«Die Alpen sind vernichtet» – vom Bären Bruno und der daraus entstandenen Novelle Falkners
Er wurde durch ein Artenschutzprojekt zurückgeholt, um danach in Bayern abgeschossen zu werden: der Alpenbraunbär. Stoff genug für eine Novelle. Gerhard Falkner spürt in «Bruno» erhofften Begegnungen zwischen Mensch und Bär nach – und verhandelt Natur und Kultur neu.
In Gerhard Falkners Novelle «Bruno», im Jahr 2008 erschienen, gelten zwanzig Kurzkapitel der literarischen Beschreibung der Reise eines Berliner Schriftstellers nach Leuk im Schweizer Kanton Wallis. Der Protagonist ist in der Tradition der im 18. und 19. Jahrhundert in den Alpen reisenden Dichter, Denker und Kunstmaler unterwegs: Rilke, Goethe, Segantini und Herzog August von Weimar werden genannt. In dieser Novelle geht es vordergründig um die Selbstbetrachtung eines Künstlers in einer reflexiven Alpenlandschaft. Die Alpen bieten sich zunächst als vormoderne Kulisse dar, in der sonnenverbrannte Hütten aus Lärchenholz, turmalinfarbenes Flusswasser und satte Kiefernwälder auf den Alpenhauptkamm treffen. In diese idyllische Szenerie ist jedoch ein zentraler Konflikt eingebunden: die unerwartete Nähe des Protagonisten aus Deutschland zu einem Alpenbraunbär, der sich zeitgleich im Wallis eingefunden hat.
Ein Schutzprojekt für den Alpenbraunbären
Ausganspunkt für diese Novelle ist der Diskurs über den ersten der sogenannten Problembären «Bruno» oder «JJ1», der im Sommer 2006 von der bayrischen Landesregierung zum Abschuss frei gegeben wurde. Dies, nachdem er als erster Bär seit 170 Jahren bayrischen Boden betreten hatte. Das Tier, das aus dem Südtiroler Naturpark Adamello-Brenta stammte, war das Ergebnis eines aus Fördermitteln des EU-Life-Programms seit 1996 geförderten Projekts zum Schutz des Alpenbraunbären. Das Artenschutzprojekt «Life Ursus» hatte die eigenen Ziele bereits so gut erfüllt, dass das Land Bayern im Jahr 2007 einen «Managementplan Braunbären» veröffentlichte, um «ein möglichst konfliktarmes Miteinander von Mensch und zu- bzw. durchwandernden Bären zu erreichen».
In der Perspektive der Novelle teilen beide – der Schriftsteller und der Bär – das Etikett des letzten lebenden Exemplars. Und damit einer vom Aussterben bedrohten Existenz. Im ebenmäßigen Bild des Alpenbären, das der Schriftsteller in einer Tageszeitung erblickt, erkennt er ein ideales Gegenüber. Die Schönheit und virile Kraft des Bärs stehen im Gegensatz zu seiner eigenen Physiognomie, in welcher das Leben in der fernen Großstadt Spuren des Grams und des Grolls hinterlassen hat. Der Anblick des «wilden» Tieres wird nun zum Ausgangspunkt einer obsessiven und grotesken Fluchtbewegung des Protagonisten. Er, der seine «Zugehörigkeit zur menschlichen Rasse» bedauert, beginnt, «wie ein Bär» zu leben und begibt sich in der Dämmerung auf weite Streifzüge durch die Bergwälder, immer auf der Suche nach seinem Alter Ego.
Sehnsucht nach einer Begegnung in den Alpen
Das Alpental wird in der Folge zum Schauplatz einer verpassten Begegnung der beiden Raritäten, die im allegorischen Sinn als Versuch der Aussöhnung des Mannes mit den zivilisatorischen Zumutungen der Moderne angelegt sein könnte. Die Reise des Künstlers in die Alpen wäre dann als exotistische Reise in die Vormoderne angelegt, als Reise in das wilde Herz Europas, in einen vorzivilisatorischen Raum fern jeglicher sozialen und ökonomischen Prägungen der Nachmoderne. Eine solche Lesart legt die Logik der Novelle durch eine Reihe von etablierten Gegensätzen nahe: Großstadt versus Bergnatur, Mensch versus Tier oder Kultur versus Natur. Doch das greift zu kurz. Die Begegnung mit dem Bären schlägt fehl, denn seine Jäger, die Vertreter des örtlichen Hotel- und Gaststättengewerbes und der lokale Naturschutzbeauftragte, sind schneller. Im Kampf zwischen dem Bären und seinen Widersachern beginnt sich die in der Novelle etablierte Dichotomie von Kultur und Natur aufzulösen. Jäger und Gejagter nähern sich in der Perspektive des Ich-Erzählers aneinander an. Während die Jäger als «Problemmenschen» bezeichnet werden, deren eigenes physisches Überleben an das der äusseren Natur geknüpft ist, rückt der Bär in den Bereich der Tourismuskultur ein und ist deren hybrides Produkt. Der Anblick des erlegten Tieres bewirkt eine Läuterung des Protagonisten:
«Und dann fiel mir es wie Schuppen von den Augen. Durch eine wilde, zerklüftete Schlucht war ich vor wenigen Tagen hier heraufgekommen, der Bergwald war so still, [...] und nun stand hier alles voller Autos, die Wildnis, [...] ist nur noch ein Pferch, und dieser Pferch, so schlussfolgerte ich, ist für einen Bären nicht gestattet, [...] und dann sagte ich zu mir, als redete ich mit mir sozusagen in Großdruck: DIE ALPEN SIND VERNICHTET.»
