Experimente der Natur: Warum der Klimawandel alpine Pflanzen weniger stört als viele glauben
Viele Dinge in der Natur kann man nicht durch blosses Hinschauen erklären. Alpine Pflanzen sind klein, aber warum sind sie das? Sie sind «small by design», weil sie so das Klima manipulieren können. Damit, und mit dem Ausnutzen des vielfältigen alpinen Geländes, schlagen sie seit Urzeiten dem Klima ein Schnippchen.
Seit der Mensch zu fragen begann, warum etwas so ist, wie es ist, greift er ein, um hinter die Kulissen zu schauen. Das kann ein Schnitt mit dem Messer sein – in der Anatomie – oder ein gezielter Eingriff in die Umwelt, wie zum Beispiel erwärmen, wässern oder düngen.
Reaktionen auf die Klimaerwärmung im Labor messen?
Um zu erfahren, was ein Organismus mag und was er weniger mag, kann man seine Umgebung verändern. Möchte man herausfinden, wie Pflanzen auf ein wärmeres Klima reagieren, kann man deren Lebensraum künstlich erwärmen – was technisch recht aufwändig sein kann – oder man steckt die Pflanzen in Versuchskammern mit unterschiedlichen Temperaturen. Man kann sie auch von einem höher gelegenen oder der Sonne abgewandten und damit kühlen Lebensraum in einen tieferen oder sonnigeren und damit wärmeren Lebensraum verpflanzen, wozu sich Berge besonders eignen. Der Vorteil von Experimenten dieser Art ist, dass man alle Vorgänge genau überwachen, viele Wiederholungen zur Absicherung der Resultate einplanen und relativ schnell Antworten bekommen kann. Die Nachteile solcher Experimente sind aber schwerwiegend. Erstens nimmt man die Pflanzen aus ihrer gewohnten Umgebung heraus (ausser man führt ihnen am Naturstandort Wärme zu), und Pflanzen reagieren sehr untypisch, wenn sie ohne ihre Nachbarn – Bodenmikroben, Symbiosepilze und oft Jahrhunderte alte, ungestörte Wurzel- und Ausläufersysteme – im Boden verpflanzt werden. Das ist, wie wenn man das Verhalten von Wildtieren in einem Käfig studieren würde.
Zweitens ist eine künstliche Erwärmung in der Natur nicht möglich, ohne die Luftfeuchtigkeit zu verändern. Zudem müssten derart künstliche Wärmeinseln sehr gross (und damit teuer) sein, um Randeffekte auszuschliessen – Pflanzen erschliessen ja mit ihren Wurzeln viel mehr Raum, als man ihnen oberirdisch ansieht. Drittens, und das ist der grösste Nachteil: Solche Projekte sind meist zeitlich eng befristet. Sie dauern allenfalls einige wenige Jahre, solange, bis die Forschungsgelder verbraucht sind. Man wird so nie erfahren, wie Pflanzen auf eine stetige, aber geringe Erwärmung des Klimas reagieren. Die Schweiz wurde in den letzten 150 Jahren um 2 Grad wärmer, also fast dreimal so schnell wie der globale Durchschnitt. Aufs Jahr gerechnet sind das aber nur 0.01 Grad, in 10 Jahren 0.13 Grad. Es ist ziemlich hoffnungslos, in diesem kurzen Zeitraum eine Reaktion zu sehen. Also «knallen» die Forschenden 2 bis 5 Grad Erwärmung auf die Pflanzen, was eher fragwürdig ist.
Ein Mikrokosmos hält Antworten bereit
Dabei liefert uns die Natur selbst Experimente, die keinen dieser Nachteile aufweisen und erst noch «gratis» sind. Will man herausfinden, wie die langfristige Antwort der Natur auf zunehmend lange und warme Sommer im Hochgebirge lautet, kann man sich genauer in der alpinen Welt umsehen: Auf kleinstem Raum gibt es Mulden, die oft bis Ende Juli voller Schnee sind, während am Rand dieser sogenannten Schneetälchen der Sommer bereits rund zwei Monate früher begonnen hat. Nur zwei bis zehn Meter voneinander entfernt spielt sich somit alles ab, was an Klimawandel denkbar ist. Daniel Scherrer zeigte in seiner Doktorarbeit an der Alpinen Forschungs- und Ausbildungsstation Furka mittels einer hochauflösenden Wärmebildkamera und dreihundert kleinen, automatisch registrierenden Temperatursonden, dass an einem einzigen Berghang thermische Kleinlebensräume existieren, deren Saison-Durchschnittstemperatur sich um 8 Grad unterscheidet. Dies ist die Folge des Kleinreliefs, welches auch die Sonneneinstrahlung und den Wind beeinflusst, wenn der Schnee längst weg ist, und das war schon immer so. Will ein Käfer einer 2-Grad-Erwärmung seines Lebensraums entfliehen, muss er nur ein paar Meter weit laufen. Der Schluss liegt auf der Hand: Der alpine Lebensraum ist bezüglich Artenverlust besonders robust gegenüber dem Klimawandel.
