Die Alpsaison: Eine Würdigung an die Wiederkäuer und die Geschichte der alpinen Landwirtschaft
«Die Alpsaison» ist mehrere Tausend Jahr alt. Rund um die traditionelle Wirtschaftsweise auf der Alp haben sich im europäischen Alpenraum ähnliche Wirtschaftsweisen, Rechtssysteme, sakrale und kulturelle Praktiken herausgebildet. Eine Würdigung an die Wiederkäuer und die alpine Landwirtschaft.
Die älteste bildliche Darstellung einer Kuh, die gemolken wird, ist eine 8'000 Jahre alte Felsmalerei aus der Sahara. Die Kuh ist ein kulturstiftendes Leittier der neolithischen Revolution. Es gibt weltweit verschiedene Domestikationsräume des «Tribus Bovini», etwa im äusserst fruchtbaren Gebiet von Euphrat und Tigris. Dort wurde vor ca. 10'500 Jahren das «Taurine Rind» domestiziert. Archeozoologen können heute die Genetik dieser ca. 80 Kühe in allen taurinen Rinderrassen nachweisen. Die Kuh erhielt auch bald einen sakralen Status – nicht als strafende oder fordernde Gottheit, sondern als gutmütig dienende Gottheit; etwa bei den Sumerern als Kuh-Mondgöttin Ninlil, aus deren göttlichen Milch der vier Zitzen vier Flüsse entstanden. Wenn sie stierig war und der Stiergott Enlil sie deckte, traten der Euphrat und Tigris über die Ufer und bescherten mit ihrem Wasser eine gute Ernte. In Ägypten trug die Kuh «Hator» die Sonnenscheibe zwischen den Hörnern, und die Sonne wurde jeden Morgen als das aus der Bibel bekannte «goldene Kalb» geboren. In der Schöpfungsgeschichte des Fulbe-Hirtenvolks in der Sahelzone entstand die Welt aus einem Tropfen Milch der Kuh Itoori. Die Milch wird bei ihnen als göttliches Wasser verehrt. Auch im jüdischen Tempelkult beim Pessachsfest hat die rote Kuh eine zentrale Bedeutung. In der nordischen Mythologie, wohl klimatisch bedingt, hat die Kuh «Audumala» den ersten Menschen mit ihrer warmen Zunge aus dem Eis herausgeleckt, denn in Nordeuropa hatte die Kuh ihren Auftritt als Haustier erst 1'000 Jahre später. In der hinduistischen Religion hat die Kuh ihren heiligen Status bewahren können. Und in der Schweiz? Ein Alpauftrieb oder Alpabtrieb mit geschmückten Kühen und Glocken, eine Viehschau mit obsessiven Viehzüchtern und herausgeputzten Kühen lässt noch Reste des kulturhistorischen Status der Kuh erkennen.
Wie kam die Kuh in die Schweiz?
Zusammen mit den Menschen. Der Nachweis eines domestizierten Wiederkäuers ist ein 2003 ausgeapertes 6'500 Jahre altes Hosenbein aus Ziegenleder im schmelzenden Gletscher des «Schnidenjochs», eines Passübergangs vom Wallis ins Simmental. Genanalysen des Leders ergaben, dass diese Ziegenrasse ursprünglich aus Ostanatolien stammte. Offenbar eine Kurdengruppe aus Frühsiedler:innen, die ohne Einreisebewilligung in die Schweiz einwanderte, dies mitsamt Ziegen und ohne Registrierung in der Tierverkehrsdatenbank.
Der Nachweis von Milchwirtschaft in der Schweiz mit Rindern ist jünger. Er stammt aus einer ca. 5'000 Jahre alten prähistorischen Siedlung in Sitten. Aus den Funden lässt sich ableiten, dass männliche Tiere im juvenilen Alter geschlachtet wurden; die weiblichen waren älter, da diese offensichtlich zur Zucht und Milchgewinnung genutzt wurden. Genetisch weisen auch diese keine Verwandtschaft mit dem europäischen Auerochsen auf. Die Kühe wurden aus dem Nahen Osten importiert. Diese hatten allerdings optisch kaum Ähnlichkeiten mit den heutigen Hochleistungsrassen. Sowohl genetisch als auch phänotypisch entspricht die «Metholische rote Buča» den im Neolithikum gehaltenen Kühen. Die damaligen Kühe hatten eine Widerristhöhe von lediglich 100 bis 120 Zentimetern. Rund um den Prespa- und Ohridsee im Dreieck Albanien, Mazedonien und Griechenland gibt es noch Restbestände. Nachkommen in der Schweiz sind Evolener, Eringer und das rätische Grauvieh.