Die comichafte Überzeichnung, die sich im Denken in Großbuchstaben ausdrückt, macht deutlich: Die Alpen sind ein von «Sehnsuchtsbilder[n] überspannte[r] Raum» und lösen durch die ökologische Vernichtung eine Desillusionierung aus. Sie sind von einem literarischen Diskurs umstellt, ein poetisches Terrain, für die zu Ende der Novelle vor allem ein kanonischer Vorläufer einsteht. Neben Hemmingways «The Old Man and the Sea» liegt eine Reclamausgabe von Stifters «Granit» als literarische Reisevorbereitung auf dem Schreibtisch des nach Berlin zurückgekehrten Schriftstellers in «Bruno». Die alpinen Landschaftsbeschreibungen werden retrospektiv als Zitate aus Stifters Welt ausgewiesen, als Begegnungen im literarischen Raum.
Die Alpen als poetische Räume
So wird die alpine Landschaft als poetischer Raum zweiter Ordnung lesbar, der um Fragen von künstlerischer Lebensführung und künstlerischem Selbstverständnis, von Inspiration, aber auch von Originalität und Autonomie der Kunst gruppiert ist. Die Novelle wird auf diese Weise als Künstlerroman lesbar, der die Rede von dem letzten Exemplar nutzt, um seine poetologischen Gehalte zu diskutieren. Der Besuch des Künstlers einer Kunstmesse in Basel avanciert schliesslich zur Schlüsselstelle der Novelle:
«Sobald ich die Halle betrat, überschwemmte mich eine Welle von Überdruss. [...]. Es gab nichts, das ich nicht schon kannte, auch wenn ich es noch nie gesehen hatte. [...] Was mir wirklich gut gefiel, war eine Arbeit von John Bock, weil die wenigstens ein bisschen wild war. Da tanzt echt der Bär, sagte Ely und wir lachten.»
Der Besuch der Art Basel konfiguriert ein künstlerisches Programm, das gegenüber dem gelangweilten Kennertum des in die Jahre gekommenen Künstlers einzig eine Arbeit von John Bock gelten lässt. Der Berliner Künstler, der in den 2000er Jahren für seine Aktionskunst bekannt wurde, operiert im Bereich des Non-Sense, dort, wo an der Schnittstelle von Medien und Diskursen der Bereich des Unverständlichen erreicht ist. Dem stellt die Novelle die Verwilderung als ästhetisches Programm entgegen, das ihr stoffliches Material, die portraitierten alpinen Orte und Akteure, verfremdet, um eine symbolische Nutzbarmachung des Alpinen zurückzuweisen.
Eine neue Kulturkritik der Alpenreise
Der Blick auf Falkners «Bruno» zeigt, dass die Literatur die kulturkritische Klage von der ökologischen Zerstörung der Alpen in der Folge ihrer Bereisung nicht einfach abbildet. Vielmehr verfolgt die Novelle eine Aufwertung von Kultur und Künstlichkeit, um die Verortung des alpinen Raumes zwischen Natur und Kultur neu zu verhandeln – dies im Kontrast zu einem ökologischen Diskurs der Zerstörung der Alpen, der sich auf das Leitbild der Natürlichkeit und ihrer krisenhaften Erfahrung bezieht. Der Erzähltext nimmt alpine Orte und nicht-menschliche Akteure in den Blick und leistet auf diese Weise einen eigenständigen Beitrag zur Kartographierung des Alpinen in der Nachmoderne. Er zeigt auf, dass die Alpen nicht einfach nur da sind, sondern immer schon – und nicht erst im Tourismus – als Resonanzraum wechselnder menschengemachter Zuschreibungen fungieren. So werden die Alpen von einem idealisierten Ort sowohl der Sehnsucht als auch der Zerstörung zu einem Raum, der als Lebensraum von menschlichen und anderen Tieren neu ausgehandelt werden muss. Jenseits des touristischen Leitbildes von «unberührter Landschaft» und «unberührter Geschichte»(Enzensberger) bereist die Novelle ein reflexives Terrain und eine hochgradig poetologische Landschaft, deren Überleben in der Literatur für absehbare Zeit gesichert sein dürfte.