Nimmt man solche Klimamosaike unter die Lupe, kann man auf den Zentimeter genau feststellen, wo einzelne Arten ihre Lebensraumgrenze erreichen. Misst man in diesem Mikrokosmos die tatsächlichen Pflanzen- und Bodentemperaturen und die Tage der schneefreien Zeit, dann liefern solche Experimente der Natur vertrauenswürdige Antworten auf die Frage, wie sich Bodenmikroorganismen, Pflanzen und Tiere in einer wärmeren Welt entwickeln.
Dokumentiert man das heute so, dass man dieselben Punkte in 30 oder 50 Jahren wieder auffinden und bewerten kann, liefert man zukünftigen Generationen Informationen über die dann vollzogene Anpassung der Natur an die Klimaerwärmung. Ein solches Monitoring-Projekt wurde 2016 gestartet und umfasst den Alpenbogen vom schweizerischen Furkapass über Südtirol bis zum Nationalpark Hohe Tauern in Österreich, wo die Initiative lanciert worden war. Wie ein starkes Vergrösserungsglas zeigt uns der Schneetälchen-Mikrokosmos, was sich im grossen Massstab ganzer Berggebiete abspielt, was aber wegen der starken Heterogenität der alpinen Landschaft auf einer solch grossen Skala kaum erkennbar und studierbar ist.
Die ersten Resultate dieses Monitoring-Projekts zeigen, dass nach dem Abschmelzen des Schnees kein Temperaturunterschied mehr existiert zwischen dem tiefsten und höchsten Punkt entlang solcher Schneeschmelz-Gradienten. Die unterschiedlichen Lebensgemeinschaften sind somit ausschliesslich auf die Dauer der schneefreien Zeit zurückzuführen. Die jährliche Produktion neuer Pflanzenteile (der «Biomasse») sinkt vom frühesten bis zum spätesten schneefreien Punkt von rund 200 auf nur 70 Gramm pro Quadratmeter, also grob auf ein Drittel. Grund dafür ist ausschliesslich die Abnahme der grasartigen Pflanzen. Das Verhältnis von Gräsern zu Kräutern erwies sich somit als sensibler Klimazeiger.
«Small by design» – das Erfolgsrezept im Gebirge
Gebirgspflanzen sind nicht klein, weil das harsche Klima nur Zwergwuchs zulässt. Pflanzen oberhalb der Baumgrenze sind «gewollt» klein, weil dieser gedrungene Wuchs sie dem harschen Klima entzieht. Kleinwüchsigkeit führt zu einer Entkoppelung der Temperatur von der freien Luft, wie sie ein Wanderer erlebt und eine Wetterstation misst. Gedrungener Wuchs hält den Wind «draussen» und schafft bei Sonne einen warmen Mikrokosmos.
Die Blätter niederliegender Zwergsträucher und Polsterpflanzen, Rosetten bildende Kräuter sowie dichte Grashorste erwärmen sich um 20 Grad oder mehr über die Lufttemperatur. Im Innern eines Kissens des stängellosen Leimkrautes oder der Teppiche der Alpenazalee herrschen bei Schönwetter tropische Bedingungen: Windstille, 100% Luftfeuchtigkeit und 30 °C Temperatur. Kleinheit ist also ein Weg, das Klima zu manipulieren. Alpenpflanzen erleben dadurch ein Klima, das sich während des Bergsommers, zumindest untertags, kaum von demjenigen tieferer Regionen unterscheidet. Auch grosse Blütenstände wärmen sich in der Sonne stark auf. Im Zentrum einer Arnika- oder Bergmargeritenblüte – also dort, wo die Samen heranreifen – kann es ohne Weiteres 10 Grad wärmer sein als an den Spitzen der Kronblätter, an denen die Luftbewegung eine Erwärmung durch die Sonnenstrahlung verhindert.
Gebirgspflanzen sind Meister im Airconditioning und das kleinräumige Mosaik der Lebensbedingungen schafft über kurze Distanz einzigartige Ausweichmöglichkeiten, welche die besondere Robustheit der alpinen Flora gegenüber Umweltveränderungen erklärt – heute und schon vor Jahrtausenden.