Aletschgletscher VS (© M. Volken)

Aletschgletscher VS (© M. Volken)

Aletschgletscher VS (© M. Volken)

UNESCO-Weltnaturerbe: Postkarten-Landschaften im Klimawandel

Unversehrte Landschaften – gibt es das noch? Während Einigkeit darüber herrscht, dass sich Stätten des UNESCO-Weltkulturerbes materiell verändern können, werden solche des Weltnaturerbes eher wie Denkmäler behandelt. Dabei fliessen uns diese buchstäblich davon, wie das Jungfrau-Aletsch-Gebiet vor Augen führt.

Die erstmals 1972 verabschiedete UNESCO-Welterbe-Konvention verfolgt das Ziel, den internationalen Schutz und die Erhaltung von Kultur- und Naturgütern von universeller Bedeutung zu gewährleisten. Dabei hebt sie hervor, dass die zu schützenden Entitäten «zunehmend durch Zerstörung bedroht sind, nicht nur durch herkömmliche Ursachen des Verfalls, sondern auch durch Veränderungen in sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen» (UNESCO, 2020). Die messbare geologische Auswirkung der Menschheit auf den Planeten und der darauf aufbauende interdisziplinäre Diskurs des Anthropozäns stellen den Welterbe-Diskurs in einen neuen Kontext. Ist die Vorstellung von Unberührtheit, die die konzeptionelle Grundlage des Welterbes bildet, noch haltbar? Wie die Idee einer vermeintlich unveränderbaren Landschaft entstehen und ins Wanken geraten kann, veranschaulicht beispielhaft das UNESCO-Weltnaturerbe «Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch». Es beherbergt das grösste vergletscherte Gebiet der Alpen.

Auf Postkarten festgehalten: Die Konstruktion von Kultur- und Naturerbe

Die Art und Weise, wie wir sogenannte «Naturgüter» wahrnehmen, geht auf die französische Revolutionszeit zurück. Im frühen 19. Jahrhundert entstand das Konzept von ‘patrimoine’ (etym. Patrimonium, d. h. väterliches Erbe), das eng mit der Konstruktion der Nationalstaaten und deren Identitätsbildung verknüpft ist. Es handelt sich um eine essentialistische Sichtweise, die ausgewählte Kultur- und Naturgüter als Offenbarungen der Geschichte und als Repräsentanten einer vermeintlich ursprünglichen nationalen Identität darstellt. Durch die Erhaltung dieser Güter sollen die historischen Inhalte für zukünftige Generationen bewahrt werden. Seit den 1970er Jahren wurde diese Ansicht auf Anregung von Denker:innen wie Benedict Anderson, Pierre Nora oder Aleida Assmann hinterfragt und durch eine konstruktivistische Sicht ersetzt. Sie sind der Ansicht, dass Geschichte und kollektive Identitäten durch «Imagination» (Anderson 1991), also durch die Wirkung von willkürlichen Narrativen, entstehen. Das Kulturerbe besteht folglich aus einer Selektion von Objekten, denen eine Erinnerungsfunktion zugesprochen wird. Und, die eine prägende Rolle in Bezug auf zuvor definierte nationale oder lokale Identitäten einnehmen. So sind Kulturgüter wie das Tell-Denkmal in Altdorf keine intrinsischen Träger «der» Schweizer Identität, vielmehr übernehmen sie eine Erinnerungsfunktion durch gemeinschaftlich getragene Narrative.

Im Fall von Naturerbe bestand diese essentialistische Sicht ebenfalls. Die Idee, dass Naturerbestätten geographische Entitäten sind, die ohne menschliche Handlung entstehen und vom Menschen möglichst unberührt bleiben sollen, verstärkte diese essentialistische Sichtweise noch. Erst seit Neuem hebt man im Erbendiskurs den lebendigen Charakter von Naturerbe hervor – und thematisiert stärker deren Konstruiertheit, so etwa Rodney Harrison oder Alexandre Delarge. Im Kontext des Tourismus' haben wir die Wahrnehmung und Bedeutung der Naturerbestätten konstruktivistisch geformt. Die Tourismusindustrie beruht auf natürlichen Ressourcen wie der Sonne, den Bergen oder einzelnen Landschaften, die es gilt, zu erschliessen und zu bewahren, um ihren touristischen Wert hervorzubringen. (Sacareau, 2011,191) Sie wurden aber meistens erst lange nach ihrer Entdeckung als Ressourcen erkannt und als solche etabliert. Die Geschichte des Tourismus' im Aletschgebiet zeigt diese späte «Anerkennung» der Berge als «touristische Lagerstätte» (gisement touristique, Lévy/Lussault 2003, 798).