Die Schweiz wurde von oben nach unten besiedelt
Die Pfahlbauersiedlungen an den Mittelandseen sind wesentlich jünger als die ältesten alpinen Siedlungen. Kühe grasten ca. 1'000 Jahre früher auf alpinen Weideflächen. Die älteste archäologisch nachgewiesene Alphütte mit dem Grundriss eines kleinen Stalls mit Feuerstelle und Tonkrugscherben wurde im Bündnerland auf 2'300 m ü. M. gefunden und ist ca. 3'000 Jahre alt. Nach der letzten Eiszeit prägten Urwald und mäandrierende Flüsse das Mittelland. Für wiederkäuendes Jagdwild und domestizierte Wiederkäuer waren noch waldfreie Flächen in den Voralpen und Alpen ein entsprechendes Habitat, aber ebenfalls für deren Fressfeinde. Die Wiederkäuer partizipierten durch den Schutz des Menschen vor Bären, Wolf und Luchs. Diese Symbiose führte auch global dazu, dass der Homo Sapiens in der Evolutionsgeschichte zum erfolgreichen Säugetier wurde. Aus dieser Symbiose mit den domestizierten Wiederkäuern resultiert wohl auch eine genetisch determinierte Aversion des «Homo alpinus» gegen die Nahrungskonkurrenten Bär, Wolf und Luchs in den pastoralen Kulturen. Wir werden’s nicht los!
Im Alpenraum erfolgte die Transhumanz mit dem Vieh nicht horizontal von Süden nach Norden, sondern vertikal von unten nach oben, entsprechend dem Stand der Vegetation nach den Wintermonaten – daraus entstand die «Alpsaison».
Die Rechtgeschichte der «Alpsaison»
Im Jahr 1917 publizierte Prof. Dr. Max Gmür, Ordinarius für Schweizer Rechtsgeschichte, eine Abhandlung unter dem Titel «Schweizerische Bauernmarken und Holzurkunden». Darin wies er nach, dass Kerbhölzer und Ohrmarkierungen an Tieren als Rechtstitel und Eigentumskennzeichen schon lange vor schriftlichen Urkunden existierten und dass diese vorab im Alpenraum verwendet wurden. Der älteste Nachweis fand er auf einem neolithischen Geweihfragment, auf dem die Zahlensymbole I, V und X eingeritzt waren. Ein Finger, fünf Finger, zehn Finger. Anders als bei Grundeigentum, das man später mit Marchsteinen eingrenzte, wurden Tiere mit unterschiedlichen Kerbmustern in den Ohren als Eigentum gekennzeichnet. Später wurde die Menge der Nutzungsrechte für Vieh auf kollektiven Weideflächen auf hölzernen «Tesseln oder Beilen» mit Kerben festgehalten. Die dazu passenden Gegenstücke mit gleicher Kerbung, die «Quittungen», befanden sich in Obhut des Eigentümerkollektivs. Im Laufe der Zeit wurden nebst Rechten auch Plichten wie Fronarbeit an kollektivem Eigentum auf Kerbhölzern festgehalten, bis hin zur komplexen Verteilung der Milch in Form von Käse an die Tiereigentümer mit dem «Milch-Scheit». Aus diesem Rechtssystem stammt auch die Redewendung «Etwas auf dem Kerbholz haben», also eine Schuld haben. Bei Begleichung der «Schuld» wurden die Kerben von Soll und Haben auf dem Kerbholz bei Schuldner und Gläubiger weggeschnitten; der Schuldner hatte seine Quittung – man war quitt.
Max Gmür geht davon aus, dass sich auch das Aktienrecht aus dieser frühen Form des kollektiven Miteigentums entwickelt hat. Mit Aufkommen der Schrift wurden «Kuhrechte» auf Alpweiden von Klöstern und Grundherren notiert und die auf den Alpen weidenden Kühe bildeten die Grundlage für die Einforderung von Zinsen und Zehnten vom alpinen Prekariat.
