: «Der Präsident der SVP sagte gestern, der Klimawandel sei gut für die Bauern... Nun, da hast du es! In der Tat, mit 1 Grad mehr wächst das Zeug besser. Aber alles drum herum – mal zu viel, mal zu wenig Niederschlag – wird schwierig. Klar, man könnte jetzt Mais anbauen. Man kann schon besser Mais anbauen als früher. Aber man muss immer noch sehen, dass im September aus heiterem Himmel 10 cm Schnee fallen können. Wir haben zwar seit 10 Jahren nichts mehr gehabt, aber das kann sich schnell ändern. Ein weiteres Problem beim Getreide ist, dass es zusammenbricht, wenn die Temperaturen um weitere 3 Grad ansteigen. Die Tragfähigkeit des Getreides verbessert sich nicht.»
Es gibt einige Ideen in der Berglandwirtschaft, wie man dem Klimawandel begegnen kann. Die Weidezeit auf der Alp im Sommer werden stets kürzer, während die Sommer gleichzeitig länger werden. Auch wenn wärmere Temperaturen neue Möglichkeiten im Ackerbau schaffen, bedrohen sie die traditionelle (Vieh-)Landwirtschaft. Was in der Surselva deutlich wird: Alle Bauern versuchen, der Zukunft mit ihrem besten Wissen entgegenzutreten.