Gemeinschaften, die in der Nähe von Gletscher lebten, haben diese jahrhundertelang als bedrohliche Missgeburten betrachtet. So spricht zum Beispiel Gottfried Sigmund Gruner 1760 von den von «hohen Bergfirsten herunterhangende[n], mächtige[n] Eisfelder[n], die in ihren Vertiefungen mächtige Eisthäler anlegen, die hinwiederum durch scheußliche Gletscher sich in die untern Thäler ausleeren.» (Gruner 1760, 57) Erst der positive Blick des Touristen schuf den Wert der als schön empfundenen, kulturell kodierten Landschaft. Ein Beispiel hierfür ist J. F. Hardys Benennung: Als er 1859 das Jungfrau-Gebiet besuchte, gab er dem Zusammenfluss dreier Firnströme den Namen «Konkordiaplatz», da er ihn an den größten Platz von Paris, den «Place de la Concorde», erinnerte. Seit 2001 gehört das Gebiet zum UNESCO-Weltnaturerbe und wird als «eine der berühmtesten Gebirgsansichten der Welt» bezeichnet, die «zum Postkartenbild der Schweiz wurde» (Wallner et al. 2007, 13.). Die gegenwärtige Rhetorik behandelt die Landschaft wie ein Denkmal. Es wird die Idee eines konstanten, unveränderten Bildes vermittelt, das eine Nation repräsentieren soll.

Leidende Integrität

Das Konzept des Weltnaturerbes schickt die Idee einer unberührten geographischen Entität voraus. Ein weiterer Aspekt ist dabei das Kriterium der Integrität. Während der Konzeptionsphase des UNESCO-Programms in den späten 60er und frühen 70er Jahren legte man die Integrität als zentrales Kriterium für beiden Welterbe-Arten fest. Im Falle des Kulturerbes wurde das Konzept jedoch bald durch das Kriterium der Authentizität ersetzt. Während Integrität die materielle Unversehrtheit einer Stätte impliziert, ermöglicht der Begriff der Authentizität, dass Kulturerbe-Stätten trotz materieller Veränderungen oder Modifikationen anerkannt werden können. Länder wie Japan oder Norwegen, die ihre nationale Architektur in historischen Holzbauten definieren, setzten sich besonders für diese Änderung ein. Denn die Materie ihrer traditionellen Bauten mussten im Laufe der Jahrhunderte oft erneuert werden – im Gegensatz zu Steinbauten (Rehling 2022, 273). Wenn Integrität weiterhin als Kriterium für Kulturerbe gelten würde, würde nach einem Ereignis wie dem Brand der Notre Dame im Jahr 2019 die Frage auftauchen: Qualifiziert sich das rekonstruierte Gebäude noch als ein integres Welterbe?

Während die Semantik und Anwendung des Authentizitätsbegriffs in den vergangenen Jahrzehnten zu lebhaften Debatten geführt haben, gab es bezüglich des Integritätskriteriums für Naturerbe keine vergleichbare Diskussion (Rehling 2022, 276). Das ist überraschend, wenn man bedenkt, dass es Welterbestätten wie das Jungfrau-Aletsch-Gebiet gibt, bei denen das «Herzstück» der Entität, die Gletscherlandschaft, buchstäblich als Wasser wegfliesst (Zumbühl/Holzhauser 2007, 70). Es bleibt zwar dieselbe geografische Einheit, aber ihr Charakter ändert sich grundlegend. Die Diskussion über Integrität gewinnt im Kontext der Klimaerwärmung zunehmend an Bedeutung.