Käse, Butter und Fleisch von der Alp
Frischmilch ist ein verderbliches Produkt. Allgegenwärtige Milchsäurebakterien machen sie schnell sauer. Wird Milch fachkundig zu Labkäse verarbeitet, sind die Fette und Proteine im Käse bei entsprechender Lagerung mehrere Jahre haltbar. Die Konservierung von Milch mit dem Labferment war wohl eine Zufallsentdeckung durch die Nutzung von Labmägen für die Aufbewahrung oder den Transport von Milch. Der griechische Dichter Homer beschreibt in seiner «Odyssee» vor 2'800 Jahren, wie der Zyklop seiner Schafsmilch das geheimnisvolle Ferment «Lab» zur Käseherstellung beigibt. Julius Cäsar attestiert in seiner Schrift «De Bello Galico» um 50 v. Chr. den «Helvetiern», dass sie keine grosse Kenntnis im Ackerbau hätten, wohl aber in der Vieh- und Milchwirtschaft. Der römische Agrarschriftsteller Gato quantifizierte bereits die Menge («Brenta», lat. röm. Hohlmass) Labmagen, die einer Milch beizugeben sei. Sie entsprach dem Gewicht einer Sesterz-Münze. Im Jahr 79 nennt der Römer «Plinius der Ältere» erstmals einen «casea helveticus» und im Jahr 1115 wird der Greyerzer Käse erstmals erwähnt. Die verfeinerte Kulturtechnik der Lab-Käseherstellung haben Etrusker:innen und Römer:innen in die Schweizer Alpen gebracht. Das lässt sich auch aus den Bezeichnungen von Gebrauchsgegenständen in der Alpwirtschaft ableiten. Vom «Milch-mälchterli» (lat. mulchtra) über zu «Gebsä» (lat. gabata) und der «Sirte» (lat. sertum) stammen die meisten Benennungen aus dem Populärlatein. Nur der «Ziger» (kelt. Twi-ger, «zweimal») ist älter. Es existieren aber sowohl für die Kuh (Lubi, Lyoba, Ljebka) als auch für Milchprodukte (Britschä, Sprinz, Brie, Brinza, Biens) von den Freiburger Alpen über Slowenien und die Karpaten bis nach Lettland ähnliche präindogermanische Benennungen.
Käse wurde als Alpprodukt in der Naturalwirtschaft des Alpenraumes vorwiegend zur Selbstversorgung hergestellt. Butter war ein begehrtes, handelbares Fettprodukt auf dem Binnenmarkt. Alpkäse als Exportprodukt wurde im 18. und 19. Jahrhundert in grossen Mengen nachgefragt, etwa als lagerbare Schiffsverpflegung. Die Folge war, dass sich das Patriziat «Herrenalpen» aneignete, um mit grossen Kuhherden grosse Laibe für den Export produzieren zu lassen. Mit dem Aufkommen der Talkäsereien verlagerte sich dieses lukrative Geschäft wieder ins Talgebiet.
Wiederkäuer als Gestalter der alpinen Landschaft
Alpine Weideflächen wurden in der Schweiz über 3'000 Jahre genutzt und offengehalten. Die alpwirtschaftliche Nutzung mit Wiederkäuern hat das alpine Landschaftsbild geprägt. Der agrarisch genutzte Alpenraum ist eine Kulturlandschaft und keine Naturlandschaft. Die intensivste Nutzung des Alpenraums in der Schweiz fand in der protoindustriellen Phase ab 1820 statt, bis hin zum Raubbau an den natürlichen Ressourcen. Jeder Quadratmeter Wildheu, Weide oder Ackerfläche wurde damals vom ruralen Prekariat genutzt, um sich allenfalls mit einigen Ziegen die Existenz zu sichern – und Armut trieb Tausende in die Emigration.
Die Karbonisierung unseres Lebens mit Kohle, Erdöl und Erdgas, zusammen mit der Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion in den vergangenen hundert Jahren, hatte global verheerende Auswirkungen auf Biodiversität und Klimaerwärmung. In der traditionellen Alpwirtschaft setzte diese Entwicklung topographisch und ökonomisch bedingt später ein. In der urbanen Wahrnehmung ist aber eine Kuh, unabhängig von ihrem Lebensraum und ihrer Haltungsform, per se klimaschädlicher als der eigene Konsum.
So fragt eine Flugpassagierin ihren Sitznachbarn: «Was machst du, um die CO2-Emissionen deines Ferienfluges zu kompensieren?» Dieser antwortet: «Schon erledigt, ich habe einem Bauern zwei Kühe erschossen.» Dabei gilt bei den Wiederkäuern auch die Erkenntnis des Paracelsus «Nichts ist Gift, alles ist Gift – auf die Menge kommt es an». Bei Wiederkäuern muss sowohl die Relation der Population zur Fläche wie auch zur Art des Futters miteinbezogen werden. Fressen die Wiederkäuer nur für die menschliche Ernährung ungeeignete Pflanzen und tragen damit zum Humusaufbau und zur CO2-Reduktion bei? Oder werden für ihre Ernährung Ackerflächen genutzt, die auch der menschlichen Ernährung dienen könnten? Traditionell genutzte Alpweiden sind in ihrer Biodiversität qualitativ und quantitativ unübertrefflich und heute die letzten Refugien. Die zoologische und humane Diversität auf Alpen hat aber erheblich gelitten. Einerseits fehlen die «Kleinkriminellen» der Landwirtschaft, die Ziegen der Kleinbäuer:innen, die traditionell einen wesentlichen Beitrag zum Offenhalten der Landschaft geleistet haben; andererseits fehlen die humanen Ressourcen, welche im Niedriglohnsektor Alpwirtschaft arbeiten.
Die Zukunft der Alpsaison
In den vergangenen hundert Jahren sind über 3'000 Alpbetriebe verschwunden. Die noch existierenden Alpbetriebe nutzen 35% der Schweizer Agrarfläche! Sie erhalten aber nur ca. 12 Prozent der 2.8 Milliarden Direktzahlungen. Diese Summe von 234 Millionen Schweizer Franken für Biodiversitätsbeiträge, Landschaftsqualitätsbeiträge, Sömmerungs-und Alpungsbeiträge verteilt sich auf ca. 6'770 Alpbetriebe mit ca. 17'000 saisonal beschäftigten Personen. Das reicht auch zusammen mit den Naturalerträgen nicht mehr, um die hohen Kosten der nur während 3.5 Monaten genutzten Infrastrukturen zu decken und zugleich dem Alppersonal marktübliche Löhne und Sozialleistungen zu bezahlen, mit der Folge, dass um die 10 Prozent des Alppersonals nur noch im Ausland gefunden werden kann. Die Folgen sind die Aufgabe von Flächen sowie Verunkrautung und Verbuschung, einhergehend mit einem Rückzug der Biodiversität. Zu diesem Thema meint Prof. Dr. Francesco Gubert der Universität Bozen:
«Die Almlandschaft als Produkt eines langzeitigen Wechselspiels von menschlichen Einwirkungen und natürlichen Gegebenheiten, also als Teil der Kulturlandschaft, kann aber weder durch die Schaffung isolierter Naturschutzinseln noch durch einen ‘musealen Kulturschutz’ langfristig überleben. Eine nachhaltige Erhaltung und Förderung artenreicher Almlandschaften muss über die Erhaltung einzelner Flächen hinausgehen. Nur die Weiterführung traditioneller landwirtschaftlicher Praktiken und die flächendeckende Bewirtschaftung gewährleisten diverse Kulturlandschaften: Eine artenreiche Almlandschaft braucht also eine multifunktionale, nachhaltige Landwirtschaft. Das Überleben der Tier- und Pflanzenarten im Almbereich ist vom Überleben der klein strukturierten Berglandwirtschaft abhängig. Will man die Biodiversität des Systems 'Alm' retten, so muss man primär die Almwirtschaft retten. Aufgabe der Politik ist es, die Voraussetzungen zu schaffen, dass die Landwirte die Almlandschaft weiterhin pflegen können.»
Möge die Aufnahme der Alpsaison in das immaterielle kulturelle Erbe der UNESCO einen Grundstein hierfür legen.
Syntopia Alpina berichtet im nächsten Beitrag über die Aufnahme der Alpsaison in das immaterielle Kulturerbe der UNESCO – im Gespräch mit Selina Droz und Peter Küchler des Vereins «Lebendige Alpsaison», der am 4. Dezember 2025 in Bern gegründet wird.