Naturerbe im Kontext planetarer Prozesse

Die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur sowie die fiktive 'Unabhängigkeit' des Menschen von der Biosphäre, die im westlichen Denken vorherrscht, wird bereits seit langem kritisiert. Viele Autor:innen des Anthropozän-Diskurses, von Bruno Latour und Philippe Descola über Donna Haraway bis Timothy Morton, könnten zitiert werden. Die grundlegende Unterscheidung zwischen Natur und Kultur in unserer Umwelt, «je nachdem, ob sie die Spuren menschlichen Handelns trägt oder nicht» (Descola 2005, 73), schien bisher zwar universal zu sein und hatte auch bei indigenen Völkern eine Bedeutung. Im Anthropozän verliert sie jedoch an Relevanz. Lokale Handlungen, die den etablierten Regeln gesellschaftlicher Formationen unterlegen, können planetare Prozesse wie den Klimawandel auslösen (Horn/Bergthaler 2019). Es geht nicht mehr darum, zu verhindern, dass Menschen in einem Welterbe-Gebiet physische Schäden anrichten. Vielmehr geht es nun um Auswirkungen eines aus dem Gleichgewicht geratenen Erdsystems – diese kommen zu den UNESCO-Konvention als «herkömmliche» Schadensfälle beschriebenen Geschehnissen hinzu. Die veränderte Atmosphäre erodiert den Konkordiaplatz in der Schweiz Tag für Tag, als ob sich die Steine des Place de la Concorde und ihr goldspitziger Obelisk in Luft auflösen würden, bis der Platz schließlich in sich zusammenfällt.

Die Beschreibungen des Weltnaturerbes Jungfrau-Aletsch unterstreichen die seismographenähnliche Sensibilität des Gebiets und zeigen die Auswirkungen des Klimawandels eindrucksvoll auf. Wenn das UNESCO-Welterbe die Menschen auf der Welt bisher als eine Ansammlung von kollektiven Identifikationspunkten vereint hat (so heisst es im Erklärvideo), dann veranschaulicht es heute die Verbundenheit menschlicher Handlungen auf dem Planeten, die kollektiv über seine Zukunft entscheiden. Der Welterbe-Diskurs könnte dementsprechend auch ein Vehikel sein, um Handlungsweisen für einen neu gedachten Schutz im Hinblick auf zukünftige Generationen zu konzipieren. Ein Schutz, der nicht mehr von der Existenz einer unberührten Natur ausgeht, sondern die Verstrickung von lokalen und planetaren Prozessen vor Augen hält.

Anderson, Benedict (1991): Ima​gined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationa​lism. London.

Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München.

Delarge, Alexandre (1996): Invent(ori)er le paysage. In: Publics & Musées 10, 33-50.

Descola, Philippe (2005): Par delà nature et culture. Paris.

Gruner, Gottlieb Sigmund (1760): Die Eisgebirge des Schweizerlandes. Bern.

Harrison, Rodney et al. (2020): Heritage Futures. London.

Horn, Eva / Bergthaler, Hannes (2019): Anthropozän zur Einführung. Hamburg.

Lévy, Jacques / Lussault, Michel (2003): Dictionnaire de la géographie et de l’espace des sociétés. Paris.

Nora, Pierre (Hg. 1986): Les Lieux de mémoire. 3 Bände. Paris.

Nora, Pierre (Hg 1997): Science et conscience du patrimoine. Entretiens du Patrimoine. Paris.

Rehling, Andrea (2022): Kultur- und Naturerbe. In: Martin Sabrow / Achim Saupe (Hg): Handbuch Historische Authentizität. Göttingen, 269-76.

Sacareau, Isabelle (2011): Lorsque les pratiques touristiques renouvellent la ressource. In: Antoine, Jean-Marc / Milian, Johan (Hg.): La ressource montagne. Paris, 195-213.

Wallner, Astrid et al.: Welt der Alpen – Erbe der Welt. Bern.

Zumbühl, Heinz J. / Holzhauser, Hanspeter (2007): Glaziologie – Annäherung an 3500 Jahre Gletschergeschichte. In: Astrid Wallner et al.: Welt der Alpen – Erbe der Welt. Bern, 47